Soll das Recht Herbert Kickl folgen?
Von Gernot Bauer, Iris Bonavida und Max Miller
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Vor 25 Jahren, am 4. Februar 2000, gelobte Bundespräsident Thomas Klestil mit finsterer Miene die schwarz-blaue Bundesregierung unter Kanzler Wolfgang Schüssel, ÖVP, an. Machtlos hatte er zusehen müssen, wie Schüssel und FPÖ-Chef Jörg Haider das umstrittene Bündnis in Rekordzeit formten. Es folgten heiße Proteste in den europäischen Staatskanzleien und laute Massendemonstrationen in Wien.
Für einen jungen Mann aus Kärnten, Angestellter der Freiheitlichen Parteiakademie, fand sich kein Platz im neuen Gefüge von FPÖ-Vizekanzlerin Susanne Riess. Herbert Kickl, damals 31 Jahre alt, wechselte von Wien in die Kärntner FPÖ. Er schrieb Reden, Presseaussendungen und kümmerte sich um Organisatorisches.
Voraussichtlich in der zweiten Februarhälfte – es sei denn, die Koalitionsverhandlungen scheitern doch noch – wird Herbert Kickl Hauptdarsteller bei der Angelobung der nächsten Bundesregierung sein. Bundespräsident Alexander Van der Bellen wird den FPÖ-Obmann zum ersten blauen Kanzler der Zweiten Republik ernennen. Und dieser wird geloben, dass er „die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich beobachten und meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen werde“.
Schafft er das? Oder besteht die Gefahr, dass Kickl den Rechtsstaat ignoriert, die Justiz schwächt und die Sicherheit des Landes gefährdet, statt sie pflichtgemäß zu gewährleisten? Ist Kickl am Ende tatsächlich das „Sicherheitsrisiko“, als das ihn die ÖVP-Bundesparteichefs Karl Nehammer und Christian Stocker bezeichneten?
Am 18. Dezember 2017 hatte der Bundespräsident Kickl zum Innenminister ernannt. Dessen Eignung für das hohe Amt bezweifelte Van der Bellen schon damals. Der meistzitierte Satz aus Kickls 17-monatiger Amtszeit als Innenminister fiel im Jänner 2019 in der ORF-Sendung „Report“ und verstärkte Van der Bellens Unruhe: „Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht.“ Und daher könnten, so Kickl sinngemäß, Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Flüchtlinge betreffen, ignoriert werden.
Der Aufschrei war groß: Der Bundespräsident rügte Kickl öffentlich. Kanzler Sebastian Kurz führte ein klärendes Gespräch mit seinem Minister. Kickl fühlte sich missverstanden. Er habe nur darauf verwiesen, dass Gesetze von gewählten Mandataren beschlossen und auch wieder geändert werden könnten. Doch die Öffentlichkeit nahm ihm das nicht ab. Bernd-Christian Funk, Doyen des österreichischen Verfassungsrechts, sah den Rechtsstaat bedroht. Kickl habe „keine rechtstheoretische Feststellung“ getroffen. Im Zusammenhang mit Menschenrechten würden seine Aussagen alles andere als „harmlos“ sein. Funks Conclusio: „Hier wurde eine bestimmte Absicht geäußert, nämlich dass die Rechtsordnung sich gefälligst nach den Bedürfnissen der Politik zu richten habe. Wenn das nicht in gewünschter Weise der Fall sein sollte, dann werde man nötigenfalls der Politik den Vorrang geben.“
Gesetze sind im Übrigen ja nicht die Zehn Gebote – einmal vom Berg Sinai heruntergetragen, unabänderlich festgeschrieben.
Gebote vom Berg Sinai
Auf Nachfrage von profil führt die Pressestelle des FPÖ-Klubs aus, es sei „absurd“ und „eine glatte Fehlinterpretation“ aus Kickls damaliger Aussage „ein Rütteln am Rechtsstaat abzuleiten“. Gesetze seien „nicht die Zehn Gebote – einmal vom Berg Sinai heruntergetragen, unabänderlich festgeschrieben“.
In einem Rechtsstaat ist die Verwaltung an Gesetze und strenge Verfahren gebunden, um die Bürger vor behördlicher Willkür zu schützen. Die Herrschaft des Rechts („Rule of Law“) begrenzt die Macht des Staates. Kickl dagegen sieht sich als selbst ernannter „Volkskanzler“ weniger der Verfassung als den Wünschen seiner Wähler verpflichtet.
Ginge es nach der FPÖ, würde der Ermessensspielraum der Behörden deutlich ausgeweitet und damit der Rechtsstaat aufgeweicht werden. In seinem 140-Seiten-Wahlprogramm (Titel: „Festung Österreich, Festung der Freiheit“) fordert Kickl, das Menschenrecht auf Asyl durch ein „Notgesetz auszusetzen, solange Österreich überdurchschnittlich belastet ist“.
Das heimische Asylrecht basiert auf der Genfer Flüchtlingskonvention und der im Verfassungsrang stehenden Europäischen Menschenrechtskonvention. Ein Gesetz, das das Asylrecht – wenn auch nur temporär – aussetzt, wäre also ein Bruch der Verfassung.
Kann sich Kickl per Notstandsgesetz über den Rechtsstaat stellen? „Das geht nicht“, sagt Clemens Jabloner, Ex-Präsident des Verwaltungsgerichtshof und Justizminister in der Expertenregierung unter Brigitte Bierlein: „Erstens gibt es solche Notstandsgesetze in Österreich nicht. Zweitens wären solche Gesetze wohl verfassungswidrig.“ Daher bräuchte es aus Sicht des Rechtsexperten eine Verfassungsmehrheit im Nationalrat, um derartige Gesetze zu beschließen – und die fehlt FPÖ und ÖVP derzeit.
Wenn internationale Gerichte zuständig sind, sind deren Urteile verbindlich. Da gibt es keinen Spielraum.
Selbst wenn eine Regierung mehr als zwei Drittel der Nationalratsabgeordneten hinter sich vereint, gibt es rechtliche Grenzen: „Wenn internationale Gerichte zuständig sind, sind deren Urteile verbindlich“, sagt Jabloner: „Da gibt es keinen Spielraum.“ Kickl ist das egal. Auf den Vorhalt in einer Wahlkampf-Diskussion, er würde mit seiner Forderung nach einem Asyl-Stopp gegen EU-Regelungen verstoßen, antwortete er lapidar: „Wir würden es einfach machen.“ Danach müsse man es mit der EU „ausstreiten“.
Volksrepublik Österreich
Ein weiteres Vehikel zur Umgehung des Rechtsstaates sind direktdemokratische Mechanismen. Österreichs Zukunft sieht Kickl in einer Art Volksrepublik. Laut dem blauen Wahlprogramm soll eine Gesetzgebung de facto auch am Parlament vorbei möglich sein, wenn 250.000 Personen eine „Volksinitiative“ unterstützen und diese in einer Volksabstimmung bestätigt wird. Auch eine Abwahl der Regierung oder einzelner Minister soll auf diese Art möglich sein.
Autor des Wahlprogramms ist der Nationalratsabgeordnete und FPÖ-Klubdirektor Norbert Nemeth, der in den Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP den Bereich „Verfassung“ verantwortet. Man kann davon ausgehen, dass die Freiheitlichen ihre Wahlkampfideen in die Verhandlungen eingebracht haben – auch wenn diese die Grundfesten der Bundesverfassung erschüttern würden. Allerdings markierte ÖVP-Obmann Christian Stocker die Aufweichung des Rechtsstaates als „rote Linie“, an der die Verhandlungen scheitern könnten. Einigen sich die Parteien, könnte die Regierungserklärung am 26. Februar im Nationalrat stattfinden.
Ungarns Premierminister Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei mussten auf keinen Koalitionspartner Rücksicht nehmen. 2011 verabschiedete das ungarische Parlament eine neue Verfassung. Die Macht des 1990 nach deutschem Vorbild eingesetzten Verfassungsgerichtshofs wurde eingeschränkt. Urteile des Gerichts, die von Fidesz beschlossene Gesetze aufgehoben hatten, wurden rückwirkend annulliert. Die Vergabe von Richterposten wurde neu geregelt und das Wahlrecht zugunsten des Fidesz umgestaltet. 2021 leitete die EU-Kommission ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren ein. Sein neues Staatswesen bezeichnet Orbán als „illiberale Demokratie“, in der zwar Wahlen stattfinden, aber Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Justiz und Gewaltenteilung reduziert sind.
Blaue Verschwörungstheorien
Plant Herbert Kickl Ähnliches in Österreich? Aus der FPÖ-Pressestelle heißt es: „Liberal wird in Ungarn im Sinne einer linken Politik verstanden, illiberal bedeutet also schlicht und ergreifend: nicht links.“An die Unabhängigkeit der Justiz glaubt die FPÖ jedenfalls nicht. Nachdem die Oberstaatsanwaltschaft Wien der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) im April 2024 Ermittlungen gegen Herbert Kickl und die frühere FPÖ-Ministerriege von Mario Kunasek bis Norbert Hofer wegen mutmaßlicher Inseratenkorruption angeordnet hatte, vermutete FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker „beim tiefen ÖVP-Staat bestellte Ermittlungen“.
„Dass es einen tiefen Staat gibt, ist eine Verschwörungsfantasie“, sagt Ex-Justizminister Jabloner. „Einmal werden wir ins linke, einmal ins rechte Eck gestellt. Das zeigt recht gut, dass wir gegen alle gleich ermitteln“, ist auch die Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung, Elena Haslinger, überzeugt.
An den Erfolg möglicher politischer Eingriffe in Ermittlungen glaubt innerhalb der Justiz kaum jemand – obwohl in Österreich noch immer der Justizminister oder die Justizministerin an der Spitze der Staatsanwaltschaften steht und Ermittlungsverfahren per Weisung einstellen lassen kann. „Ich mache mir wenig Sorgen, weil es so viele Sicherheitsgurte gibt, die die Macht des Ministers einschränken“, sagt etwa Walter Geyer, ehemaliger Leiter der WKStA: „Jede Weisung des Ministers zur Sachbehandlung muss etwa schriftlich erfolgen und wird in den Akt aufgenommen. Damit ist sie de facto öffentlich. Schon das schränkt die Möglichkeiten ein.“
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Elena Haslinger, Präsidentin der Staatsanwältevereinigung
„Wir Staatsanwältinnen und Staatsanwälte durchlaufen dieselbe Ausbildung wie Richterinnen und Richter und sind darauf trainiert, unabhängig zu agieren. Insofern hat die Besetzung des Justizministeriums auf unsere Ermittlungsarbeit keinen Einfluss.“
Elena Haslinger, 36, ist seit Mai 2024 Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung. Von 2017 bis 2019 arbeitete die gebürtige Oberösterreicherin bei der Staatsanwaltschaft Wien, 2019 wechselte sie an die Staatsanwaltschaft Salzburg, wo sie von 2021 bis 2024 die Medienstelle leitete.
Würden die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ihrem Volkskanzler womöglich vorauseilenden Gehorsam leisten? „Ganz und gar nicht“, sagt Elena Haslinger: „Wir Staatsanwältinnen und Staatsanwälte durchlaufen dieselbe Ausbildung wie Richterinnen und Richter und sind darauf trainiert, unabhängig zu agieren. Insofern hat die Besetzung des Justizministeriums auf unsere Ermittlungsarbeit keinen Einfluss.“
Ist eine Weisung aus Sicht des Staatsanwalts rechtswidrig, kann er die Ausführung zudem verweigern. Und gegen eine Einstellung könnten Opfer berufen. Dann entscheidet ein unabhängiger Richtersenat, ob das Verfahren trotz des Wunsches des Ministers fortgesetzt werden muss.
Solange der Justizminister an der Spitze der Weisungskette steht, bleibt allerdings der Anschein der politischen Einflussnahme. „Es müsste im Interesse von FPÖ und ÖVP liegen, die Anklagebehörden auch dem äußeren Anschein nach so unabhängig wie möglich zu gestalten“, sagt Ex-Justizminister Jabloner. Geht es nach der Justiz, sollten Dreier-Senate aus Generalanwälten künftig an der Spitze der Weisungskette stehen.
Dass die Spitze der Staatsanwaltschaften unter einem Kanzler Kickl entpolitisiert wird, ist ausgeschlossen: Die FPÖ sieht eine Veränderung des Status quo kritisch, die ÖVP will lieber eine einzelne Person, die dem Parlament verantwortlich ist. „Nur die Person an der Spitze auszutauschen, die dann womöglich wieder ein politisches Label hat und bei der wieder der Anschein der Einflussnahme aus sachfremden Motiven entstehen kann, wäre aus unserer Sicht keine Verbesserung“, sagt Haslinger: „Da ist es besser, wir bleiben bei dem jetzigen System.“
In den Verhandlungen zur Justiz dürften sich FPÖ und ÖVP einig sein, die Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre zu senken. „Da läuten bei uns die Alarmglocken“, sagt Haslinger. Schon bei Verfahren gegen 14- bis 16-Jährige müssten die wenigen jugendpsychiatrischen Sachverständigen feststellen, ob die Jugendlichen überhaupt reif genug sind, um das Ausmaß ihrer Tat zu verstehen. Sollte die Strafmündigkeit weiter gesenkt werden, befürchtet Haslinger einen „massiven Mehraufwand“ für die Staatsanwaltschaften, erwartet dafür aber wenig Mehrwert im Kampf gegen Jugendkriminalität: „Das Jugendgerichtsgesetz macht nicht zu Unrecht strenge Vorgaben, wann eine Haft bei Kindern und Jugendlichen überhaupt in Betracht kommt. Ganz abgesehen von der Frage, wo man künftig zwölfjährige Kinder unterbringen soll. Die vorhandenen Gefängnisse eignen sich dafür aus meiner Sicht nicht.“
Kickl trifft auf eine Justiz am Limit: Staatsanwaltschaften, Gerichte und Gefängnisse klagen über Personalmangel. „Wir haben über Jahre hinweg nicht die Ressourcen bekommen, die wir brauchen, um unseren Auftrag entsprechend erfüllen zu können“, sagt Gernot Kanduth, Präsident der Richtervereinigung. Obwohl es unter der Amtszeit von Justizministerin Alma Zadić eine Trendwende zu mehr Planstellen gegeben habe, würden diese nicht ausreichen: „Als der frühere Justizminister Jabloner 2019 vom stillen Tod der Justiz sprach, fehlten 84 Planstellen an den Landes- und Bezirksgerichten. Jetzt fehlen 168.“
Statt eines Ausbaus dürfte der Justiz ein Sparkurs bevorstehen. In jedem Ressort wollen FPÖ und ÖVP 15 Prozent der Sachkosten kürzen. „Ich wüsste nicht, wo man in der Justiz so einsparen kann“, sagt Kanduth. Sachkosten bei Gericht würden vor allem für Dolmetscher und Sachverständige entstehen: „Wenn man da einspart, wirkt sich das extrem auf den Rechtsstaat aus. Denn dann fehlt ein Element einer gerechten Urteilsfindung.“
Krach um Sicherheitspolitik
In der Untergruppe für Integration kam es diese Woche zu einem handfesten Krach. Die FPÖ schlug vor, die medizinischen Leistungen für Asylwerber drastisch einzuschränken. ÖVP-Vertreter protestierten wild. In Zusammenhang mit den von der FPÖ geforderten Pushbacks funkte es ebenfalls zwischen den Verhandlern. Das Zurückschieben von Flüchtlingen nach einem Grenzübertritt widerspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Auch in der Verhandlungsgruppe Landesverteidigung zeigt die FPÖ ihr neues Selbstbewusstsein. Mit dem Jahr 2017 haben diese Gespräche nichts mehr zu tun: Damals mussten sich die Blauen in einem Sideletter schriftlich vergewissern, ab dem Jahr 2018 zumindest einen „leichten budgetären Anstieg“ für das Bundesheer zu bekommen. Die tatsächlichen Mittel für das blau geführte Verteidigungsressort hätte aber ein schwarzer Finanzminister absegnen müssen. Es kam nie dazu.
Dieses Mal lassen die Freiheitlichen ihren früheren großen Koalitionspartner spüren, dass er nur noch Junior ist. Regelrecht provokant wären manche Forderungen, die blaue Verhandler einbringen. So forderte die FPÖ den Ausstieg aus der NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP), einer Initiative, bei der sich Nicht-NATO-Staaten an Programmen des transatlantischen Bündnisses einbringen. Österreich ist seit 1995 dabei, der Kosovo-Einsatz des Bundesheeres findet in diesem Rahmen statt. Ein Rückzug würde Österreich isolieren, der Zugang zu sicherheitspolitischen Informationen und Kooperationen ginge verloren. Denn prinzipiell profitieren von solchen Programmen eher die kleinen Staaten als große NATO-Partner. Österreich kann bei gemeinsamen Übungen vom Know-how großer Nationen lernen.
Bei einem Ausstieg aus dem PfP-Programm müsste Blau-Schwarz konsequenterweise auch eine neue Sicherheitsstrategie ausarbeiten. Die aktuelle wurde erst im Vorjahr nach zähen Verhandlungen finalisiert. Darin bekennt man sich zu einer engeren Zusammenarbeit mit der NATO „in den Bereichen Konfliktprävention, Krisenmanagement und kooperativer Sicherheit“.
Ende der Bundesheer-Missionen?
Auch aus der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union will sich die FPÖ offenbar zurückziehen. Wie genau Österreich dabei vorgehen sollte, ist unklar. Die GSVP wurde im Vertrag von Lissabon eingerichtet, sie ist die Basis für militärische EU-Operationen im Ausland zur Friedenssicherung. Gut möglich, dass sich Herbert Kickl als Bundeskanzler im Europäischen Rat weigern würde, wichtige Beschlüsse in diesen Fragen mitzutragen. Damit würde er sie auch verhindern – es gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Außerdem soll Österreich (wie andere EU-Staaten auch) Soldatinnen und Soldaten für die schnelle Eingreiftruppe der EU bereitstellen. 150 Männer und Frauen werden in diesem Rahmen allein heuer zu gemeinsamen Übungen entsandt.
Hinter den Kulissen kokettieren die Freiheitlichen auch mit anderen Maßnahmen, ohne sie konkret in die Verhandlungen eingebracht zu haben: etwa mit dem Rückzug aus allen internationalen militärischen Missionen, außer jenen im Kosovo und in Bosnien.
„Ohne Sky Shield würden wir in den bedauernswerten Zustand zurückfallen, über keine wirksame Luftabwehr zu verfügen. Ich glaube nicht, dass das wünschenswert ist.“
Robert Brieger, 68, ist seit 2022 Vorsitzender des Militärausschusses der Europäischen Union, das Beratungsgremium für Außen- und Sicherheitspolitik in der EU. Im Mai folgt ihm der Ire Seán Clancy nach. Vor seiner Amtszeit in Brüssel war Brieger Generalstaabschef in Österreich.
Gibt die ÖVP nach, müsste Österreich auch aus einer anderen internationalen Kooperation austreten: Sky Shield. Juristisch wäre das möglich, unterzeichnete Verteidigungsministerin Klaudia Tanner doch bisher nur Absichtserklärungen. Aber der Rückzug aus dem Raketenschutzschirm wäre „definitiv“ ein Schaden für die Sicherheit, das Budget und die Reputation Österreichs, bekräftigte der oberste EU-Militär und Ex-Generalstabschef Robert Brieger vergangene Woche im profil-Interview.
Deutschland startete die Initiative, um mit anderen europäischen Staaten beim Einkauf von Raketenabwehrsystemen zu kooperieren und später Daten auszutauschen. Zieht sich Österreich zurück, hätte das Land weiterhin keine Raketenabwehr oder müsste sie allein zu wohl schlechteren Konditionen kaufen.
Dabei war es die FPÖ, die in ihrer letzten Regierungsbeteiligung ein bilaterales Abkommen mit einem führenden NATO-Land initiierte. 2019 reiste eine Delegation in die USA, um Gespräche über das „State Partnership Program“ zu führen: eine Kooperation der Vereinigten Staaten mit ausgewählten Ländern, mit denen sie militärisch zusammenarbeiten wollen. Den Vertrag unterzeichnete am Ende Verteidigungsministerin Tanner im US-Bundesstaat Vermont. Die ersten Schritte hatte aber ihr Vorgänger von der FPÖ, Mario Kunasek, gesetzt. Er wollte damals die Beziehungen zu den USA und ihrem 45. Präsidenten Donald Trump intensivieren.
Trumpesker Kickl
Seit dem 20. Jänner ist Trump der 47. US-Präsident und zeigt vor, was es heißt, wenn das Recht der Politik folgen muss: Mit einer Reihe an Dekreten testet der 78-Jährige seit seiner erneuten Angelobung die Grenzen des amerikanischen Rechtsstaates aus. Neben dem Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation WHO (was auch der FPÖ vorschwebt) und dem Pariser Klimaabkommen unterschrieb Trump etwa auch die Begnadigung von mehr als 1500 Teilnehmern am Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 – ein Schlag ins Gesicht der Gerichte, die sie verurteilt hatten.
Mit anderen Dekreten kommt der neue US-Präsident in direkten Konflikt mit der Justiz: Vergangenen Dienstag wollte Trump per Anordnung kurzerhand Hunderte Milliarden Dollar für Hilfsprogramme einfrieren – bis ein Gericht am Mittwoch intervenierte. Und 22 US-Bundesstaaten versuchen derzeit, Trump durch Klagen davon abzuhalten, das automatische Recht auf Staatsbürgerschaft für alle, die auf US-Boden geboren wurden, abzuschaffen. Die viel gerühmten „Checks and Balances“ der ältesten Demokratie der Welt stehen auf dem Prüfstand – oder geraten direkt ins Visier des neuen Präsidenten. So feuerte Trump über Nacht 18 unabhängige Aufseher diverser Behörden, sein Justizministerium entließ mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an den Untersuchungen gegen Trump beteiligt waren.
Auch Italiens rechtsnationalistische Regierungschefin Giorgia Meloni ignoriert den Rechtsstaat nach Belieben. Der jüngste Anlassfall: das von Italien betriebene Flüchtlingsquartier in Albanien. Mehrmals mussten Männer, die dorthin verschifft wurden, wieder nach Italien zurückgenommen werden. Nationale Gerichte hatten auf Basis eines früheren Entscheids des Europäischen Gerichtshofs entschieden, dass das Vorgehen nicht rechtens sei. Eine neuerliche Beurteilung des EuGH steht noch aus, doch Meloni wird sich wohl auch davon unbeeindruckt zeigen. Bisher ließen sie auch Proteste der italienischen Justiz kalt. Mehrere Reformen hatten zu Demonstrationen von Richtern und Staatsanwälten geführt.
Womöglich müsste Herbert Kickl gar keine internationalen Kooperationen beenden, um Österreichs Sicherheit zu gefährden: Deutschland denkt bereits laut über Einschränkungen in der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit nach, sollte die FPÖ trotz ihrer Nähe zu Russland und Rechtsextremisten regieren. Damit würde Österreich seinen wichtigsten Partner im Kampf gegen Terror, Extremismus und Spionage verlieren.
Bei konkreter Gefahr würde Österreich auch unter einer freiheitlichen Führung weiter Informationen aus Deutschland erhalten, sind sich Experten einig. Doch gerade bei russischer Spionage und rechtsextremen Netzwerken könnte Deutschland vorsichtiger werden. Rechtsextreme Medien aus Österreich erreichen ein Millionenpublikum in Deutschland, Neonazis sind grenzübergreifend vernetzt. Fürchten deutsche Nachrichtendienste also, dass über die FPÖ Informationen nach Russland oder an Rechtsextremisten abfließen könnten, müssen sie zum Schutz ihrer Beamten ihre Kollegen in Österreich im Dunkeln lassen.
Gründe für deutsche Sorgen gibt es genug: Als Kickl im Dezember 2017 Innenminister wurde, dauerte es nicht lange, bis er seine neue Machtposition nutzte, um Informationen zu konkreten Ermittlungen zu erhalten. Sein Generalsekretär Peter Goldgruber erfragte in Kickls Auftrag beim damaligen Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) Peter Gridling, bei welchen Burschenschaften verdeckte Ermittler im Einsatz waren.
Als Kickl 2018 gemeinsam mit der WKStA – rechtswidrig, wie Gerichte später beschieden – das damalige BVT durchsuchen ließ, verschwand einer Zeugenaussage zufolge ein E-Mail des Rechtsextremisten Gottfried Küssel, und Informationen internationaler Partnerdienste wurden beschlagnahmt. Als Folge flog Österreichs Nachrichtendienst aus dem Berner Club, dem mächtigsten Geheimdienstverband der Welt, dem alle EU-Geheimdienste angehören und bei dem Israel und die USA assoziiert sind.
Die am 4. Februar 2000 angelobte Regierung zerbrach im September 2002. Im selben Jahr kehrte Herbert Kickl nach Wien zurück und wurde Geschäftsführer der Freiheitlichen Akademie. Es war sein erster Karriereschritt. Der nächste könnte ihn ins Kanzleramt führen.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.