Fünf Gründe, warum die Regierung gegen Wien poltert
1. Zahlen für den Moloch
Gegen Wien geht immer. Bei Sebastian Kurz zum Beispiel: Im Wahlkampf 2017 wetterte er, dass „mehr und mehr Österreicher Wien verlassen“, jetzt gegen Langschläfer und Arbeitsscheue. Das hat Tradition, mit Ressentiments gegen Wien ließ sich schon immer vortrefflich Politik machen. Vor allem ÖVP-Landeshauptleute aus dem Westen treibt seit jeher die Furcht an, von Ignoranten im „Wasserkopf Wien“ finanziell geschädigt zu werden. Diese Geschichte wiederholt sich seit Jahrzehnten: Salzburgs Ex-Landeshauptmann Franz Schausberger klagte einst gegen die finanzielle Benachteiligung seines Netto-Zahler-Bundeslandes, mit den Landeshauptleute-Kollegen aus Tirol und Vorarlberg wurde eine „Westbilanz“ der Steuerleistung urgiert.
Mit Kraftmeiern gegen die Bundeshauptstadt lässt sich Landesvolk vereinen, schon seit der Ersten Republik: Nach dem Ende von Krieg und Kaiserreich war Wien von Nahrungsmitteln abgeschnitten. Damals entstand das Urteil, das Land werde ausgeplündert, um „die Parasitenstadt Wien zu erhalten“, wie der Historiker Hellwig Valentin bei der Republiksausstellung betonte. In moderner Variante wirkt diese Meinung bis heute nach, frei nach dem Motto: Der fleißige Rest Österreichs zahlt und zahlt für den nimmersatten Moloch Wien.
Statistiken zeichnen ein differenziertes Bild: Die Wirtschaftsleistung Wiens ist überdurchschnittlich hoch, ein Fünftel der Bevölkerung Österreichs lebt in Wien und erwirtschaftet ein Viertel der Wirtschaftsleistung. Beim Bruttoregionalprodukt pro Kopf liegt Wien hinter Salzburg auf Platz zwei, bei der Pro-Kopf-Verschuldung im Mittelfeld auf Platz fünf. Die Arbeitslosigkeit hingegen ist zwar gesunken, mit 12,3 Prozent aber deutlich höher als im Bundesdurchschnitt (7,7 Prozent). Netto pendeln täglich 170.000 Menschen zum Arbeiten nach Wien ein. Deutlich über dem Durchschnitt ist die Zahl der arbeitslosen Asylberechtigten, auch die Hälfte aller Mindestsicherungsbezieher lebt in Wien. Zum Teil sind das klassische Großstadt-Sogeffekte – die Anonymität jeder Metropole zieht verstärkt Problemgruppen an –, zum Teil Folgen der höheren Mindestsicherung in Wien. Im Fehlzeiten-Report der Krankenversicherung zeigt sich: Am seltensten sind Salzburger im Krankenstand (10,6 Tage pro Jahr), am häufigsten Niederösterreicher (13,7 Tage), Wien liegt auf Platz fünf.
Auf nüchterne Zahlen kam es beim Wettern gegen Wien aber ohnehin selten an. Bernhard Görg, ehemaliger Wiener ÖVP-Chef und Vizebürgermeister und gebürtiger Niederösterreicher, weiß im profil-Gespräch zu berichten: „Der konservative Bürger kann mit der Großstadt wenig anfangen, sie ist ihm traditionell suspekt. Derzeit wird Österreich wieder konservativer, in dem Ausmaß verändert sich auch das Wien-Bild zum Negativen.“ Erst neulich war er in Krems, erzählt Görg, da sei enorm über die Owizahrer aus Wien geschimpft worden. Das liege auch an der schieren Dimension der Stadt, glaubt Görg: „Die Größe Wiens ist eine Provokation für den Rest Österreichs.“
2. Too big for a small country
Wien war stets auch Sinnbild der Zentralverwaltung, nicht gerade ein Sympathiebonus, galt zudem historisch als zu fern, zu groß, zu obskur. Kein Wunder: Wien kratzt an der Zwei-Millionen-Einwohnermarke, die nächstgrößte Stadt, Graz, kommt auf gerade 286.000 Einwohner. Die Dimensionen Wiens in ein paar Zahlen: In 24 Stunden Wien werden im Schnitt 21 Ehen geschlossen, 46 geschieden, 17.000 Bücher aus öffentlichen Bibliotheken ausgeborgt und 3500 Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. Wien weist 146 Kinosäle. 1721 Spielplätze, 83 U-Bahn-Kilometer und 194.154 Studierende auf. 55.693 Hunde produzieren täglich 3,1 Tonnen „Trümmerl“, entsorgt in jährlich 17,2 Millionen „Sackerl fürs Gackerl“. Nicht zuletzt ist Wien auch Gurkenhauptstadt Österreichs: Sechs von zehn in Österreich gezogene Gurken stammen aus Wien.
3. Größer, schneller, stressiger
In den 1970er-Jahren war Wien grau, überaltert, verschnarcht und schrumpfend: Von 1970 bis 1980 nahm die Bevölkerung um 100.000 Menschen ab. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, seit Wien von der Randlage ins Zentrum rückte, und dem EU-Beitritt der Nachbarstaaten drehte sich der Trend um. In den letzten Jahren wuchs Wien rasant, um 340.000 Einwohner seit 2001, ist mittlerweile nach Berlin zweitgrößte deutschsprachige Stadt und wird binnen weniger Jahre die Zwei-Millionen-Marke überschreiten. Das macht Wien spannender, lebendiger, pulsierender: „Wien war um 1900 Weltstadt und ist es jetzt wieder. Die Stadt ist boomend und dynamisch“, beschreibt der Stadtforscher Peter Payer. Einerseits.
Andererseits: Die zunehmende Dichte erzeugt mehr Stress. Payer: „Es gibt weniger Platz, in der U-Bahn und auch sonst wo sind mehr Leute. Das führt zu Beschleunigung: Menschen in Wien gehen und reden schneller als am Land. Manche können mit dem Tempo nicht mit.“ Dazu komme die „permanente Konfrontation und Begegnung mit Fremden“. Der Anteil der Wiener Bevölkerung mit Migrationshintergrund steigt seit Jahren, mittlerweile auf fast die Hälfte.
4. Roter Fleck im schwarzen Land
Die politische Landkarte Österreichs zeigte sich im letzten Jahrzehnt deutlich bunter: In manchen Bundesländern regiert die FPÖ mit (Oberösterreich, Burgenland, Niederösterreich), in manchen die Grünen (Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Wien), in einem die NEOS (Salzburg). Trotz all der unterschiedlichen Regierungskonstellationen ist eine Partei fast überall dabei: die ÖVP. Nur im Burgenland und in Wien ist sie auf die Oppositionsbank verbannt – in Wien schon seit 18 Jahren: 2001 holte die SPÖ dort ihre absolute Mehrheit zurück, seit 2010 regiert sie mit den Grünen. Durchaus zum Ingrimm der ÖVP, die scharf gegen Rot-Grün schießt – seit dem Machtwechsel im Bund noch deutlich dröhnender.
Ein wenig wiederholt sich damit die Geschichte aus der Ersten Republik: Auch damals war die Große Koalition geplatzt, im Bund übernahmen Christlichsoziale und Deutschnationale – und die Sozialdemokratie setzte ab 1919 in ihrer verbliebenen Hochburg Wien den Kontrapunkt zum Bund und das „Rote Wien“ um: Gemeindebauten, Reichensteuern, Sozial- und Bildungspolitik. Heuer begeht die Wiener SPÖ 100 Jahre „Rotes Wien“. ÖVP und FPÖ hingegen würden die rote Hochburg nur zu gern erstmals erobern und wittern bei den Wiener Wahlen, die planmäßig im Oktober 2020 stattfinden, ein historisches Fenster: Die ÖVP hofft, durch den Sebastian-Kurz-Effekt ihr Ergebnis der Wahl 2015 (kümmerliche 9,2 Prozent) zu verdoppeln, die FPÖ träumt davon, von ihrem 30-Prozent-Ergebnis nicht zu viel zu verlieren und liebäugelt damit, Vizekanzler Heinz-Christian Strache oder einen Promi-Quereinsteiger ins Rennen zu schicken. Mit den scharfen Attacken der Regierung auf Wien von Kanzler Kurz abwärts ist der Kampf um Wien quasi offiziell eröffnet.
Wiens SPÖ-Sozialstadtrat Peter Hacker profiliert sich derzeit als Sozialfighter, poltert sich quer durch TV-Sender, bildet mit der neuen Grünen-Chefin Birgit Hebein eine stabile rot-grüne Koalitionsachse und stellt sich gegen die Bundespolitik. Ob Wien politisch anders bleibt und 2020 die Polit-Insel-Stellung in Österreich hält? Bleiben Sie dran, die nächste Folge „Bund gegen Wien“ kommt bestimmt.
5. Zentrum der Raunzer und Grantler
Ein Prototyp des derben Wiener Schimpfers für jede Generation: Jene in den 1970er-Jahren Aufgewachsenen bekamen ihr Klischeebild eines Wieners vom drastisch-missmutigen „Mundl“ aus der TV-Serie „Ein echter Wiener geht nicht unter“ geliefert. Jene ab den 1990er-Jahren Politisierten von der wandelnden Wuchtelschleuder Michael Häupl, der stets zwischen herbem Schmäh und unverhohlenem Grant changierte. Derartige Kultfiguren prägten das Bild des übellaunigen Wiener Raunzers – vor allem in Westösterreich.
Nicht jedes Klischee muss falsch sein. „Nirgendwo in Österreich wird so viel und so vulgär geschimpft wie in Wien“, sagt die Germanistin Oksana Havryliv, die seit einem Stipendium in Wien vom lokalen Schimpfwortschatz begeistert ist und Studien darüber durchführt. Zu einem ähnlichen Befund kam Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer-Rosinak, die das „Wesen von Wien“ einzufangen versuchte. „Zwider“ und „schlecht gelaunt“ waren die am häufigsten genannten Zuschreibungen – von Wienern selbst, wohlgemerkt. Diese Studie ist 15 Jahre her, und Ehmayer-Rosinak glaubt, dass das Klischee mittlerweile überholt ist und etwa in Lokalen der biestige Kaffeehaus-Ober, der selten und höchstens gnadenhalber Bestellungen entgegennimmt, durch freundliches Personal ersetzt wurde.
Auch das Polit-Personal ist anders, der neue Wiener Bürgermeister erfüllt das Wien-Klischee nicht. Michael Ludwig gibt nicht wie Michael Häupl den polternden Wiener Fiaker – sondern eher den freundlichen Stadtvater. Herbe Beschimpfungen hat man von ihm noch nicht gehört. Pointierte Wuchteln allerdings auch nicht.