Griechenland

Reportage. Korrupte Griechen, Athen im Zorn, Rettung in letzter Minute

Drucken

Schriftgröße

Von Gunther Müller, Athen

Es ist kurz vor Mitternacht, Bob Dylans „All along the Watchtower“ dröhnt aus den Boxen, als es wieder knallt. Rauchwolken steigen auf, Menschen fliehen in alle Himmelsrichtungen – Tränengasgranaten, die griechische Polizisten auf die Demonstranten abgefeuert haben.

Brennen in den Augen, Atemnot, Schwindelgefühl? „Keine Panik, und vor allem: Nicht die Augen reiben!“ Die revolutionserprobten Protestler auf dem Syntagmaplatz, die seit mehr als einem Monat im Park vor dem griechischen Parlament in Athens Innenstadt in Zeltlagern kampieren, wissen, wovon sie sprechen. Und sie wissen, wie man sich entsprechend schützt: Taucherbrille und Mundmaske anlegen; und Maalox, eigentlich ein Mittel gegen Sodbrennen, ins Gesicht schmieren.

Pater Nektarios, ein orthodoxer Priester mit Rauschebart und schwarzem Kittel, tritt kurz vor der offiziellen Nachtruhe noch einmal ans Rednerpult. Wie ein spartanischer Heerführer stimmt er die Massen auf eine „blutige Schlacht“ ein. „Sie dachten, wir laufen davon, wenn sie hier alles mit Gas verseuchen. Aber wir sind geblieben, und morgen werden wir sie aufhalten. Gott ist auf unserer Seite“, faucht der revolutionäre Priester. Verhaltener Applaus.

Die meisten mussten es wohl geahnt haben: Gott sollte sich nicht auf die Seite des griechischen Volks, sondern auf die der Europäischen Union, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank schlagen. Die „Troika“ zwang die Regierung des sozialistischen Premierministers Giorgos Papandreou, das größte Sparpaket in der Geschichte des Landes durchzupeitschen – als Bedingung für die nächste Tranche an Hilfskrediten des IWF. 78 Milliarden soll Hellas bis 2015 einsparen.

Und jeder Grieche, ob arm oder reich, jung oder alt, muss seinen Beitrag leisten. 28 Milliarden sollen durch Steuererhöhungen und Lohnkürzungen in die Staatskassen fließen. Der Rest, 50 Milliarden Euro, werde durch Privatisierungen von Staatsbesitz finanziert werden, verspricht Papandreou.
Um 14.39 Uhr ging die Nachricht aus Athen um die Welt: Die Mehrheit im griechischen Parlament stimmte für das Spargesetz. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, der Chef der Eurogruppe Jean Claude Juncker, EU-Präsident Manuel Barroso, die kommende IWF-Generalsekretärin Christine Lagarde, Finanzexperten, Investoren, Analysten: Alle waren plötzlich „höchst zufrieden“ mit dem Dauerpatienten Griechenland.
Alle – außer den Griechen selbst.

Denn draußen vor dem Parlament herrschte Ausnahmezustand. Im Sekundentakt explodierten Tränengasgranaten, ein Großteil der rund 20.000 Demonstranten musste, nach Luft ringend, abziehen. Dutzende kollabierten und wurden mit Atembeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. In den Gassen flogen Steine, Polizisten schlugen von Motorrädern auf Vermummte ein, Gebäude und Kioskbuden brannten, Blut klebte auf dem Zement.

Szenen, die an die Revolution auf dem Tahrir-Platz in Kairo erinnern – plötzlich passieren sie mitten in Europa. Unter den „Extremisten“, wie einige Fernsehkanäle die Protestierenden pauschal bezeichnen, ist Vasilis Tsiaminas, ein 43-jähriger Schuhverkäufer, der seinen Laden zusperren muss, weil er sich die zusätzlichen Steuern bei gleichzeitig schwindender Kundschaft nicht mehr leisten kann; da ist Ellie Panisteou, eine Volksschullehrerin, die weinend sagt, sie könne ihre drei Kinder nicht länger finanzieren; oder Andras Mistas, ein schnauzbärtiger Pensionist, der bis vor vier Jahren als Werftarbeiter geschuftet hat und sich jetzt nach einer kleineren Wohnung außerhalb des Stadtzentrums umsehen muss.

Vor einem Jahr erst hatte Griechenlands Regierung dem Volk das erste große Sparpaket aufgebürdet. 20 Prozent ihres Einkommens haben die Griechen durchschnittlich seither verloren. „Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren sein strukturelles Defizit binnen eines Jahres so stark gesenkt“, anerkannte selbst die Ratingagentur Fitch. Seither ist das Budgetdefizit von 14 auf neun Prozent gesunken.

Doch es folgt der nächste Schlag:
„Wer bislang 13.000 Euro im Jahr verdiente und 180 Euro Steuern bezahlte, verliert nun zusätzliche 530 Euro. Das ist eine Steuererhöhung von 295 Prozent“, klagt der linke Athener Ökonom John Milios. Die reichen Griechen würden mit einem Einkommen von über einer Million Euro aber nur 52.000 Euro mehr bezahlen – also gerade einmal neun Prozent ihres Einkommens.

Fair ist das nicht. Andererseits: Hatten Papandreou und seine PASOK-Partei überhaupt eine Wahl? Ein „Nein“ zum Spar­paket hätte einen endgültigen Staats­bankrott, ja wahrscheinlich sogar einen Ausschluss aus dem Euro bedeutet. Das Horrorszenario eines Bürgerkriegs war für manche Beobachter nicht mehr abwegig. Die Grenzen zwischen Gerechtigkeit und Notwendigkeit sind derzeit fließend.

Und so ist auch die Frage, wer die Schuld für das Finanzdesaster trägt, nicht pauschal zu beantworten. „Es sind einzig die korrupten Regierungen“, klagen die meisten Demonstranten auf dem Syntagmaplatz. Das greift freilich viel zu kurz. „Jahrzehntelang haben uns die Politiker gesagt, dass sie sich um alles kümmern, wir bräuchten uns keine Sorgen machen. Wir haben es ihnen geglaubt und nichts hinterfragt – das wird uns allen jetzt zum Verhängnis“, sagt Thanos Veremis, Historiker und Vizepräsident der griechischen Stiftung für Europa- und Außenpolitik (siehe Interview). „Für alle war Geld da, und kaum einer sah sich verpflichtet, etwas in den Staat einzuzahlen.“

Steuerhinterziehung:
das Problem Nummer eins in Griechenland. Bis zu 30 Milliarden Euro entgehen dem Fiskus jährlich an Steuereinnahmen. Mit dieser Summe könnte Athen seine Schulden ohne Fremdhilfe tilgen. Was läuft also schief?

„Die meisten zahlen ohnehin brav, ihnen werden als Angestellten automatisch die Steuern abgezogen“, versichert Giorgos Koromilas, Vizepräsident des Athener Institute for Fiscal Studies. „Das Problem liegt bei den Selbstständigen, den Kleinunternehmen und Restaurants. Personal wird nicht angemeldet, auf Rechnungen wird verzichtet.“ Die elektronischen Kontrollsysteme seien extrem veraltet und die Behörden nicht untereinander vernetzt. „Missbrauch ist daher vorprogrammiert“, sagt Koromilas.

Zu den notorischen Steuersündern gehört auch Maria, eine 28-jährige Grafikdesignerin. Die junge Frau mit den wallenden schwarzen Locken lädt zu einem Kaffee in ihre 40-Quadratmeter-Wohnung im Studentenviertel Exarchia ein und zeigt ihren Steuerbescheid aus dem Jahr 2010. Monatliche Miete: 250 Euro, Sozialversicherung: 150 Euro, Einkommen: gar nichts – zumindest offiziell.

1000 Euro verdient Maria im Monat, zehn Stunden und sechs Tage die Woche arbeitet sie dafür. Das Geld bekommt sie von ihrem Chef bar ausbezahlt. „Niemand hat unnötigen Ärger mit dem Finanzministerium, und ich erspare mir die Einkommensteuer.“ Fast alle Freunde von Maria arbeiten entweder illegal oder auf der Basis von Halbjahresverträgen, die derzeit aber kaum verlängert werden. „Anders findest du kaum einen Job. Die meisten Unternehmen müssten zusperren, wenn sie sich an alles halten. Wenn das eine Sünde ist, dann bitte schön.“

Viel Geld ist bei der Kleinverdienerin aus Exarchia ohnehin nicht zu holen – anders als bei den Privatärzten, von denen viele lieber ohne Rechnung behandeln. Fünf Gehminuten von Exarchia entfernt liegt Kolonaki, eines der schicksten und teuersten Viertel Athens. Durchschnitt­liche Mietpreise: 2000 Euro für 100 Quadratmeter. Vergangenes Jahr meldete ein Zahnarzt aus Kolonaki nur 300 Euro Einkommen für das ganze Jahr 2009. Ein anderer will lediglich 640 Euro erwirtschaftet haben – Absurditäten, die jedoch erst seit der großen Krise im vergangenen Jahr thematisiert werden.

„Wir haben viel gelernt, aber leider noch nicht die nötigen Resultate erzielt“, seufzt Ilias Plaskovitis, Generalsekretär des griechischen Finanzministeriums. Die Suche nach den Steuersündern laufe seit einem Jahr aber auf Hochtouren: Restaurants, die keine Rechnungen ausstellen, werden bestraft. Yachtbesitzer, die behaupten, ihre Schiffe seien rein geschäftliche Transportmittel, nimmt man genau unter die Lupe. Mittels Google Earth sollen jetzt auch die Besitzer von Swimmingpools – ein steuerpflichtiges Luxusgut – ausfindig gemacht werden. 18 Prozent der Griechen, die innerhalb des letzten Jahres Kontakt zu öffentlichen Stellen hatten, bestätigten in Umfragen, dass sie Bestechungsgelder bezahlt haben: für Betten in Krankenhäusern, einen Anschluss an das öffentliche Kanalnetz, für illegale Bauten auf einer Insel. Allein im öffentlichen Gesundheitswesen, so ergab die Umfrage, zahlt ein Drittel der griechischen Bürger Bestechungsgelder. „Wenn ich ein Rezept will, muss ich zu vier unterschiedlichen Behörden gehen. Wer soll sich das antun?“, sagt die Grafikdesignerin Maria achselzuckend.

Die wahrscheinlich höchsten Beträge bleiben für die Behörden jedoch unantastbar: Bis zu 560 Milliarden Euro sollen griechische Millionäre in der Schweiz, in Liechtenstein und in London gebunkert haben. Zum Vergleich: Das griechische Bruttosozialprodukt beträgt derzeit knapp 230 Milliarden Euro.

Hinter der Steuerhinterziehung steckt letztlich nicht nur ein obsoletes System, sondern auch tiefes Misstrauen in den Staat. Fast 60 Prozent der Griechen sagen, dass Steuerhinterziehung in einem korrupten Staat eine „logische Reaktion“ sei. „Ich würde auch von 300 Euro im Monat leben, wenn ich wüsste, dass eine Regierung an der Macht ist, die wirklich für uns kämpft“, versichert Dimiris, ein pensionierter Transportunternehmer, der aus Geldnot in das Haus eines befreundeten Immobilienhändlers gezogen ist. „Aber mit diesen Leuten an der Spitze, die immer nur an ihre Günstlinge denken – keine Chance.“

Mit „Günstlingen“ meint man in Griechenland für gewöhnlich die Angestellten der staatlichen und staatsnahen Betriebe: überhöhte Gehälter, Boni für das pünkt­-liche Erscheinen bei der Arbeit, Kündigungsschutz, die Möglichkeit, noch vor dem 50. Lebensjahr in Pension zu gehen – ein Großteil dieser Privilegien wurde bereits im vergangenen Jahr abgeschafft. Ein Drittel der insgesamt 800.000 Staatsbeamten will man in den nächsten Jahren abbauen.

Aber genügt das wirklich, um Griechenland zu retten?
Es ist 16.55 Uhr, knapp zwei Stunden nach Abstimmung über das Sparpaket im Parlament. Wer an diesem Tag in das ockerfarbene Gebäude eintreten will, muss fünf Sicherheitskontrollen passieren und Metallgegenstände beim Portier abgeben. Drinnen herrscht eine erstaunlich entspannte Stimmung, in der Cafeteria sitzen Abgeordnete bei Kaffee und Kuchen, man raucht, scherzt und bespricht die Urlaubs­pläne. Im Hintergrund zeigt ein Flachbildschirm die Straßenschlachten, keine dreißig Meter Luftlinie von hier entfernt.

Auf einer Couch sitzt Elena Panaritis, Mitglied der regierenden PASOK-Partei, zuvor bei der Weltbank als Expertin für Institutionsökonomie aktiv. „Unsere größte Aufgabe wird es sein, die Staatsbetriebe zu privatisieren. Auch wenn das bedeutet, dass wir die nächsten Wahlen verlieren werden“, sagt Panaritis – und spricht wohl damit ein Kernproblem des griechischen Systems an.

In Griechenland kontrolliert der Staat bis heute Kasinos, Elektrizität, Flughafen und Wasserwerke, fast alle schreiben rote Zahlen. Die großen Parteien – die regierende PASOK, aber vor allem auch die konservative Nea Dimokratia – haben über Jahrzehnte ein System des Klientelismus aufgebaut und in den Betrieben ihre Heerscharen von Anhängern untergebracht. „Immer wenn eine Partei die Regierung übernimmt, besetzt sie Hunderttausende von Stellen mit ihren Mitgliedern“, sagt die Athener Politologin Vassiliki Georgiadou.

Dass Papandreou seine eigene Wählerschaft vergrault und damit seine Abwahl besiegelt – daran glauben politische Beobachter nicht. „Jetzt kommt der Sommer, alle fahren ans Meer. Im Herbst wird man auf einige der wesentlichen Reformpunkte schlichtweg vergessen“, prophezeit der Wirtschaftsjournalist Antonis Papagiannidis.

Der Schlüssel für die Rettung der Griechen liegt nicht in Brüssel, nicht im Büro des Internationalen Währungsfonds in Washington, bei den Ratingagenturen und Börsen. Er liegt letztlich in Athen selbst.