Die FPÖ attackiert die Justiz: Ist der Rechtsstaat in Gefahr?
Es gibt alte Formen von Loyalität gegenüber dem Staat, die mit Verantwortungsethos und dem Dienst am Bürger zu tun haben. So betritt Gabriele S., eine Kanzleimitarbeiterin am Wiener Bezirksgericht Liesing, jeden Morgen um 5 Uhr früh ihr Büro, weil das die Stunden des Tages sind, in denen sie, ohne vom Klingeln des Telefons, von Anfragen, Bitten und Beschwerden aufgehalten zu werden, ihre Grundbuchakten bearbeiten kann. Die Stöße sind nicht zu übersehen. Sie lagern vor ihren Augen, vier Meter lang, einen halben Meter hoch, mehrreihig, hellgrüner Einband. Die Stunden am Morgen sind Gratisarbeit. Gabriele S. macht das, weil es getan werden muss. Würde sie krank, könnten Wohnungsverkäufe nicht eingetragen, das Grundbuch nicht auf den neuesten Stand gebracht, der Verkaufswert von Immobilien nicht geprüft, die Steuer nicht erhoben, Delogierungen nicht durchgeführt, Mietverträge nicht gekündigt, Verlassenschaften nicht abgewickelt werden. Kurz: Es träte das ein, was man unterentwickelten Staaten gern vorwirft: kein Verlass auf den Rechtstaat. Gabriele S. wäre nicht leicht zu ersetzen. Wer kann heutzutage schon die alte Kurrentschrift in den schweren, übergroßen Grundbüchern entziffern, die sie selbst aus dem Keller holt und von einem Rollwagen auf den Schreibtisch hievt. Gabriele S. wird bald 60 Jahre alt.
Ausdünnung an Personal und Ressourcen
Die Gerichtsvorsteherin des Bezirksgerichts von Wien-Liesing, Michaela Heinrich-Bogensberger, sagt, sie versuche die Stimmung im Haus "hoch zu halten", damit nicht noch mehr Mitarbeiter krank werden, den Arbeitsplatz wechseln oder einfach nicht weiter können. Eine kleine Grippewelle und sie müsste das Gericht zusperren. Ihr Bezirksgericht ist von der Ausdünnung an Personal und Ressourcen besonders betroffen, aber es klagen auch andere Gerichte. Richter, Staatsanwälte und Personalvertreter sind alarmiert. Es fehlt an Kanzleipersonal. Das klingt nicht besonders dramatisch in Zeiten, in denen alle vom papierlosen Akt und vom digitalen Amtsweg schwärmen, doch das ist es. Endausfertigungen von Gerichtsverfahren liegen wochenlang in den Kanzleien und werden nicht zugestellt, Verhandlungsprotokolle nicht getippt, Zeugen nicht vorgeladen, Schöffen nicht verständigt, nicht geprüfte Dolmetscher beauftragt, weil deren Honorare geringer sind. Es passieren Fehler, und irgendwann könnte ein kleiner Fehler große Folgen haben. Es kann ein Verbrechen geschehen, weil etwa das Strafregister nicht aktualisiert wurde - so etwas fürchten alle.
Die Justiz fühlt sich seit geraumer Zeit missachtet. Die Einsparungen sind nicht neu, doch jetzt gehen sie an die Substanz. Es herrscht keine gute Stimmung unter Richtern und Staatsanwälten. Sie fühlen sich hintergangen, wenn die Politik von mehr Sicherheit für die Bürger spricht. Dass der Bürger zu seinem Recht kommt, sei doch die größte Sicherheit in einer Demokratie? Sie kritisieren, dass zwar die Polizei massiv aufgestockt, doch auf die Justiz vergessen werde. Richter und Staatsanwälte sind von Berufs wegen selbstbewusst. Ihre Ausbildung ist eine Schule der Unabhängigkeit. Sie reagieren sensibel, wenn rechtsstaatliche Prinzipien infrage gestellt und ihre Arbeit erschwert wird. Sie sehen einen atmosphärischen Zusammenhang zwischen den steten Angriffen der FPÖ auf die Justiz und der Verknappung der Mittel. Sie hoffen, dass sich "ihr" Minister (Justizminister Josef Moser) bei den kommenden Budgetverhandlungen durchsetzt. Sie sehen aus vielerlei Gründen den Rechtsstaat in der Bredouille.
Im vergangenen Frühjahr hatte FPÖ-Landesrat Elmar Podgorschek bei einer Veranstaltung der deutschen Rechtsaußenpartei AfD in Thüringen von einer "völlig links gepolten Justiz" in Österreich gesprochen. Etwa zur selben Zeit holte sein Amtskollege in Niederösterreich, Gottfried Waldhäusl, zu einem Rundumschlag gegen die Arbeit der Gerichte aus, weil zwei Asylwerber vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen worden waren. Waldhäusl: "Zuerst das Kippen der Mindestsicherungslösung in Niederösterreich, jetzt dieses Skandalurteil. Es sieht danach aus, als wären unsere Landsleute von der Justiz benachteiligt gegenüber Zuwanderern."
Kickls Rundumschlag
FPÖ-Innenminister Herbert Kickl argumentiert auf derselben Linie und offenbart damit seine Haltung gegenüber dem Rechtsstaat. In der ORF-Sendung "Report" stellte er nicht nur die europäische Menschenrechtskonvention infrage (er wolle "eine Debatte darüber führen" und sich "auch anlegen mit diesen Regelungen"), sondern überhaupt das rechtsstaatliche Prinzip: "Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht", sagte Kickl. Seine Erklärung, es gehe ihm um "irgendwelche seltsamen rechtlichen Konstruktionen, die teilweise viele, viele Jahre alt und aus ganz anderen Situationen heraus entstanden seien", erinnert an die in der Neuen Rechten seit einigen Jahren zu beobachtende Renaissance des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt. Der Kronjurist des Dritten Reichs hatte 1934 geschrieben: "Wir dürfen uns nicht blindlings an die juristischen Begriffe, Argumente und Präjudizien halten, die ein altes und krankes Zeitalter hervorgebracht hat."
Kickl hatte im Jahr 2016 - damals noch Generalsekretär der FPÖ - den Kongress der Verteidiger Europas in Linz eröffnet, an dem all jene Gruppen aus dem Bereich der Neuen Rechten teilnahmen, die von Schmitts Denken fasziniert sind. Die Vorsitzende der Fachgruppe Grundrechte in der Richtervereinigung, Maria Wittmann-Tiwald, warnt: "Der Innenminister tut so, als wäre die europäische Menschenrechtskonvention eine Stempelverordnung. Aber sie steht im Verfassungsrang. Grundrechte wie die Menschenrechtskonvention sind ein Schutzschild gegen Willkür - auch gegen Willkür, die in populistische Gesetze gegossen ist. Wer solche Fundamente aufreißt, gefährdet die Stabilität und den Rechtsstaat." Wittmann-Tiwald erinnert auch daran, dass die europäische Menschenrechtskonvention einst als Reaktion auf die Nazi- Schreckensherrschaft geschaffen wurde. "Wenn nun Herr Kickl sagt, sie sei überholt, dann frage ich mich schon: Hat der Innenminister kein historisches Bewusstsein? So ein Satz über die Menschenrechtskonvention rutscht einem nicht einfach so heraus."
Manche sehen einen Zusammenhang zwischen Verachtung des Rechtsstaats und Austrocknung bei Personal und Infrastruktur. Als Präsidentin der Richtervereinigung schlägt Sabine Matejka wegen der Budgetpläne Alarm. An ihrem Bezirksgericht in Wien-Leopoldstadt, an dem Matejka vor allem mit Zivil-, Wohn- und Mietrechtsfällen zu tun hat, hängen in den Gängen Protestaufrufe gegen den Sparkurs der Regierung. Ende 2017 wurde die heute 44-Jährige an die Spitze der Richtervereinigung gewählt. Für Matejka war es ein turbulentes erstes Jahr. Schon bei den Budgetverhandlungen der neuen schwarz-blauen Regierung im Vorjahr war in der Justiz der Sparstift angesetzt worden: Das Fortbildungsbudget wurde um 40 Prozent gekürzt, Geld für Infrastruktur gestrichen.
Überforderung, Ratlosigkeit, Frustration
"40 Richterstellen konnten wir vorerst retten", sagt Matejka. Das größte Problem gebe es derzeit im Kanzleibetrieb. Auf Matejkas Schreibtisch stapeln sich Zustandsbeschreibungen von Landesgerichtspräsidenten, Gerichtsvorstehern und Justizmitarbeitern aus ganz Österreich. Aus den internen E-Mails, in die profil Einschau halten konnte, sprechen Überforderung, Ratlosigkeit, Frustration und Sorge.
"Unser Bestreben ist immer gewesen, bürgerfreundlich zu arbeiten, leider lassen es die personellen Ressourcen nicht mehr zu", schreibt eine Kanzleimitarbeiterin.
"Die Stimmung ist in fast allen Abteilungen im Keller!" Die Juristen berichten von einem "dramatischen Anstieg der Krankenfälle", von Erledigungen, die wochenlang in den Kanzleifächern liegen blieben, weil sie nicht bearbeitet werden können. "Allein im Oktober haben uns fünf Mitarbeiterinnen verlassen. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass jeder hier nur mehr weg möchte." "Es kommt immer wieder zu Abfertigungsfehlern, falschen Registereintragungen, fehlerhaft eingeordneten Akten."
"Eine Kollegin hat weinend das Gerichtsgebäude verlassen, weil sie nicht mehr kann." "Bei uns hat schon wieder eine Kanzleileiterin gekündigt. Ein weiterer Kollege ist so frustriert, dass die Arbeit darunter leidet. Er will zur Polizei und wartet nur mehr darauf, wann sie ihn rufen." "Einen Justizbetrieb mit Praktikanten und Lehrlingen aufrechtzuerhalten, ist eigentlich kein Renommee."
Der Druck am Arbeitsplatz hat wohl überall zugenommen , doch in der Justiz wird durch solche Entwicklungen der Rechtsstaat ausgehöhlt. Auch das Vertrauen der Bürger könnte verloren gehen, zumal die Gerichtsgebühren in Österreich relativ hoch sind und die Justiz mehr erwirtschaftet, als sie ausgibt. Seit vielen Jahren gilt bei den Beamten in der Justiz das Prinzip, dass jede zweite Stelle bei Pensionierung nicht nachbesetzt wird. Allein seit 2008 wurden rund 900 Posten an den Gerichten eingespart -das sind knapp 13 Prozent des Personals. Zu Beginn wurden Reinigungsmitarbeiter an externe Firmen ausgelagert, später Sekretariatskräfte abgebaut. Seit einigen Jahren trifft es mit den Kanzleimitarbeitern einen Kernbereich des richterlichen Betriebs. In den Kanzleien der Richter und Staatsanwälte sitzen keine einfachen Bürokräfte, sondern das unentbehrliche Unterstützungssystem der Rechtsprechung und der öffentlichen Ankläger.
Ende des Sparkurses nicht in Sicht
Ohne sie blieben Akten unbearbeitet, Strafregister unbefüllt, würden keine Sachverständigen beauftragt, Urteile nicht abgetippt. Ohne die gut ausgebildeten Mitarbeiter in den Kanzleien kämen Staatsbürger nicht zu ihrem Recht. "Im Moment habe ich den Eindruck, dass wir mit dem Auto in ein Tunnelsystem fahren, immer weiter beschleunigen und nicht wissen, ob wir da lebend rauskommen", sagt Gerhard Scheucher, oberster Personalvertreter der Beamten und Vertragsbediensteten in der Justiz. Der 62-Jährige ist seit 45 Jahren im Justizdienst und seit mehr als 30 Jahren in der Personalvertretung. Scheucher hat viele Justizminister kommen und gehen sehen und unzählige Personalpläne vorgelegt bekommen. "Wir haben in der Vergangenheit vieles mitgetragen. Aber jetzt können wir nicht mehr", sagt er. Nach dem derzeitigen Budgetplan müssten heuer noch einmal rund 100 Kanzleimitarbeiter gehen. Ein Ende des Sparkurses ist nicht in Sicht - und das, obwohl nicht nur auf die Staatsanwalt- und Richterschaft, sondern auch auf den Kanzleibereich eine Pensionswelle zukommt. Im Verwaltungsdienst der Justiz hat sich der Anteil der über 50-Jährigen seit 2006 mehr als verdoppelt und liegt heute bei 46 Prozent.
"Wir haben jetzt schon Kanzleien, die nicht mehr besetzt sind. An manchen Gerichten stehen wir an der Kippe", sagt Scheucher. "Wenn das so weitergeht, sehe ich den Rechtsstaat nicht nur in Gefahr - ich sehe ihn zusammenbrechen." Im Bezirksgericht Wien-Liesing ist es fast schon so weit. Von 21 Mitarbeiterinnen waren am Mittwoch der Vorwoche fünf im Krankenstand - manche sind es schon seit Monaten. Vier Kanzleikräfte sind in Karenz. In der Einlaufstelle, also dort, wo jeder Bürger seine erste Information bekommt, muss eine nicht dafür ausgebildete Kraft Dienst machen.
Wenn man durch die Räume geht, sieht man überall verwaiste Schreibtische. Die Strafkanzlei ist nicht besetzt. Die Kanzleileiterin hat mit Ende des Jahres ins Finanzressort gewechselt, darum muss sich nun eine fachfremde Mitarbeiterin kümmern. Wenn auch sie ausfällt, können am Bezirksgericht-Liesing keine Strafsachen mehr bearbeitet werden. "Ich muss Urlaubssperren verhängen. Wir haben niemanden, der diese Stelle momentan ersetzen kann", sagt Heinrich-Bogensberger. Im vergangenen Jahr sind insgesamt acht erfahrene Kanzleileiterinnen ausgefallen, zwei wechselten ins Finanzressort. Ersetzt wurden sie durch Praktikanten und ausgelernte Lehrlinge ohne Erfahrung. Wer kann, wechselt derzeit ins Finanzministerium oder zur Polizei. Dort sind Stellen ausgeschrieben, und Kanzleimitarbeiter aus der Justiz werden aufgrund ihrer soliden Ausbildung, ihrer Erfahrung im Umgang mit schwierigen Kunden besonders gern genommen. Dort haben sie Aufstiegschancen und werden besser bezahlt. Nicht nur die ordentlichen Gerichte kämpfen um Ressourcen, auch an den Verwaltungsgerichten herrscht größte Personalknappheit. Am Sitz des Bundesfinanzgerichts in Wien, das dem Finanzministerium untersteht, gibt es für insgesamt 96 Richter lediglich zwölf Mitarbeiter. Aufgaben, die an anderen Gerichten die Kanzlei übernimmt, machen hier die Richter selbst. "Wir tippen Protokolle ab, anonymisieren Entscheidungen, die wir dann selbst ins Online-Dokumentationssystem überführen. Dort machen wir die Beschlagwortung selbst, die Verlinkungen zu Steuerentscheidungen und so weiter", sagt Richterin Mirha Karahodzic. Zehn Richterplanstellen wurden seit mehr als einem halben Jahr nicht nachbesetzt. Die Verfahren ziehen sich naturgemäß in die Länge.
Überfordertes Bundesverwaltunsgericht
Wenn die Mitarbeiter des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) - im Volksmund als Asylgericht bekannt - am Ende eines Arbeitstages auf ihre Schreibtische blicken, sind die Aktenberge nicht niedriger, sondern höher geworden. Das tut umso mehr weh, als öffentlich nach rascheren Entscheidungen gerufen wird. Laut Zahlen des Justizressorts waren am BVwG Ende des Vorjahres 40.600 Verfahren offen - 80 Prozent davon betrafen Asyl- und Fremdenrechtsangelegenheiten. Das BVwG ist jenes Gericht, an dem Asylwerber gegen abgelehnte Anträge durch das im Innenministerium ansässige Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) in zweiter Instanz Beschwerde einlegen können - und rund 75 Prozent der Personen mit negativem Bescheid tun das auch. Die Zahl der Asylanträge in Österreich geht zwar stark zurück, doch treffen jeden Monat immer noch rund 500 Rechtssachen mehr am Gericht ein, als erledigt werden können. Verschärft wird die Situation durch ein personelles Ungleichgewicht zwischen den beiden Asylinstanzen: Während der großen Fluchtbewegung in den Jahren 2015 und 2016 wurde das Personal des Bundesamts für Asyl mit mehr als 700 zusätzlichen Posten deutlich stärker aufgestockt als das Asylgericht.
Nach der bisherigen Abmachung mit Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) und Beamtenminister Heinz-Christian Strache (FPÖ) müssen diese wenigen Stellen (120) heuer wieder abgebaut werden. Dabei brauche es nach Ansicht von Justizminister Moser mindestens 100 zusätzliche Mitarbeiter, um die offenen Verfahren abarbeiten zu können. Vergangene Woche regte Moser an, dass das Innenministerium Personal an das Justizressort abtreten könnte, um die Situation zu entschärfen. Auf Kickls Unterstützung braucht Moser nicht zu hoffen. Bei einer Pressekonferenz erklärte der Innenminister: "Ich bin keine Personal-Leasingfirma." Die Stimmung zwischen den beiden Ministern und ihren Kabinetten ist denkbar schlecht. Moser hatte sich vor wenigen Wochen dagegen gewehrt, dass NGOs wie Caritas, Diakonie und andere Flüchtlingshilfsorganisationen keine Rechtsberatung für Asylwerber in öffentlichem Auftrag mehr anbieten dürften und hatte deren Verträge gegen Kickls Willen klammheimlich um ein Jahr verlängert. Moser war auch der erste Regierungskollege gewesen, der Kickl vergangene Woche in die Parade gefahren war: "In einem Rechtsstaat steht das Recht an oberster Stelle." Freunde werden sie wohl nicht mehr werden. Man wird sehen, inwieweit die ÖVP hinter dem parteilosen Minister steht.