Patriot-Raketenabwehr-System
Bundesheer

Österreich und die NATO: Beitritt auf Raten?

Österreich schlüpft unter den Luftabwehr-Schirm der NATO-Staaten. Seit jeher kooperiert die Republik mit dem Militärbündnis.

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Dank Viola Amherd reduziert sich Klaudia Tanners Erklärungsbedarf. Beide Damen sind Verteidigungsministerinnen, Amherd in der Schweizer Eidgenossenschaft, Tanner in der Republik Österreich. Am Freitag trafen sie mit ihrem deutschen Amtskollegen Boris Pistorius in Bern zusammen. Dabei unterzeichneten die zwei Ministerinnen eine Absichtserklärung zur Teilnahme ihrer Länder an der European Sky Shield Initiative, dem Projekt zum Aufbau eines gemeinsamen europäischen Luftverteidigungssystems. Defacto handelt es sich um ein Programm von NATO-Staaten für NATO-Staaten. Aber wenn die Schweiz (neutral seit 1815) damit kein Problem hat, muss auch Österreich (neutral seit 1955) keines haben. Tanners Rechtfertigungsaufwand ist geringer geworden. Österreich „war neutral, ist neutral und wird neutral bleiben“, wie Kanzler Karl Nehammer apodiktisch zu verkünden pflegt.

Allerdings ist Österreichs Einstellung zu Neutralität und NATO seit jeher situationselastisch. Die Zusammenarbeit mit dem Militärbündnis ist eng. Österreichische Soldaten dienten unter NATO-Kommando im Kosovo und in Afghanistan. Österreichische Militärpiloten werden in NATO-Staaten ausgebildet, Gebirgskampftruppen aus NATO-Staaten in Österreich. Das Bundesheer ist – abgesehen vielleicht von der finanziellen Ausstattung – längst eine Armee nach NATO-Standards.

Vor allem die FPÖ hält die Teilnahme Österreichs an Sky Shield für unvereinbar mit dem neutralen Status. Die vom deutschen Kanzler Olaf Scholz angestoßene Initiative besteht – mit Österreich und der Schweiz – aus 19 Staaten. 16 davon sind bei der NATO, Schweden ist Beitrittswerber. Keine Partner bei Sky Shield sind Frankreich, Italien, Spanien und Polen, die jeweils auf eigene Systeme setzen.

Sicherheit ab 2025

Ziel von Sky Shield ist es, bis zum Jahr 2025 einen satellitengestützten Schutzschirm über die teilnehmenden Länder zu spannen, um feindliche Flugzeuge, Raketen und Drohnen frühzeitig erkennen und vom Boden aus abwehren zu können. Dazu soll der Austausch von Radardaten intensiviert werden. Österreich würde wohl sein Luftraumüberwachungssystem Goldhaube einbringen.

Sky Shield baut auf bestehenden Systemen auf. Die notwendigen neuen Waffensysteme sollen die Teilnehmer-Länder gemeinsam beschaffen. Bisher sind Österreichs Möglichkeiten begrenzt. Die bloße Überwachung des Luftraums ist dank Goldhaube und Eurofightern möglich, die Abwehr nicht. Gegen Raketenangriffe auf Wien – wie sie Kiew seit eineinhalb Jahren erlebt – wäre das Bundesheer machtlos. Die Reichweite der österreichischen Mistral-Flugabwehrraketen beträgt nicht einmal zehn Kilometer.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine beschloss die Regierung, zumindest Medium-Range-Luftverteidigungssysteme anzuschaffen, die Raketen, Drohnen oder Flugzeuge innerhalb eines Radius’ von 40 Kilometern bekämpfen können. Umfassenden Schutz bietet aber nur Sky Shield. Im Rahmen der Initiative könnten etwa Arrow-3-Raketen beschafft werden, die eine Reichweite von bis zu 2.400 Kilometer aufweisen. Das amerikanische Patriot-Abwehr-System erzielt bis zu 160 Kilometer. Sicherheit ist nicht gratis: Die Teilnahme an Sky Shield wird die Republik geschätzt zwei Milliarden Euro kosten.

Sowohl Österreich als auch die Schweiz versahen ihre Beitrittserklärungen mit Neutralitätsvorbehalten. Sky-Shield-Waffensysteme auf österreichischem Boden dürfen nur vom Bundesheer bedient werden und können nicht einem ausländischen Oberbefehl, etwa der NATO, unterstellt werden.

Bundesheer unter NATO-Kommando

Klaudia Tanner ist bemüht, Sky Shield als lockere Kooperation europäischer Staaten darzustellen. Was es tatsächlich ist, machte der stellvertretende NATO-Generalsekretär Mircea Geoană deutlich: „Die neuen Mittel fügen sich nahtlos in die Luftabwehr der NATO ein und werden unsere Fähigkeit, das Bündnis gegen alle Bedrohungen aus der Luft zu verteidigen, erheblich verbessern.“ Und Österreich ist mittendrin statt nur dabei.

Außerhalb des eigenen Territoriums kann österreichisches Militär ohne rechtliche Probleme unter NATO-Kommando gestellt werden. So beschloss der Ministerrat im Juni die Teilnahme von zehn Bundesheer-Soldaten an einer Ausbildungsmission der NATO im Irak.

Im Juni 1999 entsandte die Regierung das Bundesheer in den Kosovo im Rahmen der von der NATO geleiteten KFOR-Mission. Mittlerweile dient dort bereits das 48. Kontingent, das aus rund 500 Soldaten besteht. Das Heer ist vor allem für die logistische Unterstützung der KFOR-Mission verantwortlich. Auch an der NATO-Mission in Bosnien (IFOR, 1996 bis 2001) nahm das Bundesheer teil.

Die UN-autorisierte Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) in Afghanistan, die nach der Vertreibung der Taliban aus der Hauptstadt Kabul Sicherheit gewährleisten sollte, unterstand ebenfalls der NATO. Österreich beteiligte sich zwischenzeitlich mit bis zu hundert Soldaten, zumeist Angehörigen des Jagdkommandos aus Wiener Neustadt. Im August 2015 gerieten drei Jagdkommando-Soldaten in ein Gefecht, als Taliban das Camp Integrity in Kabul angriffen. Dabei leisteten sie verwundeten amerikanischen Soldaten Erste Hilfe und wurden von den US-Streitkräften mit Orden ausgezeichnet.

Partnerschaften

Österreichs Teilnahme an ISAF und KFOR erfolgte im Rahmen der NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP), die es interessierten Ländern ermöglicht, sich in NATO-Programme auch ohne Mitgliedschaft einzubringen. Österreich trat der Partnerschaft für den Frieden im Jahr 1995 bei. Für viele heutige NATO-Mitglieder wie etwa Slowenien, Rumänien, die Slowakei, die baltischen Staaten und Finnland war die PfP quasi die Vorbereitung auf den späteren Beitritt.

Die Zusammenarbeit mit der NATO ist für PfP-Länder in 1400 Aktivitäten möglich. Für mögliche Missionen bietet Österreich der NATO, aber auch der EU und der UN, so genannte Kaderpräsenzeinheiten des Bundesheeres an. Diese müssen sich regelmäßig einer Evaluierung durch die NATO stellen.

Im Juni wurden etwa eine Kompanie des Aufklärungs- und Artilleriebataillons 7 der steirischen Garnison Feldbach überprüft. Das zentrale Prinzip dabei ist die „Interoperabilität“. Um mit NATO-Armeen kooperieren zu können, muss das Bundesheer dieselben Standards in Technik, Abläufen, Dokumentationen und Methoden aufweisen. Gesprochen wird nur Englisch. Im Rahmen der Evaluierung wurde diese Interoperabilität durch NATO-Offiziere überprüft. Dazu bewerteten sie die Fertigkeiten der Bundesheer-Soldaten bei der Aufklärung von Luftlandungen, dem Betreiben von Checkpoints und der Bekämpfung eines feindlichen Spähtrupps. Die steirischen Soldatinnen und Soldaten bestanden die Prüfung und gelten nun als „Combat ready“, als „einsatzbereit“, sollte die Regierung eine Entsendung in eine internationale Mission beschließen. Im Gegenzug stellt Österreich seinerseits Offiziere ab, um Evaluierungen in PfP-Staaten durchzuführen.

Interoperabilität

Demnächst stellt sich die Blackhawk-Helikopter-Staffel am Fliegerhorst Langenlebarn der NATO-Zertifizierung. Die Interoperabilität der österreichischen Flugstreitkräfte ist besonders hoch. Ein deutscher oder englischer Pilot auf Besuch am Fliegerhorst Zeltweg könnte sich theoretisch in einen österreichischen Eurofighter setzen und ohne lange Vorbereitung abheben. Einsatzbefehle für die Piloten des Bundesheeres sind methodisch exakt so gestaltet wie in der NATO.

Am intensivsten ist die Zusammenarbeit im Bereich von Ausbildung und Übungen. Bundesheer-Offiziere absolvieren Programme an der NATO School Oberammergau in Bayern. Österreichische Piloten werden in Italien und den USA geschult, NATO-Staaten schicken Soldaten zur Gebirgskampf-Ausbildung nach Österreich. Im Juni landeten in Zeltweg zwei F-35-Jets der Vermont Air National Guard, die in Deutschland an einem NATO-Manöver teilnahmen, und übten mit den Eurofightern.

Einheiten der ABC-Abwehrkräfte des Bundesheeres waren zuletzt nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei im Einsatz. Ihre Kernaufgabe ist der Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren. Vor Kurzem entwickelte die Spezialisten ein neues Verfahren zur Detektion von Nowitschok. Da das Bundesheer über keine Proben des tödlichen Nervengifts verfügt, stellten ihnen die Schweizer welche zur Verfügung – und das ganze Labor in der Schweiz gleich dazu.

Regelmäßig wird das Bundesheer auch zum größten ABC-Abwehr-Manöver der NATO eingeladen, der „Precise Response“ im kanadischen Bundesstaat Alberta. Vergangenes Jahr wurden die Bundesheer-Soldaten dort – vor den Spezialisten der großen NATO-Staaten – zweifach ausgezeichnet: als beste Einheit bei der Dekontamination und bei der Proben-Entnahme. Oberst Jürgen Schlechter, Kommandant des ABC-Abwehrzentrums, hält die internationale Zusammenarbeit für unabdingbar: „Atomare oder biologische Katastrophen sind ja auch nicht auf ein Staatsgebiet begrenzt.“ In die NATO-Arbeitsgruppen seien die Österreicher voll integriert. Und was passiert, wenn in solchen Gremien Entschlüsse gefasst werden? Schlechter: „Dann verlassen die Vertreter der Nicht-NATO-Staaten das Sitzungszimmer.“

Wenn Sky Shield ab 2025 läuft, werden die Österreicher im Raum bleiben dürfen.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.