Geisterstunde: Ghostwriting auch bei Maturanten immer beliebter
Viel Schlaf bekommt Katharina im Jänner nicht. Sie bunkert sich tagelang in ihrer Wohnung im 3. Wiener Gemeindebezirk ein. Im Extremfall macht sie mehrere Nächte durch, recherchiert und schreibt ohne Pause auf ihrem Laptop. Die Endzwanzigerin, die ihren Nachnamen geheim halten will, ist Ghostwriterin, spezialisiert auf Bachelorarbeiten. Wenn zu Jahresbeginn die Abgabetermine näher rücken, läutet Katharinas Handy besonders oft. "Die meisten, die zu mir kommen, rechtfertigen sich dafür - wobei mir die Gründe komplett egal sind“, erzählt die junge Frau über ihre Klienten: "Die sind so verzweifelt, dass sie nebenher noch einen Psychiater bräuchten.“
Oft bleibt ihr nicht mehr als eine Woche, um eine komplette Arbeit zu verfassen. Diese "Expresshilfe“, wie Katharina sie nennt, klappt nur, weil sie einen Bekannten hat, der in einer Bibliothek arbeitet und in der Mittagspause Buchseiten für sie kopiert.
Ghostwriting ist zwar anstrengend, aber lukrativ. Je nach Aufwand und Zeitrahmen verrechnet die studierte Medizinerin zwischen 1500 und 2500 Euro für eine Bachelorarbeit. Eine Master-Thesis kostet zumindest das Doppelte. In guten Monaten verdient Katharina 4000 Euro - netto.
Es ist mir egal, ob der Chirurg, der mir morgen meinen Blinddarm rausschneidet, seine Diplomarbeit selbst geschrieben hat. Das sagt relativ wenig darüber aus, ob jemand seinen Job gut macht
BWL, Psychologie, Politikwissenschaft, Jus: Das Thema spielt keine Rolle, Katharina schreibt über alles. Ein Dutzend Abschlussarbeiten schafft sie pro Jahr, insgesamt hat sie knapp 50 Studenten zu einem akademischen Titel verholfen. Groß werben muss sie für ihre Dienste nicht, ein Inserat auf der Plattform willhaben.at genügt: "Ghostwriting von der Idee bis zur Conclusio - 100 % sicher und diskret!“ Die meisten Kunden finden ohnehin über Empfehlungen zu ihr.
Wie kann sie den akademischen Schwindel moralisch rechtfertigen? "Es ist mir egal, ob der Chirurg, der mir morgen meinen Blinddarm rausschneidet, seine Diplomarbeit selbst geschrieben hat. Das sagt relativ wenig darüber aus, ob jemand seinen Job gut macht“, meint Katharina.
Katharinas Geschäftsmodell ist völlig legal; sie darf wissenschaftliche Arbeiten schreiben, anbieten und verkaufen. Nur die Studenten, die bezahlte Fremdarbeiten als Eigenleistung an der Uni einreichen, machen sich strafbar. Sie riskieren Studiensperren und die Aberkennung ihrer Titel. Doch ist der Betrug gut getarnt, kommen die Universitäten nicht dahinter - weshalb der Markt floriert. Wer über das nötige Geld verfügt, kann sich sein gesamtes Studium erschleichen; von Hausübungen über Powerpointpräsentationen und Seminararbeiten bis zu Dissertationen reicht die Palette. In den vergangenen Jahren ist eine veritable Branche entstanden. Wissenschafter schreiben wie Fließbandarbeiter für Großagenturen, Exlehrer bieten im Netz ihre Dienste an, und sogar Minderjährige kaufen schon bei Ghostwritern ein. Seit im Rahmen der Matura eine vorwissenschaftliche Arbeit (kurz: VWA) verlangt wird, hat der Handel mit akademischen Texten auch die Schulen erfasst.
Die vorwissenschaftlichen Arbeiten sind ein vollkommener Blödsinn. Es bringt nichts, dass man Schüler dazu zwingt, sich pseudowissenschaftlich zu betätigen. Das lenkt sie nur vom Lernen ab
"Die vorwissenschaftlichen Arbeiten sind ein vollkommener Blödsinn. Es bringt nichts, dass man Schüler dazu zwingt, sich pseudowissenschaftlich zu betätigen. Das lenkt sie nur vom Lernen ab“, sagt Anna Derndorfer, die fünfeinhalb Jahre an einem Gymnasium unterrichtete. Seit gut einem Jahr führt Derndorfer eine Schreibagentur in Linz. Neben Coachings bietet sie auch Ghostwriting an - und hilft Schülern bei deren VWA, die etwa 40.000 Zeichen umfassen muss. Zehn VWAs pro Woche bearbeitet Derndorfer; die Nachfrage ist so groß, dass sie viele Interessenten abwimmeln muss. "Bei mir melden sich Schüler, aber auch Eltern, die ihren Kindern nicht helfen können“, erzählt die Schreibtrainerin. Sie ist dann mit unvollständigen Arbeiten konfrontiert, die sie mit den Schülern fertigstellt und in eine wissenschaftliche Form bringt. Nach ihrer Beobachtung bemühen sich die Schüler zwar, "schaffen das aber einfach nicht und wenden sich an mich“.
Auch Katharina, die Wiener Ghostwriterin, berichtet von steigender Nachfrage nach vorwissenschaftlichen Arbeiten. Die Hälfte ihrer Kunden hat Arbeiten abgegeben, die der Lehrer negativ beurteilen würde - in der Nachfrist melden sich die Schüler bei Katharina, die versucht, die Arbeiten zu retten. "Die Universitätsprofessoren sind meistens sehr angenehm. Sie sagen konkret, was sie anders haben wollen. Lehrer haben die Angewohnheit, die Arbeit einfach zurückzuschmeißen und zu sagen: ‚Überarbeite das!‘ Da weiß ich nicht, was von mir erwartet wird.“
Aktuell betreut Katharina eine 17-jährige Schülerin, für die sie die VWA bis zum Sommer fertigstellt. Die Schülerin geht samstags arbeiten, um das Papier zu finanzieren, das gut 600 Euro kosten wird. Sie will den Betrag in Raten abstottern.
Katharina und Anna Derndorfer sind keine Ausnahmen: Wer auf Portalen für Kleinanzeigen wie flohmarkt.at nach Ghostwritern für vorwissenschaftliche Arbeiten sucht, findet gut 70 Anbieter - etwa eine "Doppelakademikerin“ oder einen "ehemaligen AHS-Lehrer“.
Neben privaten Schreibdienstleistern haben sich längst spezialisierte Ghostwriting-Agenturen mit Millionenumsätzen etabliert: Thomas Nemet, der Chef von Acad Write, einem der größten Ghostwriting-Anbieter im deutschsprachigen Raum, will keine Interviews geben. Auf die Frage von profil, ob seine Agentur auch im Geschäft mit VWAs für Schüler aktiv sei, antwortet Nemet dann doch: "Es gibt keine Nachfrage in diesem Bereich.“
Doch bei einem Testanruf zeigt sich eine Mitarbeiterin von Acad Write bestens mit VWAs vertraut: "Wie alt sind Sie denn?“, fragt sie zuerst, um die Geschäftsfähigkeit des vermeintlichen Kunden abzuklären. Es gebe "viele Anfragen“, berichtet sie dann: Sie selbst habe schon ein paar Mal damit zu tun gehabt; die Lieferung von VWAs sei für das Unternehmen "kein Problem“. Sogar einen groben Richtpreis nennt sie: 520 bis 600 Euro.
Mit diesen Fakten konfrontiert, beschwichtigt das Bildungsministerium: "Es gibt keine Evidenz, dass Arbeiten mittels Ghostwriting verfasst werden oder vollständig plagiiert werden.“ Und: Adaptierungen beim VWA-Modell seien "derzeit nicht vorgesehen“.
Ich bin für ein Verbot solcher Anbieter. Es ist doch eine eigenartige Handhabung, dass Ghostwriting erst zur strafbaren Handlung wird, wenn die Arbeit eingereicht wird
Wie groß der Markt tatsächlich ist, lässt sich nur erahnen - anhand der vielen Angebote und der Umsatzzahlen von Unternehmen wie Acad Write. Eindeutige Beweise dafür, dass Schüler oder Studenten getrickst hätten, gibt es in Österreich freilich keine. Doch das belegt nur, dass sowohl Schulen als auch Unis nicht in der Lage sind, die Fremdarbeiten zu identifizieren. Denn die Ghostwriting-Anbieter überlassen nichts dem Zufall: Ein ehemaliger freier Mitarbeiter von Acad Write, er will anonym bleiben, erzählt profil, wie diskret die Geschäfte ablaufen. Sobald ein Kunde eine wissenschaftliche Arbeit anfordert, sucht ein Agenturmitarbeiter den passenden freien Autor. In einer anonymisierten Dreier-Telefonschaltung zwischen Agentur, Auftraggeber und Autor werden die Eckdaten der Arbeit besprochen - auch Teillieferungen und Feedbackrunden sind möglich. Weder der Auftraggeber noch der Autor erfährt die Identität des anderen. Und bevor die fertige Arbeit ausgeliefert wird, prüft die Agentur die Ware mittels Plagiatssoftware. Um sich rechtlich abzusichern, verkaufen die Ghostwriting-Anbieter lediglich Entwürfe - was der Käufer damit tut, ist seine Sache, argumentieren sie.
"Ich bin für ein Verbot solcher Anbieter. Es ist doch eine eigenartige Handhabung, dass Ghostwriting erst zur strafbaren Handlung wird, wenn die Arbeit eingereicht wird“, argumentiert Oliver Vitouch, Präsident der Universitätenkonferenz. Er beobachtet eine "zunehmend aggressive Werbung“ von Ghostwritern in Österreich.
Der Unirektor aus Klagenfurt wird in den kommenden Tagen einen Brief an Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner aufsetzen, um für das Verbot zu lobbyieren. Denn: "Gelegenheit macht Diebe.“