Das neu renovierte Gartenbaukino
profil-Jahresausgabe

So etwas wie ein Weltgefühl: Geht die Ära des Kinos zu Ende?

Die Pandemie frisst das Kino. Wird es in zehn Jahren noch möglich sein, Filme zu erleben, die in dunklen Sälen auf weiße Leinwände projiziert werden?

Drucken

Schriftgröße

Die kleinen Bildschirme unserer Handys, Tablets und Laptops haben über den Big Screen triumphiert, haben das Kino verdrängt und ausgestochen. Das geschah, zugegeben, nicht erst 2021, aber Covid-19 hat diese Entwicklung merklich beschleunigt. Die elektronischen Bilderzentrifugen versüßten die Lockdowns, narkotisierten die Schwermütigen und vermittelten das Gefühl, die Kultur existiere unbehindert weiter, virenfrei, vollhygienisch, auf Knopfdruck und Abstand. Doch das mulmige Gefühl einer fundamentalen Disruption wurde manifest. Die bange Frage, ob die Pandemie die Kulturlandschaft verändern werde, stellt sich heute nicht mehr; es geht inzwischen nur noch um die Ungewissheit, wie sie dies tun wird.

Mit jeder neuen Virusvariante wuchs die Sehnsucht nach dem verlorenen alten Leben. Manohla Dargis, Filmkritikerin der "New York Times", berichtete unlängst davon, wie "herrlich" es gewesen sei, als sie im vergangenen Juli "einen der mittelmäßigsten Filme des Jahres" gesehen habe. Das Werk sei "schäbig, banal und nervig" gewesen, aber gegen ihre Dankbarkeit, nach mehr als 16 Monaten des Heim-Streamings ins Kino zurückkehren und gemeinsam mit anderen auf eine große Leinwand blicken zu können, hätten künstlerische Einwände nichts ausrichten können. Wie eine "Ausgehungerte" habe sie in den Wochen danach Filme "verschlungen", weil sie das Ausgehen, die Lichtstärke der Bilder und die Rituale des Kinogehens so sehr vermisst hatte.

Doch viele wollten in den Lücken, die der Lockdown-Modus ließ, offenbar nicht so schnell zurück ins öffentliche Leben, aus Angst vor Ansteckung, aus Überforderung oder infolge der Gewöhnung an die neu entdeckten Entertainment-Möglichkeiten zu Hause. Unter pandemischem Druck schienen sich auch die Kulturinteressierten plötzlich sehr viel genauer zu fragen, ob man denn unbedingt ausgehen müsse; ob das, was man verpassen würde, wirklich so unversäumbar war. Für James Bond wagte man sich ausnahmsweise doch aus dem Haus und ins Kino, so viel Aktion, Bewegung und Spektakel kann kein Computerschirm fassen, aber das meiste, was an Theater, Konzerten und Arthouse-Filmen zur Verfügung stand, wurde von weiten Teilen des Zielpublikums, das zeigen die Eintrittszahlen, offenbar für verzichtbar erachtet.

Hat man in Zeiten globaler Krisen weniger hohe Erwartungen an die Kultur? Das niederschwellige Unterhaltungsangebot der Streaming-Dienste verführt dazu, es unkritisch hinzunehmen: An die bewegten Bilder, die man sich über AppleTV, Disney+ und Netflix verschafft, stellt man kaum Ansprüche, schon weil sie kostengünstig sind und man für sie ja nicht extra das Haus verlassen musste. Warum sollte man sich, angesichts eines Online-Filmüberangebots, das Kinogehen überhaupt noch antun? Die Frage klingt berechtigt, die Antwort ein wenig kompliziert: Weil das Erlebnis, ein Werk, das nicht fürs Fernsehen entstanden ist, an dem Ort zu sehen, für den es gemacht wurde, daheim nicht zu haben ist. Schon das Ritual, ein Kino zu betreten, prägt die Filmerfahrung mit: Man dringt in ein Haus, ein Foyer, schließlich in einen Saal vor, um sich in Stille, Isolation und Dunkelheit auf etwas Einmaliges einzulassen.

Gute Kinos legen es daher auf einen Verlust des Raum- und Zeitempfindens an. Man spürt, während ein Film läuft, im Idealfall nicht mehr, wo genau man sitzt und sich befindet, nimmt Raumkonturen so wenig wahr wie ein-und austretende Menschen. Man kann sich selbst vergessen, mit geschärften Sinnen sehen und hören. Auch deshalb reagiert man gerade dort so allergisch auf Essensgerüche, Smartphone-Licht oder Konversationen, denn sie reißen einen aus der Kontemplation. Anders als im Theater geht es im Kino nicht um gesellschaftliche Wirkung, im Gegenteil: Man bleibt in der Öffentlichkeit anonym, ganz bei sich. Man empfängt etwas, gibt sich hin, liefert sich aus: von der Leinwand dringt, fast liturgisch, etwas auf einen ein, das man nicht kontrollieren kann. Man reist ins Innere, man "fährt" mit einem Film, der ein Spiel mit Zeit, Dauer und Rhythmus wagt, wie auf Schienen -die Form des fotografischen Filmstreifens erinnert auch daran -, und man macht in dieser imaginären Fahrtbewegung eine Erfahrung. Man träumt, wenn ein Film seine psychoaktive Wirkung entfaltet, in und mit ihm. Im Kino wird das Unbewusste auf eigene Weise aktiviert. Mit einer von der Couch aus betrachteten Episode der Thriller-Serie "Squid Game" wird das eher nicht gelingen.

Der zeitliche Rahmen, den das Kino vorgibt, vermittelt ein Gefühl des Außerordentlichen. Wer sich einst, bevor es das Fernsehen gab, mit Bewegtbildern befasste, tat es (notgedrungen) in der besonderen Zeit eines Kinobesuchs. Seit TV-Shows und Serien in den 1960er-Jahren unsere Aufmerksamkeit zu erringen begannen, haben die Bilder das Eminente verloren, sind zu einem Requisit des Alltags geworden.

Eine jäh gesetzte Großaufnahme im Kino kann schockieren, am Fernsehgerät ist sie bloß die Standardeinstellung. Walter Benjamin sprach 1935 vom "Dynamit der Zehntelsekunden", mit dem der Film die Gefängniswelt der Moderne mit ihren Fabriken, Büros, Mietzimmern und Bahnhöfen aufzusprengen vermochte, "so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen". Das Kino übt Macht aus; es beherrscht und lenkt die Wahrnehmung. Man setzt sich dieser Gewalt freiwillig aus. Das Kino ist aber auch eine Utopie, eine Assoziationsmaschine, die der Beschwörung einer kollektiven, sozial egalitären Energie dient. Auf der Leinwand werden die Zeichen, die Dinge und die Menschen bewegt, im Zuschauerraum das Denken und die Herzen.

Das Prinzip Kino ist alt. Es existiert nicht erst seit der Erfindung des Kinematografen durch die Lyoner Unternehmer Louis und Auguste Lumière um 1895. Die Laterna magica, ein Projektionsapparat, der mit Kerzenlicht und Hohlspiegel operierte, konnte schon im 17. Jahrhundert geisterhafte Bilder in verdunkelten Räumen stark vergrößert an die Wände oder in den Theaternebel werfen. Nun wird diese Kulturtechnik also wieder totgesagt. Der Abgesang begleitet das Kino seit je. In der Familie Lumière selbst attestierte man ihm keine kommerzielle Zukunft. Kein Publikum werde sich stundenlang auf das Kuriosum der bewegten Bilder konzentrieren können, dieses werde sich in wenigen Jahren totlaufen. Die Lumières hatten technisches Wissen, aber keine Fantasie.

Mit der Ankunft des Tonfilms Ende der 1920er-Jahre häuften sich erneut die Stimmen, dass es mit der Kinokunst nun wohl vorbei sei. Und noch vor dem Siegeszug der Television, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schon, fielen die Besucherzahlen rapide: In den USA gingen 1946 jede Woche 82 Millionen Menschen ins Kino. 1951 waren es nur noch 49 Millionen. Wie konnte es zu einem Rückgang von atemberaubenden 40 Prozent kommen? War es die Erfahrung des Krieges? Die Mühe des (familiären) Wiederaufbaus? Die bedrückende politische Instabilität? Waren es Kalter Krieg, Rassismus, Atomangst, Kommunistenjagd? In Großbritannien hatte sich der Kinoticketverkauf 1966 auf ein Siebentel des Werts von 1946 reduziert. Zwischen 1961 und 1972 sperrten in Westdeutschland 3500 Kinos zu, mehr als die Hälfte des Gesamtbestandes. Der entscheidende Grund für diesen Kahlschlag war, natürlich, das Fernsehen, das Filme in die Wohnzimmer der Menschen brachte. Es waren zwar nicht die Filme selbst, die man sah, bloß fahle elektronische Kopien davon, aber es war im Gegenzug sehr viel bequemer. Dann kamen Video, VHS und DVD, Internet und der digitale Umsturz. Das Filmmedium verwandelte sich, blendete in etwas anderes, viel leichter Verfügbares über.

Aber es gibt Enklaven des Widerstands gegen die Konsumbequemlichkeit. Der zentrale Saal des Österreichischen Filmmuseums, das von Peter Kubelka erdachte "Unsichtbare Kino", bietet 165 Menschen Platz: Der Raum ist schwarz, ohne Dekoration und eigenes Licht, nur die Leinwand strahlt. Es ist eine Maschine der Filmrezeption, ein Gegenentwurf zu den plüschig-luxuriösen Theaterpalästen, die das Kino in falscher Deutlichkeit stets an die Bühnenkunst rückbanden. Kubelka hatte sein "Invisible Cinema" 1970 in New York, in den Anthology Film Archives, erstmals realisiert, ehe er es, leicht modifiziert, 19 Jahre später in Wien durchsetzte. Ein anderer Exil-Österreicher, der Architekt Friedrich Kiesler, hatte schon 1929 in Manhattan das Film Guild Cinema konstruiert, ein schwarzes, radikal modernistisches Kino mit De-Stijl-Fassade, einem Saal ohne Theaterbühne, Vorhänge und Wandschmuck. Eine Art Kamerablende gab die Leinwand frei, die in dem Rund eines überdimensionierten Kunstauges lag. Kiesler legte es darauf an, "konzentrierte Aufmerksamkeit zu erzeugen und zugleich das Gefühl des Eingeschlossenseins zu unterbinden". Die Besucher sollten "in der Lage sein, sich in einem imaginären, endlosen Raum zu verlieren". Seine Vision eines durch eine Vielzahl an Projektoren an allen Wänden und sogar an der Decke simultan bespielten Kinos blieb indes Theorie.

Im Kino hat ein Film noch nicht die Anmutung einer Ware, er bleibt ungreifbar und -erreichbar, darf nur beschaut, nicht in Besitz genommen werden. Seine halluzinatorische Wirkung basiert auf einer regressiven Bewegung. Man kehrt ins Kino zurück wie an einen frühen, entscheidenden Punkt seines Lebens. Das Kino ist, nach Christian Metz, "eine Technik des Imaginären". Man "träumt" tatsächlich in der ewigen Nacht des Kinos, umhüllt von Dunkelheit und Ruhe. Man verlässt, wenn man ins Kino will, das Haus, lässt zugleich aber auch die Außenwelt hinter sich, die wie suspendiert vor dem Kinoportal auf unsere Rückkehr zu warten scheint; man taucht in eine doppelte Innenwelt ab: in den dunklen Zuschauerraum und die Binnenlogik jenes Films, den man gewählt hat. Während eines Streaming-Erlebnisses dagegen bleibt, auch wenn man sein Wohnzimmer verdunkelt und sich zu konzentrieren versucht, die Außenwelt dauerhaft präsent; man kann (und wird) telefonieren, sich bewegen, den Film anhalten und kommentieren. Erst auf dem Heimbildschirm werden Filme tatsächlich zu Konsumobjekten, mit denen der zahlende Kunde nach Belieben jongliert; sie widersetzen sich ihm nicht: Im Begriff des Streaming steckt schon der unaufhörliche Fluss, die mitreißende Strömung; wie anders als mit Binge Watching sollte man dieser Bilderübermacht begegnen?

Die meisten Menschen verbringen inzwischen wesentliche Teile des Tages mit dem Blick auf ihre transportablen Bildschirme, konsumieren Nachrichten, Zeitungsartikel, Instagram-und Facebook-Clips, Werbespots und Serien auf Mobiltelefon, Laptop oder iPad. Das Kino der Vergangenheit hat sich atomisiert, es wurde -Benjamin sah es voraus - in tausend Teile zerrissen, die mutiert in die Welt der Gegenwart geschleudert wurden, auf all die Bildschirme, die uns von den Theaterbühnen, aus den Schaufenstern, in den U-Bahn-Stationen, den Gaststuben, den Ausstellungsräumen und den Mobiltelefonen entgegenleuchten - als TikTok-Clips und Insta-Reels, als Vimeo-Teaser und YouTube-Bites: ein Hagel aus Wirklichkeitssplittern in Form von Mini-Comedies, News-Splitt und Meinungsgeröll, die eine kaum noch durchschaubare, in immer kleinere Interessensgemeinschaften ausdifferenzierte, ökologisch und politisch kollabierende Welt eben adäquater abzubilden verstehen als die großen Entwürfe des Kunstfilms von einst.

Aber die Zauber-und Wirkungsmacht des Kinos wird bleiben, denn sie zielt nicht auf Aktualität, sondern auf Erweiterung des Blicks und die Mobilisierung der Sinne. Der Schriftsteller Peter Handke beschreibt seine fundamental gewandelte Wahrnehmung nach einem aufwühlenden, die Sinne verwirrenden Kinobesuch so: "In einem stinknormalen, noch nicht spezialisierten Kino sah ich 1962 oder 1963 Michelangelo Antonionis ,La notte'. Nach dem Film stand ich im Zentrum von Graz an einer nächtlichen Straßenbahnhaltestelle und erlebte die steirische Stadt in eine Weltstadt verwandelt, monumental und zugleich duftig. Noch nie auch war die Nacht mir so wirklich erschienen, so elementar, und ich mir mit mir. Damals mit ,La notte' erlebte ich zum ersten Mal, weit über alle die Selbstgefühle hinaus, so etwas wie ein Weltgefühl."

 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.