Globalisierungskralle: Ein Jahr im Zeichen der Flüchtlingskrise
Pendler rasten über die Autobahn, Menschen auf ihren täglichen Besorgungen, Durchreisende. Einen Tag und eine Nacht lang stand der Lieferwagen einer slowakischen Hühnerfirma in einer Pannenbucht bei Parndorf, abgestellt in der Nähe eines Designer-Outlets, wo in künstlich geschaffener Idylle, zwischen lauschigen Arkaden, Blumeninseln und kleinen, gepflasterten Plätzen, Nobelmarken wie Gucci, Prada oder True Religion verramscht werden.
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Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass Waren- und Geldströme sich nicht an Grenzen halten und selbst die teuersten Luxusartikel in Billigproduktionsländern gefertigt werden, um die Gewinnspannen auszuweiten. Das Kapital mag flüchtig sein, Menschen aber haben eine Herkunft, Heimat, Zugehörigkeit. Es ist uns zwar irgendwann nicht mehr entgangen, dass die Not in weit entfernten Erdteilen sie dazu treiben kann, Wüsten zu durchqueren und in Schlauchbooten über das Meer zu setzen – wobei nicht wenige ihr Leben verloren. Aber mit den Bootsflüchtlingen mussten die Außenposten der EU klarkommen, die Einwohner von Lampedusa und einiger griechischer Inseln gewöhnten sich daran wie an die T-Shirts aus Fernost. Unser Leben aber ging normal weiter.
Im Nachhinein erscheint der in einer Pannenbucht im Burgenland geparkte Lastwagen wie ein trojanisches Pferd. Als die Polizei die Türen aufbrach, befanden sich darin jedoch keine kampflustigen Eindringlinge, wie bei den alten Griechen, sondern 71 Leichen. Es waren die auf dem Weg nach Europa erstickten Vorboten jener Männer, Frauen und Kinder, die in den Monaten danach noch über die Grenze und großteils durch Österreich weiter nach Deutschland zogen, erschöpft und abgerissen, manche barfuß und mit verbundenen Wunden.
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2015 war das Jahr, in dem sich die Nebelwand auflöste, die uns bis dahin vor einem Anblick wie diesem geschützt hatte. Es war das Jahr, in dem der Bürgermeister von Nickelsdorf an der österreichisch-ungarischen Grenze beim Frühstück mit der Kaffeetasse in der Hand erstarrte. Tausende gingen an seinem Fenster vorbei, ließen sich auf Parkplätzen, in Einfahrten und Grünanlagen der kleinen Ortschaft nieder. Es war das Jahr, in dem Reporter von CNN, BBC und „New York Times“ aus „Nickelsdorf, Austria” berichteten, einem neuen Brennpunkt der Geopolitik.
Das Geschehen im Dorf hatte sich buchstäblich globalisiert. Im Gemeinderat von Nickelsdorf ging es nicht mehr um kommunale Veilchenthemen wie Nachmittagsbetreuung oder Umfahrungsstraßen, sondern um den Bürgerkrieg in Syrien und die Armut in Afrika. So nahe war das Elend der Welt uns noch nie gekommen.
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Natürlich hatte die Entgrenzung früher begonnen, angetrieben vom internationalen Finanzkapitalismus und der digitalen Ökonomie, einer erdumspannend vernetzten Zivilgesellschaft, Social Media und grenzüberschreitenden Problemen wie Klimawandel, Terrorismus oder Migration. An den Rändern Europas war auch die gern verleugnete Seite der Globalisierung seit geraumer Zeit zu spüren gewesen. Touristen stolperten am Sandstrand über die abgestreiften Rettungswesten von Bootsflüchtlingen. Im Mittelmeer drohten Luxuskreuzer über gekenterte Syrer, Eritreer, Somalier, Afghanen oder Nordafrikaner zu fahren. Die Reiseveranstalter waren pietätvoll – oder schlau – genug, das zu verschweigen. Wir, die zahlenden Urlauber, fragten nicht nach. Politisch betraf uns das Sterben im Mittelmeer ohnedies nicht. Es hatte in der Vergangenheit zwar Anläufe zu einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik gegeben, die zu neuen europäischen Richtlinien führten. Die Einwanderungskontrolle aber blieb in der Hand der einzelnen Mitgliedsstaaten, so wie auch die Abwicklung der Asylverfahren. Wer internationalen Schutz bekommt, entscheidet jedes Land autonom. Einheitliche Standards sind in weiter Ferne.
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Mit diesem Geburtsfehler trat die sogenannte Dublin-Verordnung in Kraft, laut welcher Asylwerber ihr Verfahren dort abwarten sollen, wo sie in die EU eingereist sind. Sie aber wollen dorthin, wo die Aussichten am besten sind, Arbeit, einen Platz zum Wohnen und neue Freunde zu finden. Die Länder in geschützter Innenlage fanden die Dublin-Verordnung durchaus praktisch. Für neu ankommende Flüchtlinge waren demnach nicht sie, sondern die EU-Länder mit einer Außengrenze im Osten oder Süden zuständig. Wurden diese mit ihrer Aufgabe nicht fertig, konnte man sich über sie mokieren und ihnen damit drohen, sie notfalls aus dem Schengen-Club zu werfen.
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Die Folgen des egozentrischen Kalküls sind bekannt: Die Dublin-Verordnung gebar ein bürokratisches Monster und implodierte in der aktuellen Flüchtlingskrise. Die nationale Brille behielt man trotzdem fest auf der Nase, denn das Leben erscheint angenehmer, wenn man nur auf nahe und mittlere Distanz gut sieht, Konflikte und soziale Ungerechtigkeiten weiter weg aber schön unscharf bleiben. Tatsächlich können sich selbst glühende Nationalisten der Botschaft, die im Lkw mit den 71 Toten mitgereist war, mittlerweile kaum noch verschließen. Sie lautet, kurz gefasst, dass es von Vorteil ist, auch die Probleme außerhalb des heimischen Terroritoriums im Auge zu haben, denn sie sind in einer vernetzten Welt von den eigenen schwer zu trennen.
Die Verletzlichkeit, die über Nacht im öffentlichen Raum in Österreich sichtbar wurde, erreichte eine für hiesige Verhältnisse völlig neue Dimension. Wochenlang schliefen im Flüchtlingslager Traiskirchen Menschen in der Wiese, ihre Kinder neben sich auf Kartons und Jacken zusammengerollt, an manchen Tagen trieb der Wind Essensreste und weggeworfenes Gewand durch die Straßen.
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Die Statistiken der Nation vermessen die sozialen Schieflagen im eigenen Land, vergleichen sich selten innerhalb Europas und fast nie weltweit. Die Syrer, Iraker, Afghanen, Eritreer und Somalier aber, die an unseren Grenzübergängen und Bahnhöfen landeten, führten uns ein globales Gefälle vor Augen. Einige von ihnen hatten Fabriken, Häuser und Autos besessen, ein Vermögen, das am Ende gerade noch reichte, sich vor der allgegenwärtigen Gewalt in ihrem zerfallenden Land in Sicherheit zu bringen. Die Flucht nach Europa zehrte zumeist alle finanziellen und körperlichen Reserven auf. Am Ende gehörten ihre Ersparnisse Schleppern und vielen kleinen Handlagern; ihre Schuhe waren auf stundenlangen Märschen entlang von Bahngleisen und Autobahnen in Fetzen gegangen.
Die Bilder dieser Abgerissenheit brannten sich in unsere Gehirne ein, nicht einmal vergleichbar mit jenen aus den 1990er-Jahren, als Österreich innerhalb kurzer Zeit Zehntausende Bosnier aufgenommen hatte. Diese waren zu einem großen Teil bei Angehörigen und Bekannten untergekommen, die ihrerseits in den Jahrzehnten davor als Gastarbeiter nach Österreich eingewandert waren. Auf die Flüchtlinge 20 Jahre später wartete keine etablierte Gemeinde, die hätte helfen können.
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Dafür schöpfen die aktuellen Flüchtlinge erstmals in der Migrationsgeschichte aus dem Vollen der digitalen Vernetzung und verhalten sich dabei nicht anders als Touristen in der Fremde, die via Smartphone Flugpreise vergleichen, Hotelzimmer buchen und an den Erfahrungen jener teilhaben, die das Land vor ihnen bereist haben. Flüchtlinge nützen das Smartphone, um durch die Gebirge und Täler des globalen Wohlstands zu navigieren, Länder nach der Qualität der Aussichten auf einen Neuanfang zu bewerten, Routen und Preise der Schlepper zu vergleichen, Schlafplätze aufzutreiben und die unterwegs gemachten Erfahrungen zu dokumentieren – auch für jene, die ihre Flucht noch vor sich haben.
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In den Händen der Flüchtlinge verwandelt sich das allgegenwärtige Accessoire der Globalisierung in einen verdächtigen Gegenstand, eine Art von Zauberei, die nur deshalb so mühelos gelingt, weil wir uns daran gewöhnt haben, das Kapital und nicht die arbeitenden Menschen zu meinen, wenn wir von Globalisierung reden. Für Investoren und zahlende Gäste stehen die Grenzbalken offen, nicht jedoch für Menschen auf der Suche nach den besten Chancen auf Verwertung ihres Humankapitals. Sie werden zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ herabgewürdigt, wenn nicht sogar kriminalisiert, auf jeden Fall aber abgewiesen. Niemandem fiele es ein, Investoren in ein Auffanglager zu stecken und auf ihre Motive hin abzuklopfen oder mit Argusaugen darüber zu wachen, dass internationale Konzerne sich an die Werte und Kultur des Aufnahmelandes anpassen.
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Populisten teilen zwar gern auch gegen ausländisches Finanzkapital aus, die Sündenböcke der Stunde aber bleiben im aktuellen Europa des großen Rechtsrucks die „illegalen Migranten“. Der Nationalismus lindert grassierende Status- und Existenzängste mit dem Versprechen, das Leben könnte wieder so gut werden wie früher, als die Einheimischen noch unter sich waren. Fantasien von Begrenzung, Abschottung und Re-Ethnisierung arbeiten sich bis in das Zentrum der Gesellschaft vor.
Ein Graben ist aufgerissen. Streckenweise verläuft er zwischen den alten Blöcken von Ost und West an den Bruchlinien des Kalten Krieges entlang, zum Teil führt er mitten durch Länder. Auf der freundlicheren Seite stehen Tausendschaften von Freiwilligen und professionellen Helfern, NGOs und Rettungsorganisationen, die Flüchtlinge verarzten und trösten, ihre Mobiltelefone aufladen, Notbetten aufstellen, Decken, warme Jacken und Spielzeug für die Kinder vorbeibringen, Essen kochen, zu Behörden mitgehen und Asylwerbern Deutschkurse, kleine Abwechslungen und Gelegenheitsjobs verschaffen. Sie leben die offene Weise vor, mit dem porös gewordenen Damm, der das Elend der Welt ferngehalten hatte, fertigzuwerden.
Man darf davon ausgehen, dass die zahllosen persönlichen Begegnungen, die Beobachtungen aus nächster Nähe und die damit einhergehenden überwältigenden, oft auch widersprüchlichen Gefühle bei diesem Teil der Bevölkerung den Blick nachhaltig geweitet haben. Ausgerechnet die angeblich so naiven „Gutmenschen“ bekamen am unvermitteltsten mit, dass globale Probleme „wie Blitze in den Erfahrungsraum der Menschen einschlagen und dort die Prioritäten umstürzen“, auf nationalstaatlicher Ebene aber nicht oder nur unzureichend zu beantworten sind, wie Ulrich Beck* schreibt.
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Man kann es der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht hoch genug anrechnen, dass sie sich um grenzüberschreitende Lösungen bemüht, menschenrechtliche Standards nicht bei erster Gelegenheit opfert und bereit ist, politisch und ökonomisch den Preis für ein unmögliches Bündnis mit der Türkei zu zahlen, auch wenn ihr Handeln eigennützig sein mag und derzeit noch nicht einmal abzusehen ist, ob die Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten sich damit unter Kontrolle bringen lässt. Globalisierung ist eine Herrschaft, die niemand ausgerufen hat und für die auch niemand den Kopf hinhalten kann. Wer soll über den Ausstoß von Treibhausgasen wachen, über erdumspannende Waffensysteme, ausufernden Finanzkapitalismus, globale Wanderungen oder die Einhaltung der Menschenrechte? Es geht nur gemeinsam, mit europäischer, supranationaler und weltweiter Anstrengung; übergeordnete Initiativen und Institutionen sind dafür notwendig. Doch die paradoxe Einsicht, dass alle an Spielraum gewinnen, wenn alle auf ein bisschen Macht verzichten, ist selbst im vereinten Europa von heute schwer verkäuflich.
Mitten im Schengenraum wird Stacheldraht entrollt. Deutschland, Österreich, Belgien, die Niederlande und neuerdings Schweden kontrollieren wieder an den Grenzen. Der Wille der Staaten zur Zusammenarbeit beschränkt sich auf die Angstthemen Grenzsicherung und Terrorismus. Eifrig werden Fluggastdaten gesammelt, die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll zur Küstenwache und Eingreiftruppe aufgerüstet werden. In der Flüchtlingskrise hingegen waltet wie gehabt die nationalstaatliche Egozentrik. 160.000 Asylwerber wollten die EU-Staaten untereinander aufteilen. 200 wurden bisher aus Griechenland und Italien in andere Länder gebracht – eine beschämende Bilanz, die darauf zurückzuführen ist, dass jedes Land für sich entscheiden darf, warum es niemanden aufnehmen kann und andere Länder mehr tun sollten. In diesem Setting gewinnt immer der unsolidarische Zug, und es endet verlässlich damit, dass Krisen und Gefahren schlicht nicht zu bewältigen sind.
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Die jüngste Klimakonferenz in Paris könnte ein Signal sein, dass es durchaus anders ginge und von einer gemeinsamen Lösung am Ende alle profitieren. Es liegt in der Tücke der westlichen Demokratie, dass sie im territorialen Nationalstaat umgesetzt ist, der sich unendlich schwer damit tut, die Interessen auch jener Menschen mitzudenken, die nicht anwesend sind, sich aber eines Tages gezwungen sehen könnten, nach Europa aufzubrechen. Das war die unerhörte Botschaft der Toten aus dem Lkw in Parndorf.