Georg Hoffmann-Ostenhof Die Weltformel
Eugène de Rastignac, ein mittelloser Adeliger, will Medizin oder Jus studieren. Das will ihm der Verbrecher Vautrin ausreden: Rastignac könne damit in seinem ganzen Leben niemals das Geld verdienen, das er sofort erhalte, wenn er die schüchterne Erbin heiratet, die in Liebe zu ihm entbrannt ist. Diese Dialog-Passage aus dem berühmten Roman von Honoré de Balzac Le Père Goriot zitiert der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem jüngst auf Englisch erschienenen Buch Capital in the Twenty-First Century. Und Vautrin hat Recht, schreibt Piketty: Zu Balzacs Zeiten erreichte das eine Prozent der reichen Erben auch ohne zu schuften einen zweieinhalbfach höheren Lebensstandard als jene, die es durch harte Arbeit und Talent an die Spitze der Einkommenspyramide geschafft hatten. Was Pikettys Buch in nur wenigen Wochen zu einem Welt-Bestseller machte, war aber nicht die Analyse der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts, sondern die fundierte Diagnose, dass der gesellschaftliche Reichtum zu Beginn des 21. Jahrhunderts trotz sozialer Marktwirtschaft nicht viel anders verteilt ist als vor 100 oder 200 Jahren.
Piketty hat statistisches Material aus mehreren Jahrhunderten zusammengetragen und auf diese Weise eine einfache Formel gefunden, die den vielleicht wichtigsten Trend unserer Wirtschaft beschreibt: r > g. Die Rendite auf Privatvermögen (r) ist größer als das Wirtschaftswachstum (g). In den vergangenen 300 Jahren wuchs die Weltwirtschaft inflationsbereinigt im Schnitt um 1,6 Prozent jährlich, Vermögen aber um einiges schneller: durchschnittlich um vier bis fünf Prozent. Unterbrochen wird diese ungleiche Entwicklung nur in Kriegs- und Krisenzeiten, in denen Vermögen massenhaft vernichtet wird, und in den darauffolgenden Wiederaufbauphasen. Sonst aber akkumuliert sich der Reichtum permanent in immer weniger Händen. Die Einkommen der breiten Masse bleiben zurück.
Dass Piketty geradezu zum Popstar der Wirtschaftswissenschaft avanciert und sein Werk als Offenbarung gepriesen wird, die das ökonomische Denken zu revolutionieren imstande sei, ist freilich überraschend. Denn so originell ist seine These auch wiederum nicht. Dass das oberste Prozent der Bevölkerung absahnt und die darunter dazuschauen müssen, wie sie zurechtkommen, wusste schon die kurzzeitige Occupy-Wall-Street-Bewegung. Und nicht nur sie. Über die wachsende Ungleichheit wird auch sonst bereits seit Jahren geklagt. Was also ist die Sensation an Pikettys Capital?
Zunächst: Der Franzose, Professor an Pariser Elite-Unis, kommt nicht vom ideologischen Rand, sondern aus der Mitte des wirtschaftspolitischen Diskurses. Er arbeitet empirisch. Und er hat sich in seiner Studie was bis jetzt kaum je gemacht wurde auf die wirklich Reichen konzentriert, neue statistische Methoden der Erfassung von Vermögensverhältnissen angewandt und das Phänomen der Ungleichheit historisch vertieft. Am wichtigsten aber: Seine Daten zerstören den zentralen konservativen Mythos, wonach große Vermögen auf Leistung beruhen und letztlich Arbeit und Wohlstand für alle schafften. Piketty zeigt, dass auch heute wie seinerzeit in der französischen Belle Epoque, im amerikanischen Guilded Age oder der österreichischen Gründerzeit die Milliardäre ihre beträchtlichen Einkommen weniger erarbeiten, als dem verdanken, was man früher Couponschneiden nannte. Und dass sie zu einem wachsenden Teil wieder schlicht durch Erbschaften und nicht durch unternehmerische Aktivitäten zu ihrem Reichtum kommen.
Wir erleben eine Re-Feudalisierung der Ökonomien und seien bereits ins vordemokratische 19. Jahrhundert zurückgefallen, warnt Piketty: Unter den aktuellen Bedingungen kann Kapitalismus nicht funktionieren.
Als Ausweg empfiehlt er eine groß angelegte Umverteilung. Progressive Erbschafts- und Vermögenssteuer für die wirklich Reichen sollte in enger Zusammenarbeit der Nationen eingeführt werden. Seine Überlegungen bekommen Unterstützung von gänzlich unerwarteter Seite: Der Internationale Währungsfonds (IMF), bisher Hohepriester des freien Marktes, widerspricht in einer jüngst erschienenen Studie mit dem Titel Redistribution, Inequality, and Growth der tief verankerten klassisch-ökonomischen Überzeugung, dass Umverteilung in jedem Falle schädlich sei auch wenn sie aus Gerechtigkeitsgründen erwünscht sein mag.
Die Studienautoren vergleichen erstmals historisches Datenmaterial aus einer Vielzahl von Staaten und machen deutlich, dass Länder mit einer ausgeglichenen Verteilung von Einkommen und Vermögen ein höheres Wirtschaftswachstum aufweisen als solche mit größerer Ungleichheit. Auch ergibt ihre Untersuchung, dass sich fiskalische Umverteilungsmaßnahmen, wenn sie nicht extrem ausfallen, keineswegs wie bis jetzt immer wieder behauptet wurde wachstumshemmend auswirken.
Der Piketty-Hype sowie der IMF-Schwenk scheinen tatsächlich einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel zu signalisieren. Für Österreich dürfte dieser zunächst einmal zu spät kommen. Die Weichen sind gestellt. Wir werden in den kommenden Jahren an den Schulen sparen, die Unis verkommen lassen und uns von der Entwicklungshilfe verabschieden. Die Steuern für die arbeitende Bevölkerung bleiben so hoch wie zuvor. Die wirklich Reichen des Landes und ihre Erben aber werden sich, weitgehend vom Finanzamt unbehelligt, an ihren wie auch immer erworbenen Vermögen erfreuen können.