Wie Blau-Schwarz am Unsicherheitsfaktor Herbert Kickl scheitern könnte
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Eigentlich müsste Herbert Kickl allein und mit absoluter Macht regieren. Zu viel hat der FPÖ-Chef seinen Wählerinnen und Wählern versprochen, das er in einer Koalition auf Augenhöhe niemals halten kann: Seine Partei stellt sich gegen wissenschaftliche Errungenschaften wie die Corona-Impfungen, gegen diplomatische Erfolge wie die Europäische Union oder außenpolitische Notwendigkeiten wie Sanktionen gegen Russland, das weiterhin einen brutalen Angriffskrieg auf europäischem Boden führt. Mit all dem steht sie, aber auch ihre Wählerschaft, in der politischen Landschaft allein da.
Kickl stilisierte daher seine Politik als Kampf gegen die „gegnerische Einheitspartei“, zu der in der Welt der Freiheitlichen auch die Volkspartei zählt. Sein konfrontatives Politikverständnis würde eine Koalition ständig belasten.
Lässt sich der FPÖ-Chef zu einer Zusammenarbeit mit der ÖVP herab, soll die Regierung seinem Willen folgen. Auch, weil Kickl der Volkspartei zutiefst misstraut, seit Ex-Parteichef Sebastian Kurz ihn am Ende der türkis-blauen Koalition 2019 als Innenminister zur Entlassung vorgeschlagen hat. Um einer derartigen erneuten Schmach zu entgehen und wie als Beweis seines Selbstverständnisses beanspruchte der FPÖ-Chef mit Kanzleramt inklusive Medien-, EU- und Kulturagenden, Innen- und Finanzministerium alle Schlüsselressorts und dadurch auch die wichtigsten Machtzentren der ÖVP. Eine gezielte Provokation – etwas, woran sich die Volkspartei in einer Zusammenarbeit mit ihm gewöhnen müsste.
Aus Kickls Sicht ist das schlüssig: Er hat die Wahl gewonnen, das Wahlergebnis seiner Partei hat sich nahezu verdoppelt. Gleichzeitig stand die ÖVP mit einem Verlust von 11,2 Prozentpunkten am Wahlabend als größter Verlierer da. Laut aktuellen Umfragen würde die Volkspartei zudem bei Neuwahlen weiter verlieren und die FPÖ weiter dazugewinnen. Mit diesen Aussichten stellt Kickl auch in den Verhandlungen mit der ÖVP seinen Machtanspruch, der weit über die 28,8 Prozent hinausreicht, die die FPÖ bei der Wahl erreicht hat, und sieht keinen Grund, von eigenen Forderungen abzugehen.
Scheitert Blau-Schwarz, ob während der Verhandlungen oder bald nach Regierungsantritt, an Kickls Allmachtsfantasien? Durchaus möglich.
Immer wieder sorgen freiheitliche Vorschläge auf schwarzer Seite für Unverständnis: Die FPÖ will ein Ende des UNO-Standortes Wien oder eine Deutschpflicht für Abschlussarbeiten auf Hochschulen würden dem Standort Österreich schaden. Ein Ausstieg aus Friedensmissionen oder dass Kickl nationales Recht über internationale Vereinbarungen stellen will, würde Österreich international isolieren.
Stellt Kickl mit Blick auf seine guten Umfragewerte also unerfüllbare Bedingungen? Die FPÖ dementiert. In einigen Punkten wie der Bankenabgabe wollen blaue Verhandler falsch verstanden worden sein, von anderen Positionen rückten die Freiheitlichen rasch wieder ab.
Kickl könnte, bewusst oder unbewusst, durch seine provokante Politik die Zusammenarbeit mit der ÖVP platzen lassen. Der Unsicherheitsfaktor Herbert Kickl lässt sich durch kein Regierungsprogramm absichern.
Verunsicherte Volkspartei
Das weiß auch die ÖVP. Einst hatte die Volkspartei ihre Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen damit argumentiert, dass die Blauen in der Regierung „entzaubert“ würden. Heute spart man sich derlei Geplänkel, es geht um blanke Machtinteressen: Die Volkspartei regiert seit 38 Jahren durchgehend (mit kurzer Unterbrechung der Experten-Regierung unter Brigitte Bierlein). Das Finanzministerium ist seit 2007 in schwarzer Hand.
Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (30), die für die ÖVP bei Infrastruktur, Familie, Wohnen oder Justiz verhandelt, hat die Volkspartei nie in Opposition erlebt. Im Erwachsenenalter von Medienministerin Susanne Raab (40) war das Innenministerium immer eine schwarze Hochburg, nur mit kurzer Unterbrechung von Herbert Kickl.
Die Amtszeit des FPÖ-Chefs hatte die ÖVP zwar ermöglicht, im Nachhinein aber als Gefahr für die Sicherheit des Landes erkannt.
Doch was genau bedeutet in diesem Zusammenhang Macht? Eine ÖVP, die nicht mehr den Kanzler stellen würde; die, wenn es nach der FPÖ geht, auch nicht die Ressorts für Finanzen und Inneres hätte; die die EU-Agenden nicht mehr über hätte – was genau wäre dann noch schwarz? Welche Interessen hätte die ÖVP durchgesetzt? Wer sich dieser Tage in der ÖVP umhört, vernimmt eine Mischung aus Verbissenheit und Schaudern.
Kaum jemand in der Volkspartei, der diese Koalition wirklich begrüßen würde. Gleichzeitig werden jene, die sich öffentlich dazu äußern, als Verräter beschimpft. Etliche Akteure versuchen noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten Alternativen aufzustellen, doch sie bleiben im Theoretischen. Wer mit Schwarzen spricht, der bekommt den Eindruck, die Partei befindet sich im Blindflug und hofft schlicht darauf, doch noch irgendwie weich zu landen.
Neben der Ressortverteilung ist die Frage, wie Kickl sich in Europa-Fragen verhalten würde, eine der wichtigsten, die die ÖVP umtreibt. Nur zu gut weiß man, dass Garantien wertlos sind, er könnte tun, was er will. Als Kanzler zählt im Europäischen Rat seine Stimme.
Vielleicht zieht doch noch jemand die Reißleine, vielleicht steht doch jemand auf? Doch wer könnte das sein? Wer sind im Endeffekt diejenigen, die in der ÖVP entscheiden? So klar scheint das jenen innerhalb der ÖVP nicht zu sein.
Die Reißleine könnten nur noch couragierte Einzelkämpfer ziehen, vielleicht Christian Stocker selbst. Er jedenfalls hätte das Format aufzustehen und aus Gewissensgründen den Koalitionstisch zu verlassen, sagt jemand, der ihn persönlich kennt. Dass ausgerechnet Stocker, der stets die FPÖ als Koalitionspartner vehement abgelehnt hatte und dann doch seine Partei in die Verhandlungen mit ihr führte, derjenige sein sollte, der die Sache sprengt, scheint unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Später auch als Vizekanzler.
![Iris Bonavida](https://image.profil.at/images/cfs_square_616/8878902/bonavida-sw.jpg)
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
![Daniela Breščaković](https://image.profil.at/images/cfs_square_616/8758207/fotohermesbrescakovic.jpg)
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.
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Nina Brnada
Redakteurin im Österreich-Ressort. Davor Falter Wochenzeitung.
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Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.