Genosse ohne Bosse: Wieviel Sozi steckt in Christian Kern?
Georg Kapsch ist ein Mann mit Manieren: "Es steht mir nicht zu, den Bundeskanzler zu bewerten", sagte der Unternehmer am "Tag der Industrie" Donnerstag vergangener Woche. Weil Kapsch aber auch Präsident der Industriellenvereinigung ist, kombinierte er seine Zurückhaltung mit einem großen "Aber": Österreich würde sich blamieren, wenn es als einziges EU-Land dem EU-Kanada-Freihandelsabkommen CETA nicht zustimmt. Es sei "absurd", zu behaupten, das Land würde sich zu Tode sparen; und eine "abstruse Vorstellung", öffentliche Investitionen mit neuen Schulden finanzieren zu wollen. "Retroideen","Konzeptlosigkeit","Populismus" - auf die Politik war Georg Kapsch an diesem Tag nicht gut zu sprechen. Und auch wenn er sich um Äquidistanz bemühte, war doch klar, gegen welchen Politiker sich die Attacken vor allem richteten: den Bundeskanzler.
Vier Monate im Amt reichten, um Christian Kerns Image in der Wirtschaft nachhaltig zu beschädigen. Dass der neue Kanzler Wertschöpfungsabgaben, Umverteilung und "Mehr Staat, weniger privat" propagiert, erwischte die Arbeitgeber am falschen Fuß. Zur Überraschung vieler Manager und Unternehmer entpuppte sich der vermeintliche Genosse der Bosse als: Sozialdemokrat. Als solcher mutierte Kern vom Hoffnungsträger zum Buhmann der Wirtschaft. Zu Recht?
Es gibt in keinem anderen Land einen derart professionell organisierten Rechtpopulismus wie in Österreich. (Christian Kern)
Kern selbst antwortet darauf, wenig überraschend: Zu Unrecht. Und: "Wann immer ich eine Idee äußere und meine Nase wo herausstecke, kommt jemand aus der ÖVP und haut drauf. Die ÖVP ist sehr gut im Kritisieren anderer und weniger gut darin, eigene Vorschläge zu präsentieren. Wir werden in den kommenden Wochen sehen, ob wir gemeinsam zu Lösungen und Maßnahmen kommen. Oder nicht." Optimismus klingt anders, Euphorie sowieso. Dabei hatte es zunächst wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ausgesehen. Nach den bleiernen Jahren unter Kanzler Werner Faymann hatte die Wirtschaft Hoffnung in dessen Nachfolger gesetzt. Vor allem die Industrie: Schließlich saß Kern als ÖBB-Generaldirektor im Vorstand der Industriellenvereinigung. In deren Hauptquartier am Wiener Schwarzenbergplatz herrschte vorauseilende Begeisterung. Dass der neue Regierungschef schon bald alte rote Schlager spielte, wurde von den Arbeitgebern als reine Rhetorik abgetan. Die Überlegung dahinter: Um den linken Parteiflügel der SPÖ zu sedieren, müsse Kern bis zum Parteitag ein wenig Klassenkampf simulieren. Ein Irrtum: Auch nach dem Parteitag am 25. Mai -Kern wurde mit 97 Prozent zum SPÖ-Vorsitzenden gewählt -blieb er auf Linkskurs.
Der Bundeskanzler sei ein "eine Art Mini-Marx" stänkerte Anfang September der Generalsekretär des ÖVP-Wirtschaftsbunds Peter Haubner. Aber auch Kerns Parteifreund, der Industrielle und frühere Finanzminister Hannes Androsch, warf dem Kanzler vor, Österreich mit seinem CETA-Kurs zu isolieren. Aus Kreisen der Industrie werden teils heftige Auseinandersetzungen mit Kern kolportiert. Ist Kerns Widerstand gegen CETA wirtschaftsfeindlich oder schlicht populistisch? Als Antwort auf diese Frage holt Kern im profil-Gespräch weit aus: "Es gibt in keinem anderen Land einen derart professionell organisierten Rechtpopulismus wie in Österreich. Angesichts dessen können wir nicht so weitermachen wie bisher, nach dem staatsmännisch-vernünftigen Modell à la Henry Kissinger, in aller Ruhe hinter verschlossenen Türen über CETA zu verhandeln. Das verstärkt bei den Menschen das Gefühl, dass hier Elitenpolitik gemacht wird. Mainstream-Schwurbelrhetorik wird nicht helfen, es braucht eine Strategie der Klarheit. Hunderte Gemeinden sind gegen CETA, eine klare Bevölkerungsmehrheit auch. Diesen Widerstand muss man ernst nehmen. Wir werden bis zum Schluss für Verbesserungen eintreten. Und ich bin überzeugt, dass wir sie durchsetzen können."
Die Industrie und Freihandels-Fans kann das nur bedingt beruhigen. Als einer der einflussreichsten Skeptiker gilt Wolfgang Eder. Der Vorstandsvorsitzende der Voest Alpine nahm Montag vergangener Woche an einem Treffen von Spitzenmanagern österreichischer Leitbetriebe mit Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner und Kern teil. In diesem Gespräch sollen Eder und IV-Präsident Kapsch den Kanzler -vor allem in Zusammenhang mit CETA - mit Nachdruck um mehr marktwirtschaftliche Gesinnung gebeten haben.
Ankündigungen wie die Vereinfachung der Gewerbeordnung wirken positiv, Wörter wie Maschinensteuer hingegen wie Gift. (Christian Helmenstein)
Beliebtestes Gesellschaftsspiel unter Österreichs Wirtschaftselite ist derzeit die Christian-Kern-Exegese. Die zentralen Fragen: Wie links ist er eigentlich, der neue Bundeskanzler? Und was ist von seinem angekündigten "New Deal" zu erwarten?
Kern selbst reagiert auf die anschwellenden Vorwürfe recht ungehalten: "Mich frappieren diese Links-links-Attacken insofern, weil sie so oberflächlich sind. Die international vernetzte Wirtschaft funktioniert derart komplex, dass wir mit holzschnittartigen Antworten und Rezepten aus der Vergangenheit nicht weiterkommen. Plattitüden wie mehr privat, weniger Staat machen genauso wenig Sinn wie der alte Kalauer Staatsmonopolkapitalismus. Wenn ich eine Überschrift für den geplanten , New Deal' wählen müsste, dann würde sie ,Whatever Works' lauten. Wir brauchen Beschäftigung und Wachstum. Was immer dazu führt, ist mir recht."
In der Tat lesen sich die wenigen wirtschaftspolitischen Beschlüsse, die unter Kerns viermonatiger Kanzlerschaft fielen, eher nach der Bilanz eines Industrieverstehers als nach jener eines linkslinken Feuerkopfs: Die Bankenabgabe wurde abgeschafft, ein langjähriges Herzensanliegen von Banken-und Wirtschaftsvertretern. Auch das Paket zur Förderung von Start-ups fand sich ganz oben auf der Wunschliste von ÖVP-Politikern wie Staatssekretär Harald Mahrer, zum traditionellen Forderungskatalog von Gewerkschaftern zählte es eher nicht. Nicht ohne Grund finden diese Maßnahmen den Gefallen von Christian Helmenstein, dem Chefökonomen der Industriellenvereinigung: "Erste Schritte in die richtige Richtung sind erfolgt." Allerdings habe der Wirtschaftsstandort Österreich im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Attraktivität verloren. Nun befinde er sich in einer Stabilisierungsphase und mache Ränge gut. Das sei Chance und Risiko zugleich, analysiert Helmenstein: "In zwei Monaten stehen wir am Scheideweg, wie der Standort wahrgenommen wird. Und diese Wahrnehmung ist ein Hauptgrund, ob investiert wird oder nicht. Wenn die Regierung glaubwürdige Schritte setzt, kann sie die Haltung von Investoren gegenüber Österreich drehen." In beide Richtungen allerdings: "Ankündigungen wie die Vereinfachung der Gewerbeordnung wirken positiv, Wörter wie Maschinensteuer hingegen wie Gift."
Über eine stärkere Steuerfinanzierung des Sozialstaates kann man natürlich nachdenken. (Konrad Pesendorfer)
Dass in Kern tatsächlich mehr Sozialismus drinsteckt, als bisher angenommen, gilt vor allem in ÖVP-nahen Kreisen als gesicherte Erkenntnis. Zumal der SPÖ-Vorsitzende auch kaum einen öffentlichen Auftritt auslässt, um seine Positionen zu bekräftigen, wie zuletzt beim vorwöchigen Festakt zum 70-jährigen Bestehen des Verbands Gemeinnütziger Bauvereinigungen in der Aula der Wissenschaften in der Wiener Innenstadt. Während andere Redner über Wohnbauoffensiven, Wohnbauförderungen und Wohnungsfehlbestand referierten, holte Kern weit aus und sprach erneut über Umverteilung und sozialen Ausgleich. "An den Früchten der Wohlstandsmehrung", so Kern, müssten alle teilhaben. Das sei kein "linkes Sektierertum", sondern auch Linie von Barack Obama. Bei einer "Kurier"- Veranstaltung vor wenigen Wochen hatte der Kanzler sogar noch höhere Mächte in den Zeugenstand gerufen: "Wenn ich links bin, was ist denn dann Papst Franziskus?"
Oder anders gefragt: Warum verblüfft es die Wirtschaft eigentlich, dass ein Sozialdemokrat sozialdemokratische Politik macht?
Dass sich ein SPÖ-Vorsitzender für eine Maschinensteuer starkmacht, kann für niemanden eine große Sensation sein. Sie gehört seit einem Jahrzehnt zum fixen Inventar roter Parteitagsreden.
Das eigentlich Überraschende ist, dass einem gewieften Kommunikator wie Kern kein modernschmucker Name für den alten Kampfbegriff eingefallen ist. Er hieß schon "Robotersteuer","Wertschöpfungsabgabe", "Automatisierungsdividende". Seit den 1970er-Jahren geistert, unter wechselndem Namen, die Idee herum, nicht nur den Faktor Arbeit, sondern auch den Faktor Kapital zu besteuern. Für Konrad Pesendorfer, den Generaldirektor der Statistik Austria, ist es unverständlich, warum über eine Wertschöpfungsabgabe nicht fundiert diskutiert wird: "Über eine stärkere Steuerfinanzierung des Sozialstaates kann man natürlich nachdenken." Bis auf einen kleinen Versuch in Italien hat noch kein Staat eine derartige Steuer eingeführt, zuletzt schwoll aber die Diskussion darüber an: Das britische, französische und deutsche Parlament beschäftigten sich in Anhörungen damit, im Europaparlament steht das Thema ebenfalls auf der Agenda. International ist der Fansektor einer Wertschöpfungsabgabe nicht ausschließlich mit linkslinken Kapitalismuskritikern besetzt, ebenso wenig in ruhigeren Zeiten in Österreich.
Der ökonomische Diskurs ist in Österreich, höflich formuliert, unterentwickelt.
Selbst in der ÖVP wurden immer wieder Überlegungen dazu gewälzt. Kein Wunder, ist Arbeit hierzulande doch besonders hoch besteuert. Der damalige ÖVP-Obmann Wilhelm Molterer liebäugelte 2007 mit einer Wertschöpfungsabgabe. Michael Spindelegger konnte sich ebenfalls "vorstellen, Unternehmen stärker nach ihrer Wertschöpfung einzustufen". In Josef Prölls ÖVP-Perspektivengruppe wurden ebenfalls Ideen diskutiert, die Steuerlast zu verlagern, allerdings wieder verworfen. Sehr zum Ärger von Erich Lingenhöle. Der Vorarlberger Unternehmer, dessen Maschinenfabrik 90 Mitarbeiter beschäftigt, plädiert seit Jahren für eine Wertschöpfungsabgabe, weil "die Lohnkosten einfach zu hoch sind". Am allermeisten ärgert Lingenhöle, selbst Wirtschaftskammer-Funktionär, aber etwas anderes: "Warum darf man darüber nicht einmal diskutieren?"
Damit berührt Lingenhöle einen interessanten Punkt: Der ökonomische Diskurs ist in Österreich, höflich formuliert, unterentwickelt. Die Wirtschaftsforschungsinstitute sind Finanziers und Auftraggebern verpflichtet, von den Universitäten ist selten eine Wortmeldung zu aktuellen Wirtschaftsdiskussionen zu vermelden. Auch deshalb endet manche Debatte in politischem Hickhack, bevor sie überhaupt begonnen hat. Als Kern vor zwei Wochen in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" eine Abkehr vom EU-Sparkurs forderte, bezeichnete ihn ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling als "linken Ideologieträger". Und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner sah gar "Tendenzen eines realen Sozialismus mit menschlichem Antlitz".
Auf EU-Ebene dominiert der EVP-Kurs, obwohl die Konservativen längst nicht mehr den Kredit bei den Wählern haben. (Leonhard Dobusch)
Seit Frühjahr ist Leonhard Dobusch, Jahrgang 1980, Professor an der Universität Innsbruck und kann nach zehn Forschungs-und Lehrjahren in Berlin nur staunen, wie in Österreich über Wirtschaft debattiert wird: "Das Niveau der Diskussion über den Kern-Beitrag war unterirdisch. US-Ökonomen wie Paul Krugman sagen seit Jahren, dass Europa sich kaputtspart."
Es soll Kern, dem Eitelkeit nicht fremd ist, veritabel gekränkt haben, dass sein über Wochen eigenhändig geschriebener Beitrag in der "FAZ" auf derart schroffe Ablehnung stieß. Schuld daran sei, das steht zumindest für Kern fest, die Dominanz konservativer Ideen. "Die europäische Volkspartei stellt zwar momentan wenige Staats-und Regierungschefs, mindestens so wenige wie die Sozialdemokratie, aber sie hat mit Donald Tusk den EU-Ratspräsidenten, mit Jean-Claude Juncker den EU-Kommissionspräsidenten und mit Kanzlerin Angela Merkel eine EU-Führungsfigur. Damit dominiert auf EU-Ebene der EVP-Kurs, obwohl die Konservativen längst nicht mehr den Kredit bei den Wählern haben. Sie verfügen aber noch über Diskurshegemonie, während linke Ideen sofort diffamiert werden." Kern, ein neuer linker Robin Hood, der einsam gegen die Übermacht der Konservativen in Europa kämpft? Auf diesem Stück des Weges wird ihn die Wirtschaft nicht begleiten.