Hinsichtlich der Frage der künftigen Koalitionsmehrheiten nach der Nationalratswahl vom Sonntag gehen sich - laut der APA/ORF/FORESIGHT-Hochrechnung vom Sonntagabend - rechnerisch drei Zweier-Koalitionen aus.
Nationalratswahl 2024

Die angesagte blaue Welle

Vorläufiges Ergebnis bestätigt: Die FPÖ steht mit gut 29 Prozent klar an erster Stelle, die ÖVP stürzt auf 26 Prozent ab. Die SPÖ landet auf dem dritten, die Neos auf dem vierten Platz.

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Es kommt nicht immer anders: Die FPÖ kann sich mit gut 29 Prozent bei dieser Nationalratswahl ganz klar auf Platz eins positionieren. Das ist ein Plus von 13 Prozentpunkten. Die ÖVP landet mit deutlichem Abstand dahinter mit 26 Prozent auf Platz zwei – und stürzt damit um 11 Prozentpunkte ab. Die SPÖ bewegt sich mit 21 Prozent kaum, die Neos überholen mit 9 Prozent die Grünen, die auf acht Prozent abrutschen. In diesem vorläufigen Wahlergebnis fehlen nur noch wenige Briefwahlstimmen, rund 80 Prozent der ausgegebenen Wahlkarten sind hier schon mit ausgezählt. 

Der scheidenden schwarz-grünen Bundesregierung stellt das kein besonders rosiges Zeugnis aus. Von einer Mehrheit sind ÖVP und die Grünen im frisch gewählten Nationalrat weit entfernt. In den Umfragen der vergangenen Monate hatte sich abgezeichnet, was heute Gewissheit wurde: Das unter dem vielfach zitierten Motto „Das Beste aus beiden Welten“ präsentierte schwarz-grüne Regierungsexperiment ist mit dem heutigen Tag eindeutig abgewählt.

Freiheitliche Achterbahn

Der Gewinner dieses Wahlabends ist FPÖ-Chef Herbert Kickl. Die FPÖ kann - nach ihrer Ibiza-bedingten Wahlschlappe 2019 mit nur 16,17 Prozent – einen historischen Stimmengewinn verbuchen. Die Freiheitlichen landen damit erstmal auf Platz eins, auch wenn sich der Abstand zur ÖVP zuletzt verkleinert hatte. Der freiheitliche Spitzenkandidat Herbert Kickl führte seine Partei erstmals in die Nationalratswahl, 2019 war noch Norbert Hofer Parteichef. Der als Hardliner geltende Parteiobmann Kickl hatte schon vor der Wahl das Kanzleramt als klares Wahlziel ausgerufen. Thematisch setzte die FPÖ im Wahlkampf vor allem auf das blaue Kernthema Migration. Ihr stärkstes Ergebnis erzielte die FPÖ bei Nationalratswahlen im Jahr 1999 mit 26,91 Prozent und Platz zwei - wenige Stimmen vor der damals drittplatzierten ÖVP.

Absturz einer Kanzlerpartei

Die ÖVP war nach ihren beiden ersten Plätzen bei den Wahlgängen von 2017 (31,47 Prozent) und 2019 (37,46) als Titelverteidigerin ins Rennen gegangen. Wie schon bei der Europawahl am 9. Juni landeten die Türkisen nun auch bei der Nationalratswahl mit 26 Prozent klar hinter der FPÖ auf Platz zwei. Daran konnten auch die zuletzt wieder gestiegenen Umfragewerte nichts mehr ändern. Bei den bisher 23 Wahlen zum Nationalrat seit 1945 konnte die ÖVP insgesamt acht Mal Platz eins erzielen, stets vor der SPÖ, die bei den anderen 15 Urnengängen auf Platz eins kam. Nur einmal (1999) lag die ÖVP auf Rang drei - mit dem gleichen Prozentanteil wie die FPÖ, aber minimal weniger Stimmen.

Das im Wahlkampf inszenierte Kanzlerduell zwischen ÖVP-Chef Karl Nehammer und FPÖ-Chef Herbert Kickl ist mit dem bloßen Wahlergebnis freilich noch nicht entschieden.

Erster dritter Platz

Die SPÖ konnte sich nach ihrem schlechten Abschneiden von 2019 - mit 21,18 Prozent das schwächste der Partei bei Nationalratswahlen überhaupt – auch bei dieser Wahl nicht erholen. Spitzenkandidat Andreas Babler führte die Sozialdemokratie nach dem turbulenten Parteitag mit der Kampfabstimmung gegen den internen Gegner Hans-Peter Doskozil in seiner ersten Nationalratswahl beinahe unverändert mit 21 Prozent auf den klaren dritten Platz – zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialdemokratie. Die „große Aufholjagd“, die SP-Chef Babler noch Anfang September angekündigt hatte, fand damit nicht statt. Die Sozialdemokratie konnte bisher 15 Mal Platz eins belegen, bei den anderen acht Urnengängen kam sie auf Platz zwei.

Die Grünen können ihr (Rekord-)Ergebnis von 2019 (13,9 Prozent) nicht halten. Sie rutschen mit 8 Prozent hinter die Neos auf Platz fünf ab. Die interne Ursachensuche dafür wird wohl mit dem heutigen Abend beginnen. In der türkis-grünen Koalition musste die Partei aus Sicht ihrer Basis so manchen Kompromiss eingehen, was viele Wähler:innen verstimmte. Die Emanzipation von Koalitionspartner ÖVP im Wahlkampf konnte der Ökopartei Platz vier auch nicht mehr retten. 

Die Zustimmung von Umweltministerin Leonore Gewessler zur EU-Renaturierungsverordnung gegen den Willen der ÖVP sorgte zwar zuletzt für innerparteiliche Begeisterung bei den Grünen und für Ärger beim Koalitionspartner, konnte die grüne Wählerschaft aber offenbar nicht mehr überzeugen. Bisher traten die Grünen zwölf Mal bei Nationalratswahlen an. Die in jüngster Zeit größte Niederlage erlitten sie beim Wahlgang 2017, als sie mit nur 3,8 Prozent am Einzug scheiterten. Nach dem fulminanten Comeback 2019 mit dem Rekord-Ergebnis folgte die Regierungsbeteiligung unter ÖVP-Kanzlerschaft. Eine Fortsetzung dieser politischen Partnerschaft ist nach dem heutigen Wahlergebnis eindeutig ausgeschlossen. 

Zugewinne für Neos

Die Neos konnten zum dritten Mal bei Nationalratswahlen zulegen. Mit dem aktuellen Ergebnis von 9 Prozent überholen sie die Grünen und landen auf Platz vier. Nach eher schwachen Ergebnissen bei Regionalwahlen konnten die Pinken zuletzt bei der EU-Wahl im Juni zulegen. Das erklärte Ziel von Neos-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger, eine Regierungsbeteiligung, ist damit zumindest nicht vom Tisch, kann sich - wie vermutet - rechnerisch nur in einer Dreier-Variante ausgehen. Bisher traten die Neos drei Mal bei einer Nationalratswahl an - und wuchsen dabei stetig in der Wählergunst: Von 4,96 Prozent im Jahr 2013 auf 5,30 (2017) bis zu 8,1 beim Urnengang 2019.

Sämtliche weitere Parteien sind an der Vier-Prozent-Hürde gescheitert

Koalitionsspiele

Für eine künftige Regierung ergeben sich aus dem vorläufig errechneten Wahlergebnis rein rechnerisch verschiedene (politisch wahrscheinliche) Koalitionsmöglichkeiten zu. Auf eine stabile Mehrheit im Nationalrat käme im Augenblick eine FPÖ-ÖVP-Regierung mit 107 (von 183) Mandaten. Auch die potenziellen Dreierkoalitionen aus Schwarz-Rot-Pink und Schwarz-Rot-Grün hätten eine bequeme Mehrheit von 111 bzw. 109 Mandaten. Eine Zweierkoalition zwischen ÖVP und SPÖ könnte maximal eine hauchdünne Mehrheit von 93 Mandaten erlangen. Für eine Mehrheit sind mindestens 92 der 183 Mandate nötig.

Landtagswahlen in Vorarlberg und der Steiermark

Die Nationalratswahl ist nicht die letzte Wahl in diesem Super-Wahljahr 2024. Ende November wählt die Steiermark einen neuen Landtag, in zwei Wochen schon Vorarlberg.

In Vorarlberg liegt die ÖVP bei der Nationalratswahl mit gut 29 Prozent derzeit vor der FPÖ, die im westlichsten Bundesland gut 27 Prozent erreicht. ÖVP-Landeshauptmann Markus Wallner spricht vom Ergebnis als „Warnsignal“ für die bevorstehende Landtagswahl. Sein blauer Herausforderer Christof Bitschi hingegen will den „Schwung und den Rückenwind“ gleich mitnehmen und eine Neuauflage von Schwarz-Grün in Vorarlberg verhindern.

In der Steiermark hingegen ist die FPÖ klarer Sieger, die ÖVP konnte gar nur einen einzigen Bezirk für sich entscheiden. Ob sich der amtierende Landeshauptmann Christopher Drexler gegen den durchaus umstrittenen freiheitlichen Landespolitiker Mario Kunasek beweisen kann, gilt als fraglich. Drexler sagt der „Kleinen Zeitung“ aber auch: „Die Steirerinnen und Steirer wissen sehr gut zwischen einer Nationalratswahl und einer Landtagswahl zu unterscheiden. Bei einer Landtagswahl geht es um andere Themen und es stehen andere Persönlichkeiten zur Wahl. Eines ist nach dem Ergebnis der Nationalratswahl aber klar: Wir sehen ein Duell zwischen ÖVP und FPÖ. Dieses Duell um die künftige Ausrichtung der Steiermark nehme ich an.“

 

Anmerkung: Dieser Artikel wird laufend aktualisiert.

Judith Belfkih

Judith Belfkih

war zwischen Juli und November vertretende Digitalchefin. Davor in der Chefredaktion der „Wiener Zeitung“.

Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

war bis Oktober 2024 stv. Online-Ressortleitung und Teil des faktiv-Teams.