Götterdämmerung

Götterdämmerung bei den Wiener Philharmonikern

Zeitgeschichte. Götterdämmerung bei den Wiener Philharmonikern

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Richard von Schirach zieht es vor zu schweigen. Der jüngste Sohn des ehemaligen Wiener Gauleiters Baldur von Schirach hat den Wiener Philharmonikern ein Stück geschrieben, das dem Image des berühmten Orchesters nicht gut bekommt. „Ein Professor aus Wien“, so der jetzt 70-Jährige, habe seinem Vater nach dessen Entlassung aus dem Kriegsverbrechergefängnis Spandau 1966 die höchste Ehrung der Musiker überbracht: „Er kam als geheimer Emissär der Wiener Philharmoniker, um den Ehrenring der Wiener Philharmoniker zu überreichen.“
Schirachs Schilderung des mysteriösen Ehrenbesuchs liegt Jahre zurück. In Wien wird heiß darüber diskutiert, seit vor Kurzem auch ein bekannter Philharmoniker das heikle Thema aufgenommen hat: Solocellist Franz Bartolomey stellte als Erster offen die Frage, wie es zur geheimen Mission zum Ex-Gauleiter kommen hatte können (Franz Bartolomey: „Was zählt, ist der Augenblick“, Amalthea, 2012).

Schulterschluss und Diskretion
Der in Berlin lebende Richard von Schirach übt sich in einem befremdlichen Schulterschluss mit Immer-noch-Verehrern seines Vaters. Dem renommierten Historiker Oliver Rathkolb teilte er mit, man habe dem „geheimen Emissär der Philharmoniker“ damals Diskretion zugesichert. Nach der massiven Kritik des Grün-Abgeordneten Harald Walser an der späten Ehrung bleibe er dabei erst recht. profil-Anfragen ließ er unbeantwortet.

Ist im Namen von Österreichs musikalischem Aushängeschild tatsächlich ein Mann ausgezeichnet worden, der im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess für die Vernichtung der österreichischen Juden schuldig gesprochen wurde? Und das mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des NS-Terrors?

„Mich persönlich würde eine Klärung sehr interessieren“, sagt Walter Barylli. Der heute 91-Jährige ist der letzte noch lebende Philharmoniker, der bereits während des Nationalsozialismus Orchestermitglied war. Wie er die Beziehung des Orchesters zum damaligen Gauleiter erlebt hat? Barylli: „Sie war vielleicht enger als zu anderen Parteigrößen, Schirach war ja ein sehr kultivierter Mann.“
In den Protokollen des Orchesters wurde laut Vorstand Clemens Hellsberg bisher absolut nichts über die Geheimmission in den 1960ern entdeckt. Dass ihr großer NS-Förderer Schirach unter den Philharmonikern weiter Anhänger hatte, kann als sicher gelten. Nach der radikalen Vertreibung ihrer jüdischen Kollegen hatte keine österreichische Institution – mit Ausnahme etwa der Bundesforste – mehr NS-Parteigänger als die Philharmoniker. 1945 war beinahe jeder zweite der 117 Musiker bei der NSDAP oder einer ihrer Vorfeldorganisationen, so Hellsberg in seiner 1992 publizierten Geschichte der Philharmoniker, „Demokratie der Könige“.
In dieser „nazifierten“ Form ist das Orchester geblieben. Historiker Rathkolb fand in den USA Dokumente, nach denen das Entnazifizierungsbüro der Alliierten noch 1947 dem Bundeskanzleramt eine Liste mit 28 NS-belasteten Musikern übergab, die sofort entlassen werden sollten. Der Vorstoß lief ins Leere.

Gräben
profil hat im Historischen Archiv der Philharmoniker in die Nachkriegsprotokolle Einsicht genommen. Sie geben Hinweise auf Gräben, die mitten durch das Orchester gingen. So warf etwa ein Musiker dem anderen an den Kopf: „Sind Sie ruhig, Sie frecher Nazi!“ In einem mitgehörten Telefonat hieß es dagegen: „Jetzt müssen wir noch kuschen, aber bald wird die Zeit kommen, wo wir wieder reden können.“
In einer offiziellen Adresse an die Bundesregierung versicherten die Philharmoniker, ihre Abkehr von der Vergangenheit mit Konzerten zugunsten NS-Verfolgter „in den eigenen Reihen und aus ganz Österreich“ zu beweisen. Tatsächlich wurden zahlreiche solcher Konzerte gegeben. Die interne Ambivalenz zu diesem Vorhaben ist jedoch deutlich. Aus dem Programm für den Mai 1946: „7. Mai 1946 Konzert mit Karajan für die K.Z.-ler.“„11. Mai Konzert der Widerstandsbewegung und K.Z.-ler. (Wird versucht werden abzubiegen)“

Der Fall Schirach hat jetzt jedoch auch orchesterintern einen Stein ins Rollen gebracht. Ein Philharmoniker: „Viele von uns wollen, dass alles auf den Tisch kommt, auch unsere Geschichte nach 1945.“
Ende der Vorwoche wandte sich Philharmonikervorstand Clemens Hellsberg höchstpersönlich an Richard von Schirach, um die Identität des „Emissärs“ zu erfahren. Und er will dem Orchester auch
bisher Einmaliges nahelegen: einen Beschluss auf Überprüfung und eventuelle Aberkennung sämtlicher seiner Auszeichnungen an ehemalige Nazi-Größen und Mitläufer. Baldur von Schirach hatte den (Original-)Ehrenring der Philharmoniker 1942 bei ihrer 100-Jahr-Feier bekommen. Auch Kärntens Gauleiter Friedrich Rainer und Arthur Seyß-Inquart wurden geehrt: Letzterer hatte 1942 in den Niederlanden längst sein Terrorregime errichtet, 1946 wurde er als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet.

Für Seyß-Inquart und Schirach hatten die Musiker Hausmusik gegeben, die Auftritte waren gratis zu leisten und daher unbeliebt. Honorar gab es für Propaganda-Auftritte, in den riesigen Rüstungsbetrieben spielten die Philharmoniker den „Kaiserwalzer“.

Die letzte Kriegs-Konzertreise machte das Orchester im März 1945 nach Salzburg. Dabei trat es im „Führerbezirk“ auf dem Obersalzberg und in der SS-Kaserne Glasenbach auf. Genau in diesem Lager wurde Philharmonikervorstand und SS-Untersturmführer Wilhelm Jerger Ende 1945 von den US-Militärs interniert. Den früheren SS-Mann Helmut Wobisch wählten die Musiker 1953 zum Geschäftsführer. Jerger blieb der Wiedereintritt verwehrt, er wurde von den Kollegen aber 1967 geehrt.
Jergers Sohn Veit schrieb im Jahr 2000 an die „FAZ“: „Sicher ist, dass es zwischen … von Schirach und Jerger als erstem Vertreter der Wiener Philharmoniker ein eng geflochtenes Interessennetz gab, deren (sic!) Interna bis heute nicht aufgedeckt sind.“

Historiker Rathkolb sucht jetzt das verschollene Privatarchiv des ehemaligen SS-Mannes und Orchestervorstands Wilhelm Jerger. Darin könnte sich vielleicht der Schlüssel zur Identität des „geheimen Emissärs“ finden, der Schirach den Ehrenring zum zweiten Mal überreicht hat.

„Wunderbar rein“
Ausnahmesolisten, Konzertmeister, sozial engagiert und fallen gelassen: Schicksale der vertriebenen und ermordeten Wiener Philharmoniker.

Sein sinnliches, inniges Violinsolo in Wagners „Tristan und Isolde“ war berühmt – Arnold Rosé soll es am Abend des 12. März 1938 in der Wiener Staatsoper zum letzten Mal gespielt haben. Rosé galt weltweit als einer der besten Konzertmeister seiner Zeit, doch ab sofort galt er nichts: Er war Jude, ab Österreichs „Anschluss“ an Hitlerdeutschland hatten er und seine gerühmte Kunst bei den Wiener Philharmonikern keinen Platz mehr. Mit ihm mussten mehr als ein Dutzend weiterer Musiker gehen. „Die Angelegenheit des Judenabbaus geht jetzt ganz ruhig vor sich“, resümierte die Staatstheaterverwaltung im August 1938. 1)

Die „arischen“ Musikerkollegen mieden den Ausnahmegeiger, selbst sein alter Freund Richard Strauss ließ ihn allein. Eines Nachts erschien die SA. „Gottlob hat Vati da schon geschlafen“, schrieb Tochter Alma nieder. (Rosé war mit Gustav Mahlers Schwester Justine verheiratet.) Alma verdankte der 75-Jährige sein Überleben. Sie sammelte in England Geld für ihren Vater und prominente Fürsprecher wie Arturo Toscanini für sein Visum, im Jahr 1939 schaffte er es nach London. Alma Rosé, ebenfalls Violinistin, wollte in Holland auftreten, ihr Fluchtversuch beim Einmarsch der Deutschen wurde verraten und sie nach Auschwitz deportiert. Bis zu ihrer Er­mordung leitete Alma Rosé das „Mädchenorchester von Auschwitz“. Als ihr Vater nach Kriegsende von ihrem Schicksal erfuhr, zerbrach er seelisch und starb im Sommer 1946. Arnold Rosés Violine, eine 1718 gebaute Stradivari, wurde 2006 von der Oesterreichischen Nationalbank erworben und wird fallweise vom Konzertmeister der Philharmoniker, Volkhard Steude, gespielt.

Sieben der vertriebenen jüdischen Orchestermitglieder schafften die Flucht ins Exil nicht. Von ihnen starben zwei infolge von Delogierung und ihrer ständigen Ausgesetztheit gegenüber Verfolgung schwer krank in Wien. Fünf Philharmoniker wurden in Deportationszüge gepfercht und Opfer der Shoah. Einer von ihnen war Primgeiger Max Starkmann, er und seine Frau Elsa kamen 1942 auf der Mordstätte Maly Trostinec bei Minsk um. Im selben Jahr wurden Konzertmeister Julius Stwertka und der wegen seines großen sozialen Engagements für die Musiker vielfach ausgezeichnete Oboist Armin Tyroler – „Jede Schallplatte … bedeutet Not, Hunger und Arbeitslosigkeit“ – in das KZ Theresienstadt deportiert. Stwertka kam in Theresienstadt um, Tyroler wurde weiter nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Er hatte in Theresienstadt im Sommer 1944 ein letztes Mal Haydn gespielt.

Die meisten jener, die im Exil überlebten, mochten aufgrund ihrer Verletztheit und des Schicksals der Ermordeten nie mehr nach Wien zurück. „Ich denke immer an die Vergasung Stwertkas, Robitseks und der anderen“, schrieb einer.

Solocellist Friedrich Buxbaum traf die Philharmoniker bei ihrem Gastspiel in London 1947 erstmals wieder und begrüßte sie treffend: „Liebe Freunde, ich bin so glücklich, dass ich wieder bei euch sein darf. Ich hab euch stimmen hören. Es klang wunderbar rein. Ganz judenrein.“
Klarinettist Rudolf Jettel hatte sich mit seiner jüdischen Frau in Wien vier Jahre lang versteckt und wurde nach Kriegsende wieder Philharmoniker. Über seine Erfahrungen sprach Jettel wenig. Roger Salander, ein Enkel des vertriebenen Philharmonikers Berthold Salander: „Doch was er gesagt hat, was er von seinen Kollegen gesagt hat, kann man nicht drucken.“