Christoph Wiederkehr: Freilufttheater

NEOS-Wien-Spitzenkandidat Christoph Wiederkehr kämpft tapfer um Aufmerksamkeit im Wahlkampf. Unter Pandemie-Bedingungen ist das nicht leicht.

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aus profil Nr. 39 / 2020 vom 20.09.2020

Gutes Wetter schadet in einem Wahlkampf grundsätzlich nicht, aber so wichtig wie diesmal war die Witterung noch nie. Die Corona-Maßnahmen machen größere Veranstaltungen indoor fast unmöglich. Am sichersten fühlen sich alle Beteiligten an der frischen Luft.


So gesehen haben die NEOS am Montagvormittag vergangener Woche Glück. Christoph Wiederkehr, Spitzenkandidat der NEOS bei der Wien-Wahl, hat zu einer Pressekonferenz in den Resselpark im 4. Bezirk eingeladen, und das Wetter könnte kaum besser sein: Kurz vor 9.30 Uhr ist es angenehm kühl, sonnig und fast windstill. Im Schatten alter Bäume hat das NEOS-Team zwei Plakatständer und einen kleinen Stehtisch als Rednerpult aufgestellt. Der Journalistenandrang hält sich in Grenzen, aber ein paar Medienvertreter sind immerhin gekommen, um den Ideen der kleinsten Rathauspartei zu lauschen.

"Holen wir Tesla-Fabriken nach Wien!", lautet das Thema - aber gesprochen wird dann weniger über den kalifornischen Hersteller von Elektroautos und mehr über die Versäumnisse der Bundeshauptstadt. "Die einzige Wirtschaft, von der die SPÖ etwas versteht, ist die Freunderlwirtschaft", erklärt Christoph Wiederkehr angriffslustig. Es tue ihm im Herzen weh, wenn er sehe, dass angestammte Traditionsbetriebe wie Schlumberger und Niemetz Wien verlassen, sagt Sepp Schellhorn, Wirtschaftssprecher der NEOS im Parlament und heute so etwas wie der Stargast. Markus Ornig, Wirtschaftssprecher der Partei in Wien, fühlt sich dann doch noch verpflichtet, auf Tesla zu sprechen zu kommen: "Stellen Sie sich vor, Sie sind einer der größten Visionäre-Elon Musk-und überlegen, ob Sie Ihr neues Werk in Berlin oder in Wien bauen sollen",sagt er und zählt dann die Gründe auf, warum die Wahl nicht auf Wien fallen konnte: U-Bahn-Steuer, Luftsteuer, die Zwangsmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer und so weiter.

Die NEOS-Wahlkämpfer schlagen sich tapfer, aber Freiluftveranstaltungen haben ihre Tücken: Der Kinderspielplatz nebenan sorgt für eine beständige Lärmkulisse aus spitzen Schreien und Gelächter. Zwischendurch donnert ein Lkw über den nahe gelegenen Karlsplatz, oder eine Straßenbahn hält mit quietschenden Bremsen. Es ist nicht ganz leicht, sich in diesem Ambiente auf die Lohnnebenkosten in der Hauptstadt zu konzentrieren. Fragen der Journalisten gibt es nach den kurzen Referaten folglich keine. Wenigstens waren alle eine halbe Stunde an der frischen Luft.

Christoph Wiederkehr ist 30 Jahre alt und seit zwei Jahren Landessprecher der NEOS in Wien. Sein Bekanntheitsgrad wäre noch ausbaufähig; das merkt man, wenn man mit ihm unterwegs ist. Pandemiebedingt fällt der ganz normale Wahlkampf weitgehend aus. Wiederkehr muss also darauf vertrauen, dass seine Fernsehauftritte und die Internet-Aktivitäten reichen, um die Wähler zu überzeugen. Erschwerend kommt hinzu, dass es seit Monaten nur ein Thema gibt, das die Leute wirklich interessiert. Für eine kleine Oppositionspartei bietet Corona wenig Profilierungsmöglichkeiten. Klar kann man gegen das Rathaus und die Regierung sticheln, aber die wichtigen Entscheidungen fallen woanders.

Die Ausgangslage ist also schwierig genug für die NEOS, um sich selbst ein wenig Mut zuzusprechen: "Ich bin ganz zufrieden damit, wie wir wahrgenommen werden", meint der Spitzenkandidat am Nachmittag bei einem Cola im Kaffeehaus. Bei der Wahl im Jahr 2015 kam Pink in Wien auf etwas über sechs Prozent. Diesmal soll es mehr werden, obwohl die Umfragen der Hoffnung aktuell nicht viel Schub verleihen: "Mein Wahlziel ist mindestens ein Mandat zusätzlich",sagt Wiederkehr.

Bildung, Wirtschaft, Kontrolle: Das sind die drei Themenfelder, mit denen die NEOS punkten möchten, wobei die Kontrollfunktion nicht bedeute, dass man unbedingt in der Opposition bleiben wolle, sagt Wiederkehr. Mitregieren wäre auch eine Option. "Wir sehen uns durchaus als Regierungspartner der SPÖ, allerdings als ein unbequemer." Sozusagen als Vorleistung haben die NEOS nun den Stadtrechnungshof eingeschaltet, der prüfen soll, ob die Corona-Testkapazitäten in personeller und anderer Hinsicht den Anforderungen gerecht werden. Das Corona-Management in Wien sei eine Katastrophe, erklärte Wiederkehr bei der Präsentation dieses Vorstoßes: "In der Bevölkerung herrscht eine unglaubliche Verunsicherung-und zwar nicht wegen des Virus, sondern wegen der Politik."

Am Mittwochnachmittag trifft sich der kleine Trupp zum Straßenwahlkampf. An der Reihe ist diesmal eine aus NEOS-Sicht eher schwierige Gegend: der 15. Wiener Gemeindebezirk. Hier wohnen sehr viele Zuwanderer, das Durchschnittseinkommen ist niedrig, mehr als die Hälfte der Bewohner von Rudolfsheim-Fünfhaus sind am 11. Oktober gar nicht stimmberechtigt. Aber im Wahlkampf darf man als Spitzenkandidat nicht zimperlich sein.

Christoph Wiederkehr stellt sich vor die U-Bahn-Station Schweglergasse und versucht, mit Passanten ins Gespräch zu kommen. Er trägt einen Mund-Nasen-Schutz-es macht also nichts, dass ihn hier keiner kennt. Die meisten Leute eilen vorbei, nur manche nehmen wenigstens ein Geschenk entgegen. Im Angebot sind Manner-Schnitten, Kugelschreiber (aus recyceltem Karton),Bleistifte (aus recycelten CD-Hüllen) und Stoffsackerl mit der Aufschrift "Weil's nicht wurscht ist".Ein grauhaariger Herr aus der Umgebung bleibt stehen und will ein bisschen streiten: "Warum seid ihr immer nur vor den Wahlen da?"Nach längerer Debatte wird man sich einig, dass für die Schulen in Wien zu wenig getan werde. Harmonisch läuft das Gespräch mit einer Frau mittleren Alters, die aber leider nicht wählen darf, weil sie einen deutschen Pass hat. "Es ist schlecht, wenn in einer Stadt immer mehr Menschen nicht mitbestimmen können",sagt Wiederkehr. "Wir kämpfen dafür, dass EU-Bürger bei der Gemeinderatswahl abstimmen dürfen."

Vorerst müssen aber die Stimmen der Österreicher genügen. Um zu unterstreichen, wie ernst es ihm mit den erwarteten Zugewinnen ist, ging Wiederkehr zum Notar, um schriftlich festzuhalten, dass die NEOS keinesfalls einen nicht amtsführenden Stadtrat stellen werden. Das seltsame Amt ist eine Wiener Besonderheit, gegen die Wiederkehr und Kollegen seit Jahren Sturm laufen. Je nachdem, ob Heinz-Christian Strache den Einzug in den Gemeinderat schafft oder nicht, könnte ein solcher Job für seine Partei schon mit etwas weniger als sieben Prozent möglich sein, meint der Spitzenkandidat: "Und das werden wir dann eben ablehnen."

Rosemarie Schwaiger