Österreichs kleinste Gemeinde Gramais: Im Endtal der Genügsamkeit
Von Iris Bonavida
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Es war 1989, und eine deutsche Touristenfamilie wollte dringend nach Gramais. So dringend, dass sie für sechs Köpfe und drei Wochen alles Lebenswichtige einpackte. Die Mutter erstellte einen minutiösen Essensplan für sich, ihren Mann und die vier Kinder. „Viel Reis, viele Kartoffeln.“ Raum für Spontaneität gab es nicht. „Ich wusste, es gibt dort kein Geschäft.“ Die Familie räumte das schwere Gepäck in den Wagen und machte sich auf den Weg ins letzte Dorf im Tiroler Otterbachtal, in die kleinste Gemeinde Österreichs mit 43 Einwohnern, um ihre Ferien als Selbstversorger zu verbringen.
Nun kehrt die Mutter mit zwei erwachsenen Söhnen an ihren Sehnsuchtsort zurück. Allerdings mit Postbussen. Mehrzahl, denn wer ohne Auto unterwegs ist, muss sich die Ankunft erst verdienen. Drei verschiedene Linien teilen sich die Fahrt vom Bahnhof Imst-Pitztal nach Gramais. Die Fahrzeuge schlängeln sich Berg-Serpentinen hoch, bei denen man weder an Übelkeit noch an Höhenangst leiden darf. Die Familie kennt die Strecke mittlerweile gut, zum dritten Mal ist sie bereits hier. Diese Abgeschiedenheit ist das, was sie schon vor 35 Jahren angezogen hat. Wo sonst, fragt einer der Söhne an der Haltestelle, findet man einen Ort, bei dem alles so bleibt, wie es war?
Genau diese Stabilität erfüllt das kleine Gramais mit Stolz und Sorge. Stolz, weil wegen der Entschleunigung die Stammgäste kommen und die Bewohner bleiben. Die Wildbäche und Bergseen sind nah, der nächste Ort ist acht Kilometer entfernt. Sorge, weil manche den Fortschritt dann doch vermissen. Die Jugend fehlt, die Schule musste schließen, die Glasfaserkabel sind noch einige Verhandlungen entfernt. Das selbst ernannte Auszeit-Dorf hofft, nie aus der Zeit zu fallen. Gramais setzt auf einen Wandel der Außenwelt. Weg von der Masse, hin zur Genügsamkeit in der Natur.
Fast alle für die ÖVP
Selbst politisch ist Gramais erstaunlich konstant. Nirgendwo ist die Wahrscheinlichkeit höher, einem ÖVP-Fan über den Weg zu laufen. Bei der Nationalratswahl 2019 stimmten 96 Prozent für die Volkspartei. Im Juni bei der EU-Wahl war Gramais die einzige Gemeinde Österreichs, bei der die FPÖ keine einzige Stimme erhielt. Die ÖVP feierte hingegen wieder Rekordzustimmung: 96 Prozent beziehungsweise 25 Stimmen, nur eine Person wählte die SPÖ, die anderen Parteien gingen leer aus.
Die ewige Debatte über Politikverdrossenheit, der Absturz der Regierungspartei, die Protestwelle nach Corona? Bis nach Gramais schafften sie es nicht.
Klar gibt es im Ort die eine oder andere Vermutung, wer Stimme Nummer 26, die rote Stimme, sein könnte. Aber selbst in Gramais gilt das Wahlgeheimnis. „Ich weiß nicht, wer das war“, sagt Stefanie Krabacher. Auch wenn das Telefon immer wieder klingelt und ein Medium danach fragt oder wenn profil ihr im Gemeindeamt gegenübersitzt.
Notstrom im Dezember
Es ist nur logisch, dass Stefanie Krabacher die erste Ansprechperson ist. Niemand hat wohl einen besseren Einblick in Gramais. Die 39-Jährige ist seit zwei Jahren neben ihren Jobs als Ordinationsassistentin und Bäuerin auch Bürgermeisterin. Sie kennt das Alter der ältesten Bewohnerin, 96 Jahre. Sie weiß, dass zwei Menschen im Homeoffice arbeiten und das gut läuft. Sie erinnert sich genau an den vergangenen Dezember, als das Notstromaggregat wegen zu viel Schnee und Wind laufen musste. Und sie kann in das Wählerverzeichnis für die Nationalratswahl schauen, das ausgedruckt auf ihrem Schreibtisch liegt.
33 Menschen sind dieses Mal wahlberechtigt, und man kann sich schon ungefähr ausrechnen, wie sie abstimmen werden. Krabacher verzichtet gern auf ihr Wahlgeheimnis. Die Bürgermeisterin gehört, so wie ihre Gemeinde, zur ÖVP.
Überzeugt vom kargen Leben
Wer von außen hierherkommt und das Wesen von Gramais verstehen will, fragt am besten jemanden, dem es genauso ging. Gerd Kipping traf auf den Tag genau vor 55 Jahren im Urlaub seine spätere Frau, eine Gramaiserin. Natürlich kennt Stefanie Krabacher die Familiengeschichte. Sie weiß auch, dass Kipping vermutlich daheim sein wird. Der Weg ist nicht weit. Sie schließt die Tür zum Gemeindeamt ab und schiebt ihr Rad vorbei an dem einzigen Gasthaus, der „Alpenrose“, im Besitz des Vizebürgermeisters, und ihrem eigenen Zuhause bis hin zu einem hübschen Gebäude mit dunkler Holzfassade und leuchtenden Geranien.
Gerd Kipping hat seinen Hamburger Akzent nicht abgelegt, aber sich das Jodeln angeeignet. Der Orthopädie-Schuhmacher-Meister lebt schon länger in Österreich, seit 2010 in Gramais. Eine große Umstellung, denn mit 78 macht man sich Gedanken über die ärztliche Versorgung, auch den Großeinkauf muss man gut organisieren. Kipping kann sich schon an Winter erinnern, in denen das Dorf für Tage von der Außenwelt abgeschnitten war. „Aber das karge, ruhige Leben mit den vier Jahreszeiten“ hat ihn überzeugt. Er wusste auch, wenn er hier dazugehören möchte, muss er etwas beitragen. Seitdem ist er damit beschäftigt, die Vergangenheit von Gramais zu bewahren.
In einer Holzhütte hat er mit seinem Verein 1600 historische Exponate gesammelt. Sie zeigen das landwirtschaftlich geprägte Gramais, mit Wasserwaagen vom Schwiegervater und schweren Bügeleisen aus den Familienbeständen. In den 1960er-Jahren musste der Briefträger noch drei Mal die Woche zu Fuß in den Nachbarort, um die Post zu holen. Kurz danach, ab den 1970er-Jahren, entdeckten die Bewohner den Fremdenverkehr – und die Touristen die Gemeinde. Zuerst wurde im Sommer noch das beste Zimmer im Haus ausgeräumt, erinnert sich Kipping, die Familie rückte eng zusammen und seine Schwiegermutter, eine Urgramaiserin, rief: „Die Fremden kommen!“
„Uns geht es gut“
Heute ist der Aufwand gar nicht mehr nötig, auch wenn die Fremden immer wiederkommen. 120 Betten gibt es im Ort, und viele davon gehören Roland Scheidle, dem Vizebürgermeister und Chef der „Alpenrose“. In den vergangenen zehn Jahren hat er einen Wandel bei den Gästen bemerkt. „Früher kam ein brutal altes Publikum“, jetzt werde es deutlich jünger und weiblicher. Das Geschäft laufe gut, aber nicht so gut, wie es könnte. „Ein Drittel mehr Umsatz wäre möglich“, mutmaßt Scheidle, wenn er nur genug Personal finden würde.
Und dann sagt er einen Satz, den man in Gramais wohl besonders oft hört: „Uns geht es wirklich gut.“ Wenn die Gemeinde ein sinnvolles Anliegen hat, stellt das Land oder der Bund dafür Geld zur Verfügung. Die Straßen werden ausgebaut, der Lawinenschutz verbessert, die Coronamaßnahmen sieht man nicht als Anlass, der Regierung etwas auszuwischen. Wenn hier in diesen Tagen jemand Richtung Wien schimpft, dann höchstens, wenn es um die Bären geht, die schon Schafe gerissen haben – ein Problem, für das es in der Hauptstadt wenig Verständnis gebe.
Gramais ist genügsam und glücklich, das merkt auch Pfarrer Otto Walch. Neun Gemeinden betreut er, und er warnt vor Vorurteilen: „Ich habe schon deutlich konservativere Dörfer als Gramais erlebt.“ Ruhig sei Gramais – und traditionell. Mit einer Gefahr: das Fehlen der Jugend.
Tatsächlich ist die einzige Statistik, die Gramais fürchtet, wohl die der Altersstruktur. 2001 lebten 60 Menschen hier, 15 davon unter 15 Jahren. Heute gibt es insgesamt vier Kinder im Ort, davon zwei der Bürgermeisterin Stefanie Krabacher. Es wäre schön, wenn der Ort wachsen würde, sagt sie, wobei in ihrer Familie schon gescherzt wurde: Bitte nicht zu viel, man will ja der kleinste Ort bleiben. Ein Kran im Panorama markiert die Stelle, an der ein Haus mit vier geförderten Wohnungen entsteht. Recht viel größer kann Gramais ohnehin nicht mehr werden: „Wir haben keinen Leerstand.“ Die Gipfel lassen nur wenig Raum zur Ansiedelung, wobei ein bisschen Platz noch da wäre.
Wer hierher will, muss aber, wie die anderen Bewohner, genügsam sein. Gramais, sagt Roland Scheidle, ist wie Leber. „Entweder man mag’s oder man mag es nicht.“ Wer zurückkommt, tut es immer wieder, glaubt er. Reiner Selbstversorger muss man dafür nicht mehr sein. Von Mai bis Oktober hat Monis Hofladen geöffnet.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.