Zu wenige ganztägige Volksschulen: Eltern zittern um die Plätze
Verzweifelt. So beschreiben viele Eltern die Situation, wenn ihr Kind nicht in die Wunschschule gehen kann. In den Wiener Nachbarschaften – und in digitalen Vernetzungsgruppen – scheint seit einigen Wochen ein Thema die Gespräche zu dominieren: Die Zuteilung von Schüler:innen an Volksschulen für den Herbst. Ganztagsschulen sind besonders heiß begehrt.
Mit einem Platz an einem der 103 Standorten in Wien hätte auch eine Mutter gerechnet, die ihren Namen nicht öffentlich machen will. Dort ist die Nachmittagsbetreuung gratis und die Betreuung ab 15:45 Uhr fällt mit 100 Euro pro Semester vergleichsweise günstig aus. Allein, ihre Tochter wurde an eine halbtägige Volksschule zugewiesen. Sowohl sie als auch ihr Mann sind Vollzeit berufstätig: „Ich weiß nicht, wie ich meine Tochter um Zwölf von der Schule abholen soll.“
Das ist nur ein Beispiel von rund 2100 Wiener Familien, die ihren Wunschplatz heuer nicht bekommen haben. In anderen Bundesländern ist die Situation noch prekärer.
Das Problem der fehlenden Betreuungsplätze für Kleinkinder ist bekannt – doch auch in Volksschulen gibt es zu wenig Plätze, um dem Bedarf jener Eltern gerecht zu werden, die beide Vollzeit arbeiten wollen. Die Bundesregierung will mit einem Milliardenpaket mehr Krippen und Kindergärten eröffnen. Doch wer kümmert sich um die Schulen?
Angebot in Wien am höchsten
Derzeit werden Schüler:innen auf die Wiener Schulen aufgeteilt. In den Bundesländern gibt es Schulsprengel, in Wien die Schülerstromlenkung. Auch wenn es fallweise zu Frustrationen bei den Eltern kommt, finden die Wiener geradezu luxuriöse Verhältnisse vor: Während in der Bundeshauptstadt fast die Hälfte der Sechs- bis 14-Jährigen eine Ganztagsschule besuchen, sind es in Tirol bloß 16 Prozent. Diese Zahlen erfragten die Neos im Vorjahr bei ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek.
Ob eine Volksschule als Ganztagsschule geführt wird entscheiden die Schulerhalter (das sind meist die Gemeinden). In Salzburg gibt es aktuell keine einzige Ganztagsvolksschule, die erste startet im Herbst. In Tirol gehen etwa 5255 von 54.261 Kinder in eine Ganztagsvolksschule (Rund 10 Prozent). Das Land Tirol will Eltern unterstützen, indem sie Gemeinden fördern, die nicht mehr als 35 Euro pro Monat für die Tagesbetreuung einfordern.
In Kärnten ist man etwas besser aufgestellt: „Alle bekommen einen Platz, solange die infrastrukturellen und personellen Ressourcen es zulassen, was nach unseren Erfahrungen fast immer der Fall ist.“ Heuer rechnet die Landesregierung mit 10.400 Anmeldungen für Ganztagsvolksschulen. Man sei bestrebt, die Nachmittagsbetreuung „einheitlich kostenfrei zu stellen“.
Das sei jedoch aus heutiger Sicht „nicht zu finanzieren“, 10 Millionen Euro würde dem Land an Kosten anfallen. „Ohne Übernahme oder wesentliche Unterstützung seitens des Bund ist eine Kostenübernahme der Nachmittagsbetreuung seitens des Landes Kärnten nicht finanzierbar.“ Einen bundesweiten Ausbauplan gibt es nicht.
In Wien wurden heuer 15.750 Kinder für eine Nachmittagsbetreuung angemeldet, laut Bildungsdirektion wurde die Hälfte (7.875) einer Ganztagsvolksschule zugeteilt. 30 Prozent kommen in eine offene Volksschule. Dort werden Kinder am Nachmittag betreut, es findet aber kein Unterricht statt. 20 Prozent müssen einen Hortplatz beantragen, weil sie einer Halbtagesschule zugeordnet wurden. Dieser kostet etwas über 200 Euro im Monat.
Kritik an Intransparenz
„Ich würde bei der Platzvergabe so gerne hinter die Kulissen schauen“, schreibt eine Mutter auf Facebook. Auswahlkriterien sind die Wohnortnähe zur Schule und Geschwister an der Schule. Der Sinn dahinter: Eltern sollen möglichst wenige Wege machen müssen, wenn sie die Kinder vor der Arbeit in die Schule bringen.
Was für viele unverständlich ist: Der Schultyp ist kein Kriterium. So kann es dazu kommen, dass jene, die auf eine Ganztagsschule angewiesen wären, in eine Halbtagsschule kommen – umgekehrt kann ein Kind, das keine Nachmittagsbetreuung braucht, einem anderen den Platz wegnehmen.
Bei 21.000 Schüler:innen, die im Herbst in eine erste Klasse oder in die Vorschule kommen, ist es naheliegend, dass die Wiener Bildungsdirektion bei der Zuteilung priorisieren muss. „Wir setzen alles daran, dass die Wunschschulen zugewiesen werden können, was in 9 von 10 Fällen auch gelingt.“
Direktor:innen aus der Pflicht
Seit 2019 ist die Abteilung für Schülerstromlenkung, Infrastruktur und Tagesbetreuung für Schulplatzzuteilungen an Pflichtschulen zuständig. Früher entschieden die Schulleiter selbst, welche Kinder sie aufnehmen, ab heuer können sie nur noch einen Kommentar auf den Anmeldeformularen abgeben.
Seit vergangenem Jahr gibt es dem Vernehmen nach weniger Beschwerden aufgrund der Schulplatzzuteilung. Angie Weikmann hat die Initiative „Bessere Schule Jetzt“ mitorganisiert. Laut der Mutter sei das darauf zurückzuführen, dass die Schulklassen größer werden – Tendenz Richtung 30 Schülerinnen und Schüler. Vor dieser Entwicklung warnt sie, weil die Qualität der Bildung gleichzeitig abnehmen würde.
Nicolina Bösch ist Direktorin in der Kleinen Sperlgasse, einer Volksschule im Zweiten Wiener Gemeindebezirk. Die meisten ihrer Schüler:innen gehen in die Deutschförderung, in vielen Klassen sitzt kein einziges Kind mit Deutsch als Muttersprache. Die kürzlich zentralisierte Schülerlenkung sieht Bösch als Chance. „Kinder brauchen gleichaltrige Sprachvorbilder“ sagt sie und fordert: „Eine bessere Durchmischung sorgt für ein gerechteres Bildungssystem.“
Österreich ist eines der letzten Länder Europas mit einer Halbtagsschule. Für Expert:innen ist sie ein Auslaufmodell, auch, weil sie die Vereinbarkeit von Kind und Karriere massiv erschwert. Als Kompromiss für jene, die keinen Platz in einer Ganztagsschule ergattern konnten, sollten laut der Direktorin Bösch die Kosten für die Nachmittagsbetreuung im Hort fallen.
Michaela Judtmann ist froh, „keine schlechten Nachrichten mehr überbringen“ zu müssen. Judtmann ist Direktorin in der Köhlergasse 9 (18. Bezirk), einer begehrten Ganztagsschule. Zwar mussten dieses Jahr wieder Kinder abgewiesen werden, es seien ihr jedoch keine Ungereimtheiten aufgefallen. Über eine bessere Durchmischung würde sie sich freuen, allerdings hänge die Zuteilung von der Wohnortnähe ab: „Nur um Sprachcluster zu vermeiden, kann man Kindern keinen längeren Schulweg zumuten.“
Schulische Nachmittagsoffensive in Vorarlberg
Der Wunsch nach längeren Schulöffnungszeiten wird in Vorarlberg ab dem kommenden Schuljahr Realität. Allen 6- bis 10-jährigen soll eine Betreuung von 8 bis 16 Uhr garantiert werden. Ganz kostenlos wird dieses Modell allerdings nicht sein: Falls das Lehrpersonal fehlt, muss von der Gemeinde eine außerschulische Betreuung eingerichtet werden. Für die Freizeiteinheiten müssen die Eltern einen Beitrag leisten, der sich an ihr Einkommen („an der Leistungsfähigkeit durch soziale Staffelung“) orientiert.
Die Wiener Eltern, die auf einen Ganztagsplatz für ihre Tochter gehofft hatten, haben ihr Kind an der zugewiesenen Halbtagsschule angemeldet, dazu sind sie auch verpflichtet. Ansonsten riskieren sie, gar keinen Schulplatz mehr zu finden. Gehen Kinder ab dem vollendeten sechsten Lebensjahr nicht in die Schule, ist das eine Schulpflichtverletzung, die zu einer Verwaltungsstrafe führen kann. Allerdings hält ihnen die Bildungsdirektion noch eine kleine Karotte hin: Bis Ende März könne es noch zu Verschiebungen kommen.