Grüne Grauzonen: Die Causa Schilling und ihre Folgen
Lena Schilling sollte für die Grünen das gute Gewissen im EU-Wahlkampf sein, jetzt wird ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt. Das Krisenmanagement und die Aufarbeitung der Causa gestalten sich als Gratwanderung.
Es ist Montagmorgen, 6. Mai, 8.30 Uhr, als die Kommunikationschefin der Grünen ein E-Mail bekommt, das sie noch lange beschäftigen wird. Absender ist die Tageszeitung „Der Standard“, der Inhalt eine umfassende Anfrage zu Lena Schilling. In Themenblöcken geordnet wird um eine Stellungnahme zu teils detailliert beschriebenen Vorwürfen gebeten. Ihnen liegt eine grundsätzliche, heikle Frage zugrunde: Nimmt es die EU-Spitzenkandidatin der Grünen mit der Wahrheit nicht so genau, womöglich auf Kosten anderer Personen?
Medien geben ihren Gesprächspartnern für gewöhnlich Fristen, bis wann sie die Informationen für ihre Berichterstattung brauchen. Der „Standard“ bat um eine Rückmeldung bis zum Nachmittag desselben Tages, 15.30 Uhr. Das Kommunikationsteam beriet sich und sandte eine Beantwortung retour, die nur auf einen kleinen Teil der Anfrage einging. Dann wartete die Runde. Nach Redaktionsschluss am Montagabend kam der Artikel nicht, er fand sich auch am Dienstagmorgen nicht in der Zeitung. Bei den Grünen machte sich eine Hoffnung breit, von der man selbst wusste, dass sie irrational war: Hatte der „Standard“ doch auf eine Veröffentlichung verzichtet?
Am späten Dienstagnachmittag, 18.30 Uhr, war die Hoffnung dahin: Die Grünen hatten gerade ihren Wahlkampfauftakt am Wiener Karlsplatz offiziell beendet, viele „Freundinnen, Freunde und Verbündete“, die Lena Schilling auf der Bühne noch begrüßt hatte, waren schon auf dem Heimweg, da ging der Artikel online. Es ist eine heikle Recherche, das schreibt das Medium selbst. Der Umgang damit ist eine Gratwanderung für die Öffentlichkeit und die Partei, weil einige Hintergründe nicht bekannt sind, sich nur schwer überprüfen lassen oder aus medienrechtlichen Gründen nicht öffentlich gemacht werden können. Immerhin berührt die Causa nicht nur Schillings Privatsphäre, sondern auch jene mehrerer anderer Personen.
Die Grünen haben in Lena Schilling, 23, viele Hoffnungen gesteckt. Eine junge, rhetorisch begabte Frau und Newcomerin, sticht in einer Runde von Politik-Herren hervor. Sie soll jungen Menschen eine Zukunftsperspektive geben, die der Politik oder den Grünen nicht (mehr) vertrauen. Deswegen forcierte Klubchefin Sigrid Maurer die Spitzenkandidatur einer Quereinsteigerin, auch wenn es politisch erfahreneres Personal gegeben hätte. Grünen-Chef Werner Kogler unterstützte sie dabei. In guten Momenten, beim Wahlkampfauftakt mit jubelnder Menge, sieht sich die Parteispitze verantwortlich für die Förderung eines politischen Talents. Und jetzt?
Gefährliche Gerüchte
An besagtem Dienstagnachmittag, 18.30 Uhr, stellen sich die Grünen diese Frage mehrmals. Immerhin wissen sie nun, welche Vorwürfe es aus der Anfrage an die Öffentlichkeit geschafft haben, wenn auch in abgeschwächter Form. Im Kern soll Schilling falsche Gerüchte über Dritte verbreitet haben, die schwerwiegende Auswirkungen für die Betroffenen haben könnten. Da wäre einmal ein Moderator, dem Schilling Affären mit Politikerinnen angedichtet haben soll. Das Gerücht könnte die Objektivität des Journalisten infrage stellen.
Ein weiterer Journalist, rekonstruierte profil, war Schilling und anderen Frauen offenbar mit als unprofessionell empfundenem Verhalten aufgefallen. Als der Arbeitgeber über Umwege davon erfuhr, musste sich der Journalist rechtfertigen. Er legte Chats zwischen ihm und Schilling vor. Gröbere berufliche Konsequenzen blieben in der Folge für den Journalisten aus. Lena Schilling machte gegenüber dem Arbeitgeber keine Angaben. profil entscheidet sich bewusst dazu, keine weiteren Details zu berichten. Auch weil sich die betroffenen Personen oder Arbeitgeber nicht dazu äußern wollen. Das macht die öffentliche Aufarbeitung auch für die Grünen schwierig. Die Partei muss in ihrer Verteidigung abwägen, wie viel Privates öffentlich werden darf. Dass die Grünen von all diesen Vorwürfen gegen ihre Spitzenkandidatin überrascht wurden, erschwerte die Krisen-PR zusätzlich.
Öffentlicher Streit
Andere Vorgänge beschäftigen die Partei schon länger: Der „Standard“ verknüpft den Rücktritt von Clemens Stammler mit Lena Schilling. Der grüne Abgeordnete war nach einer profil-Recherche im vergangenen Oktober zurückgetreten. Es ging um wenige Minuten lange Geschehnisse beim Ausgang des Wiener Clubs U4 nach einer Partynacht, AMS-Chef Johannes Kopf werkte als DJ, vor vielen Vertretern aus Politik und Medien. profil berichtete, gestützt auf Schilderungen mehrerer Zeugen, von einem Übergriff. Stammler war im heftigen Gespräch mit einer NGO-Aktivistin und soll sich dabei so aggressiv verhalten haben, dass ein Journalist eingriff. Daraufhin attackierte Stammler den Journalisten körperlich. Aus Gründen des Opferschutzes nannte profil weder den Namen des Journalisten noch jenen der Aktivistin. Stammler trat wegen des körperlichen Übergriffes zurück und entschuldigte sich öffentlich.
Im grünen Parlamentsklub gab es offenbar Unmut darüber, wie Sigrid Maurer den Rücktritt kommunizierte, beschreibt der „Standard“. Sie habe nicht offengelegt, dass es sich bei der NGO-Aktivistin um Lena Schilling handelt. Stammler selbst meldete sich vergangene Woche in den „Oberösterreichischen Nachrichten“ zu Wort. Er berichtete von einer „emotionalen Diskussion“ mit Schilling an jenem Oktoberabend, die profil von Zeugen als verbale Belästigung geschildert wurde. Schilling habe schon vor dem Abend fälschlicherweise behauptet, er habe sie belästigt, sagte Stammler. Diese Vorwürfe, sollte es sie geben, waren in der profil-Berichterstattung nie Thema. Der Rücktritt fand allein wegen der Handgreiflichkeiten statt. Stammler sagt selbst heute, dass er unvermeidlich war.
Am klarsten ist allerdings jener Vorwurf, von dem es ein offizielles Schriftstück gibt, inklusive Unterschrift. Schilling hat im engen privaten Umfeld erzählt, Veronika Bohrn Mena habe durch die Gewalt ihres Mannes Sebastian ein Kind verloren. Das Paar erfuhr von den Gerüchten und machte Schilling als Quelle aus. Am 12. April wurde vor Gericht ein Vergleich geschlossen: Schilling darf diese Behauptung nicht mehr äußern. Auch dass Sebastian Bohrn Media in der Stiftung „Común“ des Ehepaars „wie die Mafia“ agiere, darf Schilling nicht wiederholen.
Als der „Standard“ die gesammelten Vorwürfe veröffentlicht, fahren die Grünen in die Parteizentrale auf der Mariahilfer Straße. Absatz für Absatz gehen sie den Artikel durch, um ihre Strategie auszuarbeiten. Worauf können sie im Detail öffentlich eingehen? Lässt sich an einer Stelle der Gegenbeweis antreten? Was, wenn weitere Vorwürfe dazukommen?
Krisenmanagement
Das Team einigt sich darauf, am nächsten Tag eine Pressekonferenz einzuberufen, mit Grünen-Chef Werner Kogler ist die Strategie telefonisch abgestimmt. Da manche Vorwürfe nicht im Detail beschrieben werden, beschließt man selbst auch, in der Kommunikation nicht konkret zu werden – mit Ausnahme des Vergleichs. Ziel ist, ein Zeichen zu setzen: Die Partei steht hinter Lena Schilling. Und weil die Partei nicht nur Werner Kogler oder Sigrid Maurer ist, sollen auch die beiden Vize-Obleute Leonore Gewessler und Stefan Kaineder auftreten. Es trifft sich gut, dass der Oberösterreicher wegen eines anderen Termins in Wien ist.
Ich hoffe, es ist akzeptabel, dass mein Privatleben noch mein Privatleben ist.
Lena Schilling
Vor Mitternacht schicken die Grünen die Einladung zum Medientermin aus und bleiben eine Weile noch im Büro sitzen. Weil der Ministerrat der Regierung am Vormittag tagt, wird die Pressekonferenz auf 8.30 Uhr angesetzt, das erweckt zusätzlich den Eindruck einer akuten Krisensituation. Als es so weit ist, tritt Lena Schilling als Erste ans Rednerpult im grünen Medienraum und sagt Dinge wie: „Ich hoffe, es ist akzeptabel, dass mein Privatleben noch mein Privatleben ist.“ Und: „Eigentlich wird mit diesen Unterstellungen und Behauptungen mein Charakter infrage gestellt“, im Gegensatz zu den anderen – männlichen und älteren – Kandidaten, die man mit inhaltlichen Positionen konfrontiere.
Lena Schilling liest zu Beginn ihres Statements vom Blatt ab. Der nächste Redner macht das nicht, es erweist sich als Fehler. Kogler spricht mehrmals von „anonymem Gemurkse und Gefurze“. Gleichzeitig wird dem „Standard“ „jedes Recht“ attestiert, einen solchen Artikel zu publizieren. Die Botschaft, fünffach prominent verbreitet, bleibt aber: Alles nur Gerüchte.
Im Nachhinein sehen es auch einige Grüne als Fehler, dass die Partei keinen dieser Vorwürfe öffentlich zu widerlegen versucht und als bloßes Hörensagen abtut. Dass ihrer Spitzenkandidatin zumindest in einem Fall Lügen vorgeworfen werden, wusste die Partei schon lange: Das Ehepaar Bohrn Mena hatte die Parteispitze bereits Anfang April kontaktiert, um Schilling über diesen Weg zur Unterzeichnung des Vergleichs zu bewegen.
Eine umfassende Krisen-PR erstellten die Grünen in den nächsten Wochen nicht. Am Tag des Wahlkampfauftakts ließen sich die teils höchstpersönlichen Fragen auch kaum klären. Das holt die Partei nun intern zwar Stück für Stück nach, vieles davon lässt sich aber schlicht nicht öffentlich berichten. Gleichzeitig läuft die Suche nach der Quelle – oder einem Schuldigen: „Eine organisierte Kampagne gegen Lena Schilling“, so nannte es Maurer. Der „Standard“ stellte klar, dass das Ehepaar nicht aktiv an das Medium herangetreten sei. Sie oder ihr Mann hätten die Vorwürfe nicht an die Öffentlichkeit getragen, betont Veronika Bohrn Mena gegenüber profil.
Schrecken ohne Ende
Als der „Standard“ nach einigen Tagen berichtet, dass Schilling auch Gerüchte über Sigrid Maurer verbreitet haben soll, nimmt Schilling doch konkret Stellung: „Sigi ist eine Freundin, und ich bin froh, sie in meinem Leben zu haben. Ja, ich habe in meinem Leben schon mal Gerüchte über Affären gehört und sie dann ohne groß nachzudenken weitererzählt. Ich bin da kein Stück besser als andere. Ich weiß, dass das nicht g’scheit war, und das tut mir leid.“ Bundegeschäftsführerin Olga Voglauer entschuldigt sich später auch für Koglers Gefurze-Sager.
Für die Muttertagsausgabe der „Kronen Zeitung“ ließ sich die ehemalige „Krone“-Kolumnistin Schilling an der Seite ihrer Mutter interviewen: Das Gerücht über Bohrn Mena habe sie aus „Sorge um meine Freundin“ weitererzählt: „Ich hatte Angst, dass es Gewalt in ihrer Beziehung gibt.“ Veronika Bohrn Mena sieht darin eine indirekte Bestätigung des Gewaltvorwurfs, die die falsche Behauptung weiterträgt: „Jetzt steht mein Mann erst recht als Gewalttäter da.“ Das Ehepaar klagt Schilling nun auf Widerruf, denn, so Veronika Bohrn Mena: „Sobald Schilling zugibt, dass sie dieses falsche Gerücht frei erfunden hat, gibt es die Diskussion nicht mehr.“ So schnell dürfte das nicht passieren. Ein erster Gerichtstermin ist für 21. Juni angesetzt – also nach der EU-Wahl am 9. Juni.
Das Ehepaar Bohrn Mena ist medial bekannt-berüchtigt und im linken politischen Spektrum gut vernetzt: Gemeinsam betreibt das Paar die Común-Stiftung. Im Beirat der Stiftung vertreten sind unter anderem die Andreas-Babler-Unterstützerin Natascha Strobl oder die ehemalige Chefin der Wiener Grünen, Birgit Hebein. Auch Lena Schilling saß in der Vergangenheit im Beirat.
Sebastian Bohrn Mena begann seine politische Karriere als Jugendvorsitzender der ÖVP-Gewerkschaft FCG in Wien, 2015 kandidierte er bei der Wiener Landtagswahl für die SPÖ, 2017 wollte er für die „Liste Pilz“ des Ex-Grünen Peter Pilz in den Nationalrat. Für ein Mandat reichte es nie, im Gegenteil: Bohrn Menas parteipolitisches Engagement endete in der Regel im Streit, mit Peter Pilz sogar vor Gericht. Der Konflikt ist Teil seines Berufs: Auf „oe24.tv“ liefert sich Bohrn Mena regelmäßig Duelle mit dem früheren Obmann des BZÖ, Gerald Grosz – inklusive rhetorischer Schläge unterhalb der Gürtellinie.
Bohrn Mena ist zudem nicht unumstritten: So soll er etwa laut „Presse“ Unternehmen erst Beratungsdienste angeboten und bei Ablehnung öffentlich gegen den Betrieb kampagnisiert haben. Er wies damals den „Presse“-Artikel vehement zurück. Die Grünen ließen sich davon nicht abschrecken. An einer Diskussion über „unsere Böden“ am 24. Juni sollen auch Werner Kogler und Stefan Kaineder auftreten. Moderation: Sebastian Bohrn Mena.
Zurück bleiben viele offene Fragen und eine Spitzenkandidatin im Verteidigungsmodus. Lena Schilling wird in fast jedem Interview zu ihrem Privatleben befragt, wurde in Öffis angepöbelt und musste einzelne Wahlkampfveranstaltungen absagen, weil die Aufarbeitung der Causa Zeit frisst.
Die Auswirkungen auf die grüne Zielgruppe wird die Partei am 9. Juni schwarz auf weiß sehen. Die EU-Wahl als klarer Stimmungsmesser. Die Verunsicherung in den eigenen Reihen ist diffuser, manche Funktionäre wanken zwischen Kritik am Umgang mit den Vorwürfen und an Schilling, aber auch an dem medialen Einblick in die Privatsphäre.
Öffentlich will sich aus den Reihen der grünen Abgeordneten so gut wie niemand zu der Causa äußern. Umso auffälliger ist es, dass sich ausgerechnet Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu einer Einschätzung hinreißen ließ und Schilling verteidigte. „Wer macht als junger Mensch keine Fehler?“, fragte das Staatsoberhaupt, sofern Schilling überhaupt welche gemacht habe. Ein unbeteiligter Dritter wandte sich an die Staatsanwaltschaft Wien, sie prüft nun einen Anfangsverdacht auf Verleumdung gegen Schilling. Die Grünen sind bemüht, nach außen hin Stärke und Zusammenhalt zu zeigen.
Aber vermutlich sind sie ausnahmsweise einer Meinung mit Veronika Bohrn Mena: „Alle Involvierten wissen, dass sie nur verlieren können.“
Korrektur 17. Mai, 18:17 Uhr: In einer früheren Version des Textes wurde auch die Autorin Julya Rabinowich als Mitglied des Beirats der Stiftung Común gelistet. Sie war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung allerdings wieder aus dem Beirat ausgeschieden. Auf der Website des Vereins war sie fälschlicherweise weiterhin als Beiratsmitglied gelistet worden, profil hatte diesen Fehler übernommen.
Newsletter
Drucken
(profil.at)
|
Stand:
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.