Er sei „demütig und dankbar“, ließ Herbert Kickl am späten Nachmittag des 9. Juni 2024 verlautbaren, nachdem die ersten Trendprognosen zur EU-Wahl in Österreich veröffentlicht worden waren. Am Abend war es fix: Erstmals landete die FPÖ – mit einem Ergebnis von 25,4 Prozent – bei einer bundesweiten Wahl auf Platz 1. Bei der Wahlparty am Abend klangen die FPÖ-Politiker bei Würstel, Gulasch und Bier schon weniger demütig. „Wir holen uns Schritt für Schritt unser Land zurück“, meinte der Spitzenkandidat der EU-Wahl, Harald Vilimsky. „Das ist erst der erste Teil der Geschichte“, jubelte der freiheitliche Generalsekretär Christian Hafenecker. Und am konkretesten wurde FPÖ-Chef Kickl höchstpersönlich: „Wir zünden die nächste Stufe. Und die nächste Stufe heißt Bundeskanzleramt.“
Ein Jahr später weiß man: Die FPÖ zündete mit ihrem Sieg bei der Nationalratswahl (28,85 Prozent) am 29. September des Vorjahres tatsächlich die nächste Stufe. Bundeskanzleramt hieß diese allerdings nicht, sondern Opposition. Zwei Monate nach den gescheiterten Verhandlungen mit der ÖVP wirkt der FPÖ-Chef erstaunlich blutleer. Kickl ist zwar parteiintern unumstritten – aber bleibt er der geeignete Obmann, um die nächste oder übernächste Stufe zu zünden?
Womit die FPÖ hadern muss: In der Interpretation der gescheiterten blau-schwarzen Verhandlungen setzte sich in der Öffentlichkeit die ÖVP-Erklärung durch. Zusammengefasst: Herbert Kickl sei bei den Gesprächen nur acht Stunden dabei gewesen. Der FPÖ-Chef sei kommunikationsscheu und habe nicht versucht, eine Verbindung zur ÖVP aufzubauen. Die rechtsstaatlichen Vorstellungen der Freiheitlichen seien indiskutabel gewesen, daher habe man Kickl nicht das Innenministerium überlassen können. Insgesamt habe sich Kickl nicht wie ein Bundeskanzler, sondern wie ein Oppositionspolitiker verhalten. Er habe die Chance auf Kanzleramt und Finanzministerium schlicht vergeigt: ein „Will-nicht-Kanzler“.
All das mag stimmen: Am Ende war es dann aber auch die Europapolitik, die die ÖVP davon abhielt, Kickl zum Kanzler zu machen. Die Volkspartei bestand darauf, dass der FPÖ-Obmann im Europäischen Rat der Regierungschefs nicht frei entscheiden könne, sondern an vorher akkordierte Vorgaben gebunden sei. Eine Einigung war nicht möglich. Zudem dürfte die Europäische Volkspartei der ÖVP tatsächlich dringend nahegelegt haben, die mögliche Zusammenarbeit mit der FPÖ zu überdenken.
Enttäuschung in der FPÖ
Auch wenn es niemand öffentlich zugibt: In den blauen Reihen ist die Enttäuschung über die verpasste Gelegenheit nach wie vor groß. Neben Ministerämtern hätte die Regierungs- beteiligung auch wohldotierte Posten in Kabinetten, im öffentlichen Dienst, in staatlichen Einrichtungen und der staatsnahen Wirtschaft bedeutet.
Die Einzige, die sich in Ansätzen kritisch äußerte, ist die Salzburger FPÖ-Vorsitzende und Landeshauptmann-Stellvertreterin Marlene Svazek. Gegenüber den „Salzburger Nachrichten“ meinte sie: „Wir sollten diskutieren, wie wir in Regierungsverantwortung kommen und was wir brauchen, damit das beim nächsten Mal gelingt. Essenziell ist dafür die Kommunikation in der Partei, auch das Zulassen anderer Meinungen.“ In der Politik brauche es „Kompromissfähigkeit“. „100 Prozent Umsetzung“ würden sich nicht ausgehen.
Herbert Kickl ist mittlerweile 56 Jahre alt. Findet die nächste Wahl regulär im Herbst 2029 statt, wird er knapp 61 sein. Svazek (Jahrgang 1992), der Vorarlberger Landesparteiobmann Christof Bitschi (Jahrgang 1991), der FPÖ-NÖ-Chef Udo Landbauer (Jahrgang 1986) und der Wiener Dominik Nepp (Jahrgang 1982) gehören einer jüngeren Politikergeneration an, die sich anschickt, ihren Einfluss in der FPÖ zu vergrößern. Eine Kommunikation der Landesparteichefs mit Kickl findet nicht statt. Der FPÖ-Obmann vernachlässigt seine Gremien, setzt nur auf seine vertrauten Nationalratsabgeordneten.
Wahlparty am 29. September 2024, Kater im Mai 2025
Für den verhinderten Volkskanzler hat sich der Berufsalltag nicht verändert. Formal führt er Partei und Parlamentsklub, alle paar Wochen finden Nationalratssitzungen statt, in denen er gut vorbereitete Reden hält. Am Wochenende klettert er durch steile Bergwände und postet Fotos davon auf seinen Social-Media-Kanälen. Manche Freiheitliche teilen die Einschätzung, dass der Kanzler-Job gar nicht Kickls unbedingtes Ziel gewesen sei. In der Opposition lebt es sich bequemer, vor allem mit einem nach der Nationalratswahl deutlich stärkeren Klub.
Regelmäßig rückt Kickl zu öffentlichen Wutauftritten auf, zuletzt am 1. Mai am Urfahraner Jahrmarkt in Linz. Die Reden des FPÖ-Chefs weisen mittlerweile eine gewisse Redundanz auf, seine Textbausteine sind stets die gleichen: Er wettert gegen die „Einheitsparteien“, „Systemmedien“, den ORF, die EU, Linke, die katholische Kirche, den Islam, die Ukraine – und natürlich gegen „Ausländer“ und „Asylanten“.
Manche Reden wirken mittlerweile lustlos, wie jene beim Wahlkampfabschluss der Wiener FPÖ am 24. April am Stephansplatz. Um sich Aufmerksamkeit zu sichern, wird Kickl in seiner Wortwahl immer radikaler. In seiner Bierzelt-Rede am 1. Mai in Linz nannte er den SPÖ-Vorsitzenden und Vizekanzler Andreas Babler eine „linke Zecke“. Der Begriff gilt als typisch für den Jargon rechtsextremer Gruppen.
Herbert Kickl hält es nur schwer aus, wenn seine Partei in Zusammenhang mit Rechtsextremismus genannt wird. Dann kann es schon auch vorkommen, dass er mit dem Abbruch eines Interviews droht, wie im vergangenen September in Servus-TV. Er kenne keine Rechtsextremen, nicht in Österreich und auch nicht in Deutschland, so Kickl damals.
Allerdings: Die befreundete AfD (Alternative für Deutschland), mit deren Chefin Alice Weidel Kickl in bestem Einvernehmen steht, kann nun als „gesichert rechtsextremistisch“ bezeichnet werden. Diese Neubewertung durch das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz sorgte im Berliner Politbetrieb für gehörigen Wirbel. Seither wird über ein AfD-Verbot diskutiert – und fast 50 Prozent der Bevölkerung sind in Umfragen dafür. Die Afd brachte ihrerseits eine Klage gegen den Verfassungsschutz ein.
Im Gutachten des Bundesamts heißt es laut deutschen Medienberichten, die AfD propagiere einen ethnischen Volksbegriff. Zuwanderung werde als „Umvolkung“ diffamiert, Eingewanderte würden als „Messermigranten“ verleumdet, denen „millionenfache Remigration“ bevorstehe. Umvolkung, Messermigration, Remigration: All das sind Begriffe, die in der FPÖ unter Kickl zum alltäglichen Sprachgebrauch geworden sind.
Die FPÖ-Jugend Oberösterreich geht 2022 auf „Remigrationstouren“, um den „Bevölkerungsaustausch“ zu stoppen. Es dauert nicht lange, bis Kickl den Begriff in Reden übernahm. Im EU-Wahlkampf 2024 fordert seine Partei einen „EU-Kommissar für Remigration“. Die FPÖ Tirol warnt vor „Messermigration“, FPÖ-Wien-Chef Dominik Nepp sieht „Wien als erste Anlaufstelle für Messermigranten“. Und im Parlament bekommt FPÖ-Abgeordneter Peter Wurm Ende April 2025 für einen „Umvolkung“-Sager nicht einmal einen Ordnungsruf von FPÖ-Nationalratspräsident Rosenkranz.
Österreich hat ein scharfes NS-Verbotsgesetz, aber im Unterschied zu Deutschland keine expliziten Verfassungsbestimmungen, die sich gegen extremistische Parteien richten. Deswegen muss sich Kickl weder vor einem Rechtsextremismus-Siegel des Verfassungsschutzes noch einer Verbotsdebatte fürchten. Doch die deutsche Diskussion zeigt, wie radikal das freiheitliche Normal unter Kickl im Nachbarland empfunden wird.
Was Kickl wohl nicht bedenkt: Je radikaler seine Aussagen, desto geringer werden seine Chancen, eines Tages doch noch einen Koalitionspartner zu finden, der ihn zum Kanzler macht.
Derzeit gibt es niemanden in der Bundes-FPÖ, der – wie früher der Dritte Nationalratspräsident Norbert Hofer – in der Öffentlichkeit gemäßigter auftritt. Selbst moderate Persönlichkeiten wie die Abgeordnete Susanne Fürst kopieren mittlerweile Kickls aggressive Rhetorik. Die Verhandlungen mit der ÖVP im Februar könnten dessen einzige Chance aufs Kanzleramt gewesen sein. Als alternative Kanzlerkandidatin stünden etwa die Salzburgerin Svazek oder der Welser Bürgermeister Andreas Rabl bereit.
In den Umfragen liegt die FPÖ weiterhin deutlich voran. Die Wahlen seit dem Sieg in der Nationalratswahl verliefen durchwachsen. Bei der steirischen Landtagswahl (24. November 2024) feierte die FPÖ einen Triumph, ihr Obmann Mario Kunasek ist nun Landeshauptmann in einer FPÖ-ÖVP-Koalition und pflegt im Vergleich zu Kickl einen verbindlichen Ton.
Im Burgenland (19. Jänner 2025) legte die FPÖ mit ihrem Spitzenkandidaten Norbert Hofer deutlich zu, als Koalitionspartner wählte SPÖ-Landeshauptmann Hans Peter Doskozil allerdings die Grünen.
Bei der Gemeinderatswahl in Wien (27. April) verdreifachten sich die Freiheitlichen, sie blieben aber deutlich hinter früheren Ergebnissen (siehe Seite 23).
In Vorarlberg, Salzburg, Ober- und Niederösterreich ist die FPÖ Juniorpartner in einer schwarz-blauen Koalition.
Dass bis Herbst 2027 keine größeren Wahlen stattfinden, erschwert Kickl die Arbeit. Die Blauen haben vorerst Pause. Als freiheitlicher Generalsekretär gewann Kickl die Überzeugung, dass die FPÖ immer in Bewegung bleiben und eine politische Dauerkampagne fahren muss, um sich in der Opposition die Aufmerksamkeit zu sichern. So ist auch seine Ankündigung vom 1. Mai zu verstehen, der Regierung „in Sachen Corona ein Ei legen zu wollen“. Die FPÖ bringt nun 827 parlamentarische Anfragen an verschiedene Ministerien ein, in denen Auskunft über die Corona-Maßnahmen verlangt wird.
Zusätzlich will die FPÖ einen Untersuchungsausschuss zum Tod des Justiz-Sektionschefs Christian Pilnacek einsetzen – und vielleicht einen weiteren zu Corona.
Derartige Aktivitäten haben einen für Kickl nützlichen Nebeneffekt. Sie beschäftigen die Abgeordneten und binden Energie – die sich ansonsten nach innen, und damit gegen den Parteichef richten könnte.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und seit 2025 Leiter des Innenpolitik-Ressorts. Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl.