Affäre

Fußgängerzone an der Grenze: Die List von Schattendorf

Darf ein Bürgermeister direkt an der Grenze eine Fußgängerzone errichten, um den Pendlerverkehr zu stoppen? Eine kuriose Staatsaffäre zwischen dem Burgenland und Ungarn.

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Thomas Hoffmann war sechs oder sieben Jahre alt, als seine Großmutter ihren ersten Reisepass bekam. Er erinnert sich noch heute daran, wie sehr sie sich damals freute. Es war das Jahr 1989, der Eiserne Vorhang fiel, und die kleine burgenländische Gemeinde Schattendorf lag plötzlich nicht mehr an einer unüberwindlichen Demarkationslinie, sondern einen kurzen Fußmarsch entfernt von der ebenso kleinen Nachbargemeinde namens Ágfalva, auf Deutsch: Agendorf. Thomas Hoffmann begleitete seine Großmutter von da an oft, wenn die alte Frau in Ungarn Topfen oder Paprika oder andere Lebensmittel kaufte, die da billiger waren. Seine Eltern hatten wenig Zeit, der Vater war Schlosser, die Mutter Küchengehilfin.

Später dann, als Thomas Hoffmann ein Musikinstrument erlernen wollte, wie viele Buben und Mädchen im Dorf, entschied er sich für die Tuba. Sein erster Musiklehrer war ein ungarischer Tubaspieler aus der Stadt Sopron (Ödenburg), der meist mit dem Fahrrad nach Schattendorf kam. Hoffmann wurde Tubist und bald auch Obmann des örtlichen Musikvereins "Frisch Auf". Man pflegte regen Austausch mit Gleichgesinnten drüben in Sopron und organisierte Konzerte auf beiden Seiten der Grenze.

Die Straße des Anstoßes

Heute ist Thomas Hoffmann Bürgermeister von Schattendorf. Stolze 81,9 Prozent stimmten im vergangenen Oktober für den SPÖ-Kandidaten. In seinem Wahlprogramm versprach er unter anderem, den Verkehr im Ort "drastisch zu reduzieren". Er benannte darin auch gleich das konkrete Problem, nämlich den "zu einer Transitpendlerstrecke verkommenen Verbindungsweg zwischen Schattendorf und Agendorf".

Ein Begriff kam in der Broschüre zwar nicht vor, doch sollte er bald eine entscheidende Rolle spielen: die Grenze. Und damit verbunden die Fragen: Wer darf sie überqueren? Und wer nicht?

Der Verkehr, der in Schattendorf seit Langem als Ärgernis empfunden wird, kommt aus dem Einzugsgebiet von Agendorf. Es sind ungarische Pendler, die frühmorgens zur Arbeit ins Burgenland oder nach Niederösterreich kommen und abends nach Hause fahren. Der kürzeste Weg führt sie dabei über die schmale, einspurige Straße, die Agendorf mit Schattendorf verbindet.


Das ist nicht irgendeine Straße. Es war ein großer Moment, als die Bürgermeister der beiden Gemeinden im Jahr 2007 einen Partnerschaftsvertrag unterzeichneten, der im Rahmen des "Programms zur grenzüberschreitenden Kooperation Österreich-Ungarn 2007-2013" von der Europäischen Union abgesegnet und vor allem auch subventioniert wurde. Die EU ließ sich die Wiederherstellung der Wegstrecke zwischen den beiden Grenzdörfern mehr als eine halbe Million Euro kosten. Niemand hatte etwas gegen die Völkerverbindung einzuwenden.

Als jedoch die Pendler die Straße entdeckten, trat die schöne Idee des Zusammenwachsens in Europa in den Hintergrund. 2015 wurde ein temporäres Fahrverbot verhängt, das zwischen fünf und acht Uhr früh sowie zwischen 16 und 19 Uhr galt. Bloß hielt sich bald niemand mehr daran, oder die Pendler fuhren noch früher oder eben ab acht Uhr.

Im Ort wuchs der Ärger. Als sich schließlich nacheinander zwei Verkehrsunfälle ereigneten, wurde der Pendlerverkehr zum Thema Nummer eins. Erst landete ein Radfahrer im Krankenhaus, dann wurde ein 91 Jahre alter Fußgänger von einem Auto erfasst und schwer verletzt.

Das Versprechen des Bürgermeisters


Im Wahlprogramm 2022 kündigte Bürgermeisterkandidat Hoffmann noch kühn eine "Schrankenlösung" an, um dafür zu sorgen, dass nur noch Bewohnerinnen und Bewohner von Schattendorf und Agendorf den Verbindungsweg befahren können. Doch daraus wurde zunächst nichts. Das Innenministerium schaltete sich ein und erteilte dem übermütigen Bürgermeister eine juristische Lektion in den Themenbereichen "Grenzkontrollgesetz" und "Schengener Übereinkommen". Kurz gefasst: kein Balken an der Grenze.

Doch Hoffmann gab nicht klein bei. Es war sein erstes Jahr als Bürgermeister, und was er seinen Wählerinnen und Wählern versprochen hatte, wollte er auch halten. Er schrieb einen offenen Brief an Innenminister Gerhard Karner, die "Kronen-Zeitung" berichtete, und schließlich kam es am 20. Jänner dieses Jahres zu einem Runden Tisch im Gemeindeamt von Schattendorf.

Anwesend waren hochrangige Vertreter des Innenministeriums, der Landespolizeidirektion, der Bezirkshauptmannschaft, der Verkehrsabteilung der Landesregierung und der Polizeiinspektion Schattendorf. "Großteils in Uniform und hochdekoriert" waren sie erschienen, erzählt Hoffmann, doch die Stimmung sei "schwierig" gewesen: "Sie haben mir gesagt, was wir alles nicht tun dürfen." Gleichzeitig bekannten die Vertreter der Exekutive ein, dass sie nicht die Kapazitäten hätten, das geltende, stundenweise Fahrverbot an der Grenze zu kontrollieren.

Hoffmann präsentierte noch einmal seine Idee einer "Balkenlösung",die eine automatische Kennzeichenerkennung vorsah. Ein Anbot von Siemens hatte der Bürgermeister bereits einholen lassen. Das sei datenschutzrechtlich nicht zulässig, winkten die Vertreter des Innenministeriums ab.

Der Bürgermeister war jedoch nicht allein gekommen. Er hatte einen Anwalt beauftragt, ihm die juristischen Stolpersteine aus dem Weg zu räumen. Johannes Zink, dunkelblauer, dreiteiliger Anzug, Manschettenknöpfe, gelockerter Krawattenknoten, lächelt freundlich-listig. "Mein Mandant will keine Grenze schließen",sagt er im Gespräch mit profil vergangenen Dienstag im Gemeindeamt von Schattendorf. Es gehe ausschließlich um den Verkehr, und der entstehe in Schattendorf nur "durch Zufall" am Ende einer Grenzstraße. Doch Hoffmann und Zink haben gemeinsam etwas ausgeheckt.

Die Fußgängerzone

Beim Runden Tisch mit den Vertretern des Innenministeriums rückten der Bürgermeister und sein Anwalt schließlich mit einem überraschenden Vorschlag heraus: "Dann machen wir eben eine Fußgängerzone." Hoffmann und Zink räumen ein, dass das eine "kreative" Idee sei, allerdings ihrer Meinung nach rechtlich wasserdicht. Die Errichtung einer Fußgängerzone in einer Gemeindestraße fällt in die Kompetenz der Gemeinde und sei laut Straßenverkehrsordnung, Paragraf 76a, möglich, wenn es die "Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des Verkehrs" erfordere. Anwalt Zink: "Mein Mandant wendet rechtskonform die STVO an." Die Grenze werde davon nicht berührt. Wer sie jedoch mit einem Auto überqueren will, landet unweigerlich an der Fahrverbotstafel der Fußgängerzone.

Eine Fußgängerzone am Ortsrand einer 2500-Einwohner-Gemeinde ist eine ziemliche Seltenheit. Bürgermeister Hoffmann argumentiert, dass entlang und in unmittelbarer Nähe der Agendorferstraße jede Menge neuralgischer Orte seien: der Friedhof, die Kirche, der Kindergarten, das Freizeitzentrum, das Freibad und demnächst auch ein Pflegestützpunkt. Jetzt stehen bereits Absperrgitter da, wo nach einer Bauzeit von zwölf Wochen versenkbare Poller aus dem Asphalt ragen werden. Hoffmann ist zufrieden.

Skizze der geplanten Fußgängerzone

Wird seine List am Ende zum Erfolg führen? Einer der möglichen Haken sind die Ausnahmegenehmigungen, die von der Gemeinde ausgestellt werden, wenn jemand ein berechtigtes Interesse belegen kann, mit dem Auto durch die Fußgängerzone zu fahren. Die knifflige Frage: Für wen gilt das?

Die Gemeinde lässt sich noch nicht in die Karten schauen, aber bisher ist durchgesickert, dass sich Schattendorfer und Agendorfer um 160 Euro für zwei Jahre eine solche Ausnahmegenehmigung kaufen könnten, und dass Schattendorfer dafür Einkaufsgutscheine im selben Wert erhielten. Wer aber darüber hinaus ein "berechtigtes persönliches oder wirtschaftliches Interesse" geltend machen kann, bleibt unklar.

Haben ungarische Pendler, die einen Umweg über den nächstgelegenen Grenzübergang Klingenbach machen müssten, ein berechtigtes Interesse? Hoffmann sagt nein.

Mein Mandant will keine Grenze schließen.

Johannes Zink, Anwalt des Bürgermeisters

Auf der anderen Seite der Grenze

Am anderen Ende der Agendorferstraße liegt die Ortschaft Ágfalva (Agendorf).Das Gemeindeamt ist in einem einstöckigen Haus untergebracht. Bürgermeisterin Zsuzsánna Pék hat bereits einen Brief von ihrem Schattendorfer Amtskollegen erhalten, in dem er ihr die Sachlage erklärt. Glücklich ist sie darüber nicht, denn das Projekt Fußgängerzone bringt sie in der eigenen Gemeinde in eine Zwickmühle. Manche Anrainer seien froh, wenn der Verkehr nachlässt, während die Pendler weiterhin den Grenzübergang nutzen wollen. Pék soll als Bürgermeisterin die Interessen aller vertreten. Eine unmögliche Aufgabe, allerdings hat sie ohnehin keine Handhabe.

Doch der Widerstand formiert sich bereits. Der Bürgermeister von Sopron, Ciprián Farkas, hat einen erbosten offenen Brief an den ungarischen Außenminister Péter Szijjártó geschrieben. Österreich habe "in unverständlicher, unfairer, unfreundlicher und unvorhersehbarer Weise gehandelt", klagt er darin. Szijjártó rief daraufhin Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil an, um das Anliegen vorzutragen. Das Telefonat endete ohne konkretes Ergebnis.

Die ungarische Online-Zeitung "Ungarn heute" titelte kürzlich: "Österreich verstößt gegen Schengen: Ein Eiserner Vorhang senkt sich um Sopron".Das erscheint angesichts des rund um die Uhr geöffneten Grenzübergangs Klingenbach einigermaßen übertrieben, doch die Fußgängerzonen-Affäre hat auch eine emotionale Komponente.

Bei der österreichischen Volksanwaltschaft ging bereits eine Beschwerde einer ungarischen Staatsbürgerin ein, die der Gemeinde Schattendorf vorwirft, ungarische Pendlerinnen und Pendler, die in Österreich ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen, zu diskriminieren.

Die Frau, die ihren Namen nicht öffentlich machen möchte, sagt im Gespräch mit profil, sie fühle sich nicht als gleichberechtigte Bürgerin der Europäischen Union behandelt. Als Angestellte einer sozialen Einrichtung im Burgenland fährt sie jeden Tag über den Grenzübergang in Schattendorf, die Route über Klingenbach bedeute für sie einen Umweg von 30 Kilometern und einer halben Stunde Fahrzeit pro Tag. Doch das sei für sie gar nicht das Wichtigste. Sie erinnert an die Zeit des Kommunismus und der geschlossenen Grenzen und daran, dass sie und ihre Landsleute einen Kampf für die Freiheit geführt haben. Niemand habe das Recht, jetzt eine Grenze zu schließen und das Durchfahrtsrecht um 160 Euro zu verkaufen, sagt sie empört.

Um Gerechtigkeit für sich und ihre Kolleginnen und Kollegen zu erkämpfen, habe sie sich an die Volksanwaltschaft gewandt. Sollte das nicht zum Erfolg führen, will sie eine weitere Beschwerde an die Europäische Ombudsstelle richten.

Es bleibt ein Grenzfall

Der Plan des Schattendorfer Bürgermeisters, die ganze Angelegenheit der Fußgängerzone bloß als verkehrstechnische Maßnahme zu behandeln, gerät ins Wanken. Es macht, je nach Perspektive, eben doch einen Unterschied, ob eine Fahrverbotstafel an einer beliebigen Stelle eines Dorfes steht oder wenige Meter nach einem Grenzübergang.

Thomas Hoffmann lässt vorerst Fakten schaffen. Die Poller werden montiert, das technische Vignetten-System für die geplanten Ausnahmegenehmigungen angeschafft, die Kosten von rund 100.000 Euro sind vom Gemeinderat beschlossen.

Das Innenministerium zeigt sich auf profil-Anfrage zugeknöpft. Es sei "für die Lösung verkehrspolizeilicher Herausforderungen auf Gemeindestraßen nicht zuständig".Auf die Nachfrage, ob die Fußgängerzone an der Grenze möglicherweise ein EU-rechtliches Problem darstellen könnte, möchte das Ministerium mangels Zuständigkeit "keine rechtlichen Einschätzungen" abgeben.

Außenminister Szijjártó und Landeshauptmann Doskozil werden in den kommenden Wochen ein weiteres Gespräch zu führen.

Die Straße zwischen Agendorf und Schattendorf mag schmal sein, nicht einmal breit genug, dass zwei Autos aneinander vorbeifahren können, ohne auf das Bankett auszuweichen, doch es ist eine Straße, die über eine Grenze führt, die eine lange Geschichte hat. Die Tatsache, dass sie so lange unüberwindlich war, ist vielen im Gedächtnis geblieben, und so bedeutsam die Wiederherstellung des Verbindungsweges war, so bedeutsam ist es nun auch, wenn er plötzlich an einer Fußgängerzone enden soll. Auch wenn vier Poller noch lange keinen Eisernen Vorhang machen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur