Galgenpest: Die Radikalisierung der Mitte
Die Welt stellt sich neuerdings dar wie ein kochender Behälter, aus dem giftige Dämpfe aufsteigen. Alle reden sich in Rage. Über die Flüchtlinge. Über den Terror. Über die Weltlage. Die Gesellschaft hat sich rasend schnell politisiert, wie zuletzt wohl nur in den 1930er-Jahren. Die traditionell unpolitische Mitte scheint sich in Luft aufzulösen.
Vor einem Jahr noch hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass Tausende Bürger durch deutsche Straßen ziehen und altertümlich anmutende Galgen mit sich führen. Wo der Kopf baumeln müsste, hängt ein Plakat: "Reserviert für Angela Merkel". Ein weiterer Galgen wird für SPD-Chef Sigmar Gabriel mitgeschleppt. Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes - kurz Pegida - nennt sich diese Bewegung. Sie spricht den distinguierten Herrn von nebenan ebenso an wie die Verkäuferin aus dem Supermarkt oder den Langzeitarbeitslosen. Auch Franz Böckelmann demonstriert mit, weil er nicht möchte, "dass sich Traditionen vermischen und keine Unterschiede mehr erkennbar sind. Die Leute spüren, dass sie sich unter der Fahne versammeln müssen."
Franz Böckelmann ist ein prominenter Alt-68er und Herausgeber der intellektuellen Vierteljahresschrift "Tumult". Der Wiener Philosoph Rudolf Burger schreibt in ihrer jüngsten Ausgabe über eine "Invasion aus muslimischen Ländern, wie sie Europa seit den Türkenkriegen nicht mehr erlebt" habe - "mit dem Unterschied freilich, dass diesmal von einem europäischen Widerstand keine Rede sein kann, im Gegenteil, jeder Eindämmungsversuch von Seiten der überrannten Staaten wird von den Medien und der sogenannten "Zivilgesellschaft", d. h. dem moralisch leicht erregbaren bildungsnahen Mittelstand, als unmenschlich verdammt." Auch Burger warnt vor den Muslimen: "Sie kommen alle aus einer islamisch verseuchten Kultur, deren ideologische Keime sie vermutlich mit sich tragen." Die Seuche, der Keim und der Generalverdacht. Kultiviertheit und ausgeprägte Intelligenz haben im Laufe der Geschichte noch nie jemanden daran gehindert, Ressentiments zu befördern, wenn sie erst einmal die Massen ergriffen haben. Das ist eine schmerzliche Erfahrung.
In Österreich ist die Tatlust nicht so stark ausgeprägt. Hier wird gern aus dem Hinterhalt agiert. Das gehört zum Nationalcharakter.
Europa befindet sich in Aufruhr. An die 900 Straftaten gegen Asylunterkünfte gab es in Deutschland in diesem Jahr. Wenige davon wurden aufgeklärt. Das überrascht nicht: Es waren nicht die amtsbekannten Neonazis mit einschlägigem Vorstrafenregister, sondern brave Wutbürger, die mit Holzknüppeln oder Stahlkugelgeschossen zu den Flüchtlingsheimen marschierten.
So viel zur Stimmung abseits der Willkommenskultur. In Österreich ist die Tatlust nicht so stark ausgeprägt. Hier wird gern aus dem Hinterhalt agiert. Das gehört zum Nationalcharakter. Man äußert sich lieber im Internet und weiß sich im Einklang mit der Mehrheit. "Gemma se daschlogn", hatte ein junger Kärntner gepostet, als er hörte, dass in einem Gasthof in seinem Ort Flüchtlinge hätten untergebracht werden sollen. Nun steht er vor Gericht, doch in seinem Dorf ist er ein heimlicher Held. Denn die Flüchtlinge kamen schließlich doch nicht.
Die Vernunft hat in solchen Zuständen weitgehend abgedankt. Das Irrationale ist auf dem Vormarsch, der Wandel in der Gesellschaft erfolgt ohne Plan, ohne Struktur, und die politischen Akteure sind ratlos.
"Sie beschwören ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entnehmen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen." Das Zitat stammt von Karl Marx und es ist heute genauso treffend wie im 19. Jahrhundert. Die Geister der Vergangenheit können freilich in kalten Terror münden. Die Ideologen des "Islamischen Staats" blenden Geschichte und Tradition des Islam aus - seine goldenen Zeiten wie seinen Niedergang - und katapultieren sich und ihre Anhängerschaft ins 1. Jahrtausend zurück.
Der historische Zivilisationsbruch in Europa war allerdings der Holocaust. Ihn hat die viel beschworene abendländische Kultur selbst zu verantworten. Und es mutet wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass jene, die dies leugnen und verharmlosen, dieselben sind, die am lautesten gegen die "Islamisierung des Abendlands" pöbeln.
"Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in erster Instanz davon abhängig, wie er vergisst", sagt Theodor W. Adorno. Ja, das Vergessen.
Hilft die Beschäftigung mit der Vergangenheit dabei, die komplizierte Gegenwart zu verstehen und neues Unrecht zu verhindern?
Jahrzehntelange Bemühungen um die Aufarbeitung der Vergangenheit haben eine seltsame Abspaltung bewirkt, ein rituelles Gedenken, ein praktisch bewusstloses Geschichtsbewusstsein.
Aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung 1945 beschäftigten sich im vergangenen Jahr einige Wiener Berufsschulen mit den NS-Kriegsverbrechen - mit dem paradoxen Ergebnis, dass eine neue Generation der Ermordeten des Holocaust gedenkt und sich zugleich in antisemitischen Verschwörungstheorien ergeht.
Rechts und Links sind an ihren Rändern kaum noch auseinanderzuhalten.
"Man weiß noch immer nicht, wer hinter IS steckt, die waren plötzlich da. Man weiß nicht, ob die USA dahintersteckt. Oder der Mossad. Um den Islam zu schwächen. Woher weiß man, dass es Muslime sind?", war da etwa zu hören.
Oder: "Alles, was auf der Welt passiert, wird von einer geheimen Gruppe entschieden. Das weiß doch jeder. Die Bilderberger. Oder Rothschild. Der ist auch bekannt. Dem gehört außer in fünf Ländern jede Nationalbank."
Ein neuartiges Gemisch rechter, altlinker und islamistischer Ideologien hat nicht nur die Köpfe der Jugend erfasst. Rechts und Links sind an ihren Rändern kaum noch auseinanderzuhalten. Gegen die USA ist fast schon jeder, gegen Kapitalismus und Finanzwirtschaft ebenso, nur dass die traditionellen Rechten noch zwischen schaffendem und raffendem (sprich: jüdischem) Kapital unterscheiden.
Nicht nur in der Flüchtlingsfrage geht ein Riss durch die Gesellschaft. Die tektonischen Veränderungen berühren auch die Institutionen und vor allem die sogenannte "Lügenpresse". Man glaubt keinem Kommentator, keiner Auslandskorrespondentin, keiner Expertin und keinem Wissenschafter. Schon gar nicht glaubt man den "Systempolitikern" (übrigens ein Begriff aus den Anfängen der Hitler-Bewegung). Man glaubt an geheime Mächte.
So hat noch jede totalitäre Bewegung ihren Anfang genommen: indem sie geeignete Elemente aus der erfahrbaren Realität aus dem Zusammenhang reißt, verallgemeinert und kampagnisiert. Am Ende wird damit eine Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt, die wirklichen Flüchtlinge niemals in Konkurrenz treten können.
Das Extreme kann nur existieren, wenn es Unterstützer im jeweiligen Milieu hat.
Ein Symptom totalitärer Bestrebungen ist es auch, von "Rassen" zu sprechen und von "Überfremdung"; das "Volk" als solches gelte es zu schützen. Bei öffentlichen Veranstaltungen tun sich Redner hervor, die behaupten, eine geheime Elite in Europa wolle die weiße durch die schwarze Rasse ersetzen. Vor ein paar Jahren noch konnte man so kranke Ideen allenfalls auf Neonazi-Seiten im Internet finden.
In Österreich brennen keine Asylheime, was gern als Beweis dafür herangezogen wird, dass die FPÖ, indem sie Kräfte von rechts außen bannt, den Radikalismus zivilisiere. Doch dem geistigen Barbarentum hat die FPÖ seit Jahren Vorschub geleistet. Die heutige Führung der FPÖ sprach immer wieder - vor allem in Wahlkämpfen - von "systematischer Umvolkung". In der jüngsten Ausgabe von "Zur Zeit", die der FPÖ-Abgeordnete Wendelin Mölzer herausgibt, werden Kinder in Wiener Kindergärten als "rassisch durchmischt" verhöhnt.
Heinz-Christian Strache sagte im Wiener Wahlkampf, er habe den Eindruck, die Amerikaner wollten Europa bewusst destabilisieren. Die Postings auf seiner Facebook-Site bieten eine wildes Sammelsurium aus antikapitalistischen, antisemitischen und rechten Verschwörungstheorien. Auf der Website der FPÖ-Parteiakademie wird ein Buch beworben, laut welchem Europa bald eine "Kolonie Afrikas" sein werde. Keine zwei, drei Klicks weiter landet man bei den "Ufologen" und der "Rothschild-Flüchtlingsindustrie." Seinen Anhängern versprach Strache ein "Ende der Fremdherrschaft". Nahezu ein Drittel der Wiener Wähler ließ sich davon überzeugen.
Das Extreme kann nur existieren, wenn es Unterstützer im jeweiligen Milieu hat. Diese Milieus sind heute in der Mitte der Gesellschaft zu suchen. Früher hätte man gesagt, das Radikale sei "salonfähig" geworden. Doch die Salons gibt es nicht mehr. Das Bürgertum hat abgedankt. Es hat keine Hegemonie mehr. Im Grunde hat keines der großen weltanschaulichen Lager mehr das Sagen. Und plötzlich glauben die Leute sogar Nostradamus lieber als einem Leitartikler. Und das ist die eigentliche Gefahr.