Generation Widerstand: Der Heldenmut der Ukrainer
Schon damals, in den Februartagen 2014, ist sich der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow in Kiew wie im Dreh eines Endzeitfilms vorgekommen. Noch war nichts zerstört, keine Sirenen heulten, doch auf den Straßen der ukrainischen Hauptstadt stand alle 500 Meter ein Pulk von Männern, die angespannt in jedes der an ihnen vorbeifahrenden Autos stierten, riesige Holzknüppel in den Händen. So skizzierte der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkot und Präsident des PEN-Clubs die Stimmung nach mehreren Wochen des Euromaidan. Seine täglichen Notizen aus jenen Wochen sind unter dem Titel „Ukrainisches Tagebuch“ auf Deutsch erschienen.
Unmittelbar nach Verbreitung der Nachricht, dass der amtierende prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch sich weigere, den geplanten Assoziierungsvertrag mit der EU zu unterzeichnen, waren im November 2013 Hunderte, bald Tausende Menschen am Maidan zusammengeströmt. Mit Aufrufen auf Facebook entstand eine machtvolle, teils gewalttätige Belagerung des zentralen Platzes in der Innenstadt von Kiew, dem Maidan.
Anfangs bestimmten Europafahnen das Bild, später die ukrainischen Nationalfarben; der „Rechte Sektor“ gewann an Einfluss, vor allem wegen seiner Organisations- und Schlagkraft. Einige ukrainische Oligarchen zogen ihre finanzielle Unterstützung des Regimes zurück und wechselten auf die Seite des Widerstands – unter anderem der spätere Präsident Petro Poroschenko.
Am Ende gaben die vielen den Ausschlag: Menschen, die einander beistanden, Schlafsäcke, Essen, Tee und mobile Ladegeräte zum Maidan brachten, für Aktivisten ihre Wohnungen öffneten zum Duschen und Schlafen. Im Nachhinein erscheint das wie eine Generalprobe für den Ernstfall. Es ging gegen die eigene Regierung und deren brutale Sondereinheit Berkut, die mit Scharfschützen in die Menge schoss. Aber schon damals ging es um Europa.
Es gab Tote – die „himmlischen Hundert“ werden sie genannt. Aberhundert Demonstranten wurden verletzt, Dutzende als vermisst gemeldet, Leichen von Männern und Frauen, zum Teil mit Spuren von Folter, in den Wäldern rund um Kiew gefunden.
Der Maidan hatte Erfolg. Einen Moment lang konnten sich die Beteiligten wie Subjekte der Geschichte fühlen. Der amtierende Präsident Janukowytsch war nach Russland geflüchtet. Eine Übergangsregierung wurde eingesetzt, Neuwahlen ausgeschrieben. Bei einer Hausdurchsuchung des abgesetzten Energieministers stießen Ermittler auf 42 Kilo Gold und mehrere Millionen Dollar an Bargeld. Aktivisten des Maidan beobachteten rund um die Uhr die Website „Flightradar“. Sie sahen, wie Dutzende ukrainische Privatjets auf Wien und weiter westwärts Kurs nahmen und verständigten die westlichen Behörden. Flüchtende Oligarchen.
Der Maidan hatte gesiegt, aber nicht gewonnen. Der russische Präsident Wladimir Putin kaperte vorerst die Halbinsel Krim, ließ sie von russischen Kämpfern ohne Hoheitsabzeichen besetzen, zog russische Verbände an der ukrainischen Ostgrenze zusammen und begann einen jahrelangen Zermürbungskrieg. Europa reagierte träge und langsam, „als ob die Nachrichten mit einem reitenden Boten übermittelt würden“, so Kurkow.
Es war nicht das, was sie wollten. Schon die Orange Revolution von 2004 war ein Pyrrhussieg gewesen. Nach unverhohlenem Wahlbetrug – in einigen Bezirken gab es mehr Stimmen als Wahlberechtigte – wurde neu ausgezählt. Janukowytsch gestand seine Niederlage ein, kam jedoch wieder, und mit ihm die Blockadepolitik gegenüber Europa, die den Maidan ausgelöst hatte. Heute lebt Janukowytsch in Russland. Die BBC schätzte 2018 den Diebstahl am ukrainischen Volk durch Janukowytsch und Freunde auf 40 Milliarden Dollar. Seine Villa nördlich von Kiew ist nach Berichten ukrainischer Flüchtlinge wie durch ein Wunder völlig intakt geblieben.
„Das menschliche Leben hat einen Wert, den einzig wesentlichen. Und mit dieser „Währung“, mit menschlichem Leben, hat die Ukraine ihren wiederholten Versuch bezahlt, sich von Grund auf zu erneuern, sich von Amoralität und Korruption zu reinigen“, so Kurkow in seinem „Maidan-Tagebuch“.
Um den Erfahrungshintergrund dieser Generation zu begreifen, die sich heute so entschlossen dem Aggressor entgegenstellt, liest man am besten ukrainische Autoren.
Es ist jene Generation, der auch Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seinen 42 Jahren und mittlerweile ein Gutteil der politischen Elite angehört.
Als Kleinkinder hatten sie den Sowjetkommunismus in seinen letzten Zuckungen erlebt. Ihre Eltern waren oft aus Karrieregründen in die KPdSU eingetreten, doch tüchtig genug, um nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in ihren Berufen oder neu aufgebauten Unternehmen zu bestehen. An der Schwelle zum Erwachsenwerden ging diese Jugend auf die Straße, schwenkte Europafahnen – und wurde maßlos enttäuscht. Sie mussten mitansehen, wie eine korrupte Clique die andere ablöste, Oligarchen zeitweise Allianzen eingingen, dann wieder gegeneinander intrigierten. Korruption im Alltag bedeutet, dass jede staatliche Dienstleistung, jeder Abschluss, jeder Job und jedes Gerichtsurteil mit Schmiergeld verbunden war. Selenskyj hat aus diesen Erfahrungen gemeinsam mit der Drehbuchautorin Olena Kijaschko, die heute seine Frau ist, eine Serie produziert, in der er selbst mitspielt. Sie heißt „Diener des Volkes“ und war die erfolgreichste Comedy, die jemals im ukrainischen Fernsehen gezeigt wurde.
„Eine Schubumkehr ist nicht vorstellbar.“
Je tiefer man in der Geschichte des Landes und seinen kollektiven Erfahrungen gräbt, desto verständlicher wird die Haltung des Widerstands. Die Bewohner des heutigen Staatsgebiets der Ukraine waren in den vergangenen 200 Jahren wechselnden Nationen und Eliten unterworfen, mehrheitlich arme Bauern, die sich in verzweifelten, oft blutigen Aufständen wehrten, nur um neue Herrscher zu bekommen. In Sowjetzeiten starben sie millionenfach den Hungertod, weil man ihnen Ernte und Saat wegnahm. Und viele kämpften ein Jahrzehnt in den Reihen der SS und ermordeten jüdische Frauen, Kinder und Rotarmisten. Der historische ukrainische Nationalismus war antisemitisch und antibolschewistisch.
Die eigentliche ukrainische Identität entstand in der Existenz des Dazwischen. Der Schriftsteller Mykola Rjabtschuk beschreibt in seinem Essayband „Die reale und die imaginierte Ukraine“ den schizophrenen Zustand der postkommunistischen Gesellschaft: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Selbstständigwerden als Staat gab es keinen Konsens über lebenswichtige Fragen. Rjabtschuk belegt das mit Meinungsumfragen. So waren in den späten 1990er-Jahren 13 Prozent der Ukrainer für den kapitalistischen Weg, 20 Prozent für den Sozialismus, 25 Prozent weder noch, 22 Prozent konnten sich nicht festlegen, 18 Prozent fanden sowohl das eine als auch das andere akzeptabel, wenn dadurch ein Konflikt vermieden werden könne. Noch Mitte der 2000er-Jahre sah ein Viertel der Ukrainer Russland als Hauptfeind, ein weiteres Viertel sah darin den wichtigsten Verbündeten, und die Hälfte hatte keine Meinung.
Heute ist das anders. Korruption, Machtmissbrauch und Russlands Politik, in die Entscheidungen der Ukraine hineinzupfuschen, werden in ihrer Ablehnung in eins gesetzt.
Die Enttäuschung nach dem Maidan, der schwelende Krieg in der Ostukraine, und nun der große Angriffskrieg sind genug. Zur Generation Widerstand zählen eine neue Politikerschicht, investigative Journalisten, Unternehmer und Zivilgesellschaft. „Eine Schubumkehr ist nicht vorstellbar“, sagt die Historikerin und Osteuropa-Expertin Ingrid Gössinger im history-podcast. –„Unser Vektor ist Europa“, hört man überall.
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