Flüchtlingshilfe: Die Erlebnisse einer privaten Helferin
Als die steirische Historikerin zum ersten Mal auf die junge Afghanin trifft, liegt der Zauber eines märchenhaften Anfangs in der Luft. Tamina* ist keine 16. Aufgerichtet und berauscht vom eigenen Spiegelbild und ungekannten Freiheiten steht sie an der Schwelle ihres neuen Lebens. So kommt es Edda Engelke vor. Ärzte in Wien hatten das Flüchtlingsmädchen am Rücken operiert. Nun war sie um einige Zentimeter größer und in Frohnleiten auf Reha.
Vergangene Woche sitzt Edda Engelke im Café des Klinikum Theresienhof, wo die Geschichte vor einem Jahr anfing, und sagt: "Irgendwie hoffe ich noch immer.“ Doch es klingt hoffnungslos. Engelke ist Verfasserin mehrerer Bücher, sie lebt in Frohnleiten, einem Ort, der seinen Wohlstand vor allem der Tatsache verdankt, dass er einen Teil des Grazer Mülls lagert. Sie organisiert Konzerte auf einer Burg, ihr Mann leitet das orthopädische Krankenhaus, Passanten winken ihr zu, sie ist sozial eingebettet. Wenn jemand Hilfe braucht, streckt sie die Hand aus.
Viele Helfer lesen von Erfolgsgeschichten, die nicht zu den ernüchternden Erfahrungen passen, die sie selbst machen.
Anfang der 1990er-Jahre hatten sie und ihr Mann eine bosnische Familie aufgenommen, und sie war auch sofort zur Stelle, als ein Bekannter um Unterstützung für das kranke Flüchtlingsmädchen bat. Ihre Eltern waren aus Afghanistan geflohen, als Tamina zwei war. Im Iran rieten die Ärzte zur Operation, doch zu unsicher war ihr Ausgang. Ein Schlepper brachte die Familie bis nach Athen. Von hier schaffte sie es über die Balkanroute und landete in der Steiermark. Das war 2012.
Taminas Bruder lernte schnell Deutsch. Im Iran hatte er als Bub bei einem Schuhmacher gearbeitet, in Österreich dolmetscht er für die Eltern und spricht seiner Schwester Mut zu, als sie sich im Jänner 2015 auf die schwere Operation einlässt. Die Wahrscheinlichkeit, danach gelähmt zu sein, war hoch. Die Ärzte gaben ihr Bestes, vielleicht hatte Tamina auch besonders viel Glück. Danach versucht sie nachzuholen, was sie lange entbehrt hat. Sie genießt es, dass ein junger Österreicher ihr schmeichelt, wie hübsch sie sei, und vergisst daneben auf das Lernen und ein paar andere Dinge im Leben.
Engelke besorgt einen Schreibtisch, weil es bei ihr zu Hause keinen gibt, Hefte, eine Vokabelbox, sie bringt sie zur Ärztin, die ihr erklärt, wie man verhütet. Das AMS treibt einen Platz in einem Jugendcoaching-Projekt auf, wo sie versichert ist, Taschengeld bekommt und wenn alles gut geht, eine berufliche Perspektive.
Doch dann geht es der Helferin in der Steiermark wie vielen Frauen und Männern in diesem Land, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Sie lesen von Erfolgsgeschichten, die nicht zu den ernüchternden Erfahrungen passen, die sie selbst machen. Schon am zweiten Tag bleibt Tamina dem Kurs fern. Sie habe für ihre Eltern Wohnungen besichtigt und Arzttermine ausgemacht, erklärt sie hinterher. Die Fehlstunden häufen sich. Tamina findet neue Freundinnen. Wie andere Jugendliche auch begeistert sie sich für Haarefärben, Nägellackieren, Shoppen und postet Bilder von Picknicks. Am Montag ist sie unpässlich, die Übungsblätter gibt sie unausgefüllt zurück: "War so schwer.“
Ich bin manchmal völlig ratlos, wie es weiter gehen soll.
Die Steirerin, die drei Söhne großgezogen hat, gibt nicht so schnell auf. Allmählich aber beschleicht sie das Gefühl, im Kreis zu rennen: "Tamina ist zunehmend grantig und aggressiv geworden. Ich muss mir wohl eingestehen, dass unsere Welt für sie zu anspruchsvoll ist.“ Sie und ihr Bruder hätten nie gelernt zu lernen. Selbst in ihrer Muttersprache fehlen ihnen Oberbegriffe wie Wald, Obst oder Tiere. Als Engelke Tamina gegenüber einmal bemerkt, ihr Vater, der alle Kurse abgebrochen habe und nach vier Jahren im Land noch kaum Deutsch spricht, müsse sich ein bisschen anstrengen, faucht die Afghanin: "Er will arbeiten, aber das AMS hat nichts für ihn.“
Die Helferin zweifelt. Sind ihre Erwartungen zu hoch, macht sie zu viel Druck? Sie drängt Tamina, jeden Tag ein paar Sätze in ein Tagebuch zu schreiben, um die Schrift zu üben. Doch die Jugendliche kommt ihr immer mehr abhanden. Auch im Coaching-Projekt taucht sie eher unregelmäßig auf. Engelke rückt immer wieder aus, um Streit zu schlichten und Wogen zu glätten. Die afghanischen Eltern kommen mit ihrem Leben in der Fremde schwer zurande; ihren Kindern können sie kaum eine Hilfe sein.
Auch bei Taminas Bruder zieht sich der Schulabschluss in die Länge. Neue Probleme tauchen auf. Seine Freundin ist schwanger. Für einen jungen Afghanen, der von Kindesbeinen an zum Unterhalt der Familie beigetragen hat, ist es schwer verständlich, dass sich in Österreich Behörden in Angelegenheiten mischen, die aus seiner Sicht "rein familiär“ sind. Engelke ist froh, dass seine Freundin die Schule fertig macht. Am Abend fragt sie ihren Mann: "Was kann jetzt noch kommen?“
Sozialarbeiter lernen, sich mit dem Unmöglichen abzufinden; Scheitern gehört zu ihrer Profession. Es kommt vor, dass ihre Unterstützung Wunder wirkt. Manchmal aber funktioniert sie erst nach vielen Versuchen, und mitunter ist sie sogar vergebens. Daran können freiwillige Helfer fast zerbrechen. "Ich bin manchmal völlig ratlos, wie es weiter gehen soll mit Tamina, ihrem Bruder, ihren Eltern, den anderen, der Integration überhaupt“, räumt Engelke ein. Immer wieder stoße sie auf Dinge, die sie sich nicht habe vorstellen können.
Es dauert nicht lange, bis die Community, in der das Thema Brautschau allgegenwärtig ist, auch der jungen Afghanin einen geeigneten Kandidaten zuführen will.
Andere Helferinnen machen ähnliche Erfahrungen. Eine erzählt von einem Syrer, dem das AMS eine 1600-Euro-Vollzeitstelle als Hilfskoch in einem Restaurant angeboten hat. "40 Stunden in der Woche soll ich dort arbeiten? Und wann soll ich schlafen?“, habe er entgeistert gefragt. Manchmal sei in einer Flüchtlingsfamilie plötzlich der Kühlschrank leer, und es stelle sich heraus, dass die Mutter das gesamte Geld zu Verwandten in den Irak oder nach Pakistan geschickt habe, damit diese in die Türkei reisen und dort einen Schlepper nach Europa suchen können.
Man müsse durchhalten, weiter lernen, eine Ausbildung machen, Verantwortung übernehmen, arbeiten, mahnt Engelke immer wieder. Als die junge Afghanin sich dafür begeistert, in einem Frisiersalon zu arbeiten, verschafft sie ihr über eine Freundin ein Schnupperpraktikum. Doch auch hier hält es das Mädchen nicht lange. "Tamina hat die Salons in Paris im Kopf, die sie im Internet gesehen hat, die steirische Frisörin ums Eck kann da nicht mithalten“, sagt Engelke. Und: "Ich weiß, das klingt schrecklich, was ich sage.“
Für viele der Flüchtlinge, die sie inzwischen kennengelernt hat, sei Arbeit die Summe an Gelegenheiten, die sich Tag für Tag ergeben: Man fragt jemanden, der im Garten gerade Büsche schneidet, ob man helfen kann, bekommt dafür 20 Euro und geht in den Supermarkt. In die eigenen Fähigkeiten investieren, für später Sparen kommt in dem Modell nicht vor.
Rückblickend habe sich das Mädchen immer weiter entfernt, als neue afghanische Flüchtlinge in einen Nebenort zogen, sagt Engelke. Unter ihnen ist eine Tamina selbst mit mangelhaften Deutschkenntnissen ein Star. Es dauert nicht lange, bis die Community, in der das Thema Brautschau allgegenwärtig ist, auch der jungen Afghanin einen geeigneten Kandidaten zuführen will.
Durchbrüche sind selten, Niederlagen gehören auch hier zum Alltag.
Engelke sagt sich, dass sie ihre Schützlinge bloß an den Start bringen könne, laufen müssten sie schon selbst. War ihr Einsatz umsonst? "Auf keinen Fall, es geht um junge Leute, die vielleicht einen Durchhänger haben und noch Zeit brauchen. Und selbst Menschen, die irgendwann zurückgehen, nehmen die Freundlichkeiten und alles, was sie hier gelernt haben, mit sich. Gute Erfahrungen helfen ihnen überall weiter“, sagt die Steirerin.
Vergangenen März zogen 40 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Gegend. Abgeschottet von Wald und fünf Kilometer von Frohnleiten entfernt liegt das Gut Ebenbauer. Der Industrielle Franz Mayr-Melnhof-Saurau wohnte hier bis zu seinem Autounfall 1993, danach wurde es zum Pensionistenheim, später zum Quartier für Kraftwerksarbeiter. Nun betreut die Caritas "beim Ebenbauer” 40 Burschen, die meisten von ihnen aus Afghanistan. Der Start war aus der Sicht Engelkes ein wenig holprig, inzwischen gibt es eine neue Heimleiterin, die sich sehr um gedeihliche Kontakte mit der Bevölkerung bemüht.
Vergangene Woche zeigen junge Afghanen den Besuchern die Küche, in der sie einmal in der Woche gemeinsam kochen, den Fitnessraum im Keller und ihr helles, freundliches Zimmer im ersten Stock, das sie sich zu dritt teilen. An der Wand hängt eine Fahrradzeichnung, auf der alle Teile deutsch benannt sind: Speichen, Gepäckträger, Klingel. An der Zimmertür klebt ein kleiner Zettel, auf dem "Tür“ steht, an der Wand einer mit "Wand“. Es gibt drei Deutschlerngruppen, eineinhalb Stunden Unterricht für jeden pro Tag. Die Heimleiterin spricht von winzigen Fortschritten. Große Durchbrüche sind selten, Niederlagen gehören auch hier zum Alltag. Das Eingeständnis der professionellen Helferin klingt in den Ohren der privaten Kollegin fast tröstlich.
Im kommenden Herbst will die Heimleiterin im Ort einen Kurs organisieren. Alle Flüchtlinge haben die Schulpflicht hinter sich, niemand ist über 18, kaum einer verfügt über eine Ausbildung. Das klingt nach einer mühseligen Aufgabe, für die Heimleiterin ist sie "lohnend und letztlich auch schön“. Engelke lächelt beim Abschied. "Freiwillige Helfer sind immer willkommen“, sagt die Heimleiterin. Einige der Burschen machen einen aufgeweckten Eindruck. Für die Steirerin hat vielleicht ein neues Kapitel des Helfens begonnen: "Wir müssen etwas tun, anders wird es nicht gehen.“
* Namen von der Redaktion geändert