Grünen-Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek
Gegen den Wind

Nationalratswahl: Die Grünen kämpfen ums Überleben

Erstmals seit ihrem Einzug in den Nationalrat im Jahr 1986 müssen die Grünen um den Verbleib im Parlament bangen. Kämpft Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek auf verlorenem Posten?

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Samstag, 16. September, elf Uhr vormittags. Noch vier Wochen bis zur Nationalratswahl. Während ÖVP-Chef Sebastian Kurz gerade in Oberösterreich von einer Wahlkampfveranstaltung zur nächsten läuft und der Ex-Grüne Peter Pilz auf einem Wiener Flohmarkt Hände schüttelnd um Stimmen wirbt, steht Ulrike Lunacek, die Spitzenkandidatin der Grünen, auf dem Plöckenpass zwischen dem Kärntner Gailtal und Italien auf 1357 Meter Seehöhe. Während es wie aus Kübeln regnet, wird hier das zweite Windrad Kärntens in Betrieb genommen. Die Hartnäckigen, die bis zum Ende der Feier durchhalten, werden durchnässt und durchfroren nach Hause gehen – und Lunacek vermutlich ohne neu gewonnene Wähler. Trotzdem wird sie später sagen: "Es ist wichtig, dass wir Grünen das unterstützen. Dafür stehen wir." Laut der aktuellen profil-Umfrage liegen die Grünen derzeit bei fünf Prozent, gleichauf mit den NEOS und der Liste Pilz. Erstmals seit dem Einzug in den Nationalrat im Jahr 1986 müssen sie ernsthaft um den Verbleib im Parlament bangen.

Von "grüner Selbstzerstörung" war in den vergangenen Monaten zu lesen, einer "Partei im Chaos" oder schlicht einem "Desaster". Ausschluss der eigenen Jugendorganisation. Interne Querelen in den Landesparteien. Überraschender Rücktritt von Parteichefin Eva Glawischnig. Demontage des Grünen Urgesteins Peter Pilz, der nun mit einer eigenen Liste im Wählerpool der Grünen fischt. Es folgte eine öffentliche Grundsatzdebatte darüber, wie aus den aufmüpfigen Grünen der 1980er-Jahre eine Wohlfühlpartei werden konnte, die zwar gern moralisiert, aber keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit findet.

Seit Lunacek, 60, Vizepräsidentin des Europaparlaments, die Aufgabe der Spitzenkandidatin übernommen hat, ist sie weniger mit Wahlkampf als vielmehr mit Krisenmanagement beschäftigt. Ob sie auf einem Gebirgspass steht oder vor der Votivkirche in Wien – eine Frage wird ihr immer gestellt: jene nach Peter Pilz.

Lunacek antwortet diplomatischer als manch andere Grüne: "Er wollte gehen. Nicht wir – er hat sich von den Grünen entfernt. Er ist jetzt ein Konkurrent." Wie steht es nach all den Turbulenzen um die Grünen? "Wir befinden uns in einer Aufholjagd." Sie, Lunacek, sei es als Kämpferin gewohnt, Hürden sportlich zu nehmen. Ihr Ziel sei nach wie vor ein zweistelliges Ergebnis.

Was soll sie auch sonst sagen?

Ulrike Lunacek ist eine erfahrende Politikerin, die im In- und Ausland über Parteigrenzen hinaus geschätzt wird. Seit dem Jahr 1995 ist sie bei den Grünen, zehn Jahre saß sie als Abgeordnete im österreichischen Nationalrat, bevor sie 2009 als Delegationsleiterin für ihre Partei in das Europaparlament einzog. Bei der Europawahl 2014 fuhr sie als Spitzenkandidaten über 14 Prozent ein.

Ich weiß schon, dass unsere Ausgangslage nicht gut ist.

Lunacek sitzt inzwischen im Wahlkampfbus, daneben die Pressesprecherin, ihre persönliche Mitarbeiterin, eine Fotografin und ein Kameramann. Nächster Halt: Messe Klagenfurt. Das Team ist spät dran; auf der Bundesstraße, die in die Landeshauptstadt führt, herrscht Stau. Irgendwo zwischen Villach und Klagenfurt sagt Lunacek: "Ich weiß schon, dass unsere Ausgangslage nicht gut ist." Viele würden sich ärgern und fragen, wie es so weit kommen konnte – auch das wisse sie. "Ich kann nur sagen: Es ist jetzt so. Wenn ich will, dass es besser wird, dann muss ich meine Ärmel aufkrempeln und etwas dafür tun. Und das tue ich."

Wer Lunacek mehrere Tage lang im Wahlkampf begleitet, erlebt eine Politikerin, die nicht nur vor der Kamera, sondern auch hinter verschlossenen Türen über die Bedeutung Europas, Menschenrechte, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit spricht. Doch während sie abseits des Scheinwerferlichts ihre Anliegen klar und anschauich vertritt, reproduziert sie auf offener Bühne einstudierte Botschaften und scheint ständig darum bemüht zu sein, keinen Fehler zu machen. Dabei überzeugt sie vor allem dann, wenn sie es nicht krampfhaft versucht.

Während der Fahrt spricht Lunacek über das Europaparlament, in dem man über Fraktionsgrenzen hinaus verhandeln müsse, wenn man etwas erreichen wolle. Das vermisse sie in der heimischen Innenpolitik. Anfang 2014 schaffte sie mit ihrem EU-Strategiepapier gegen Homophobie eine deutliche Mehrheit im Europaparlament, obwohl 40.000 hasserfüllte E-Mails ihr Postfach lahmgelegt hatten.

Im persönlichen Gespräch gelingt es Lunacek oft, Menschen für sich zu gewinnen. "Ich bin positiv überrascht", lautet ein häufiges Resümee. Das traditionelle Wahlkämpfen mit Smalltalk und Händeschütteln liegt ihr nicht besonders. Das zeigt sich beim Gang durch das Messezentrum Klagenfurt. Auf Vorbeikommende geht sie selten zu, bis auf die Führungsriege der Kärntner Grünen interessiert sich hier auch kaum jemand für die Spitzenkandidatin. Während sie an einem Stand eine Secondhand-Tasche mit Katzenmotiv kauft, geht ein älterer Mann vorbei und sagt: "Die Oberlehrerin Lunacek, die halte ich nicht mehr aus."

Bei mir kommt für diese Menschen einfach viel zusammen. Ich bin eine Grüne, eine Frau und dann auch noch homosexuell.

Lunacek muss sich solche Aussagen nicht nur hier anhören. Zwei Tage später, nach dem TV-Duell mit Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ), wird Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer das Auftreten der grünen Spitzenkandidatin im "Kurier" als den "einer frustrierten Lehrerin in späten Dienstjahren" bezeichnen. Nach der ORF-Konfrontation mit dem ehemaligen Bundespräsidentschaftskandidaten Norbert Hofer (FPÖ) tobt sich das unschöne Volksempfinden auf seiner Facebook-Site aus: "Nieder mit der inländerfeindlichen Homo- und Lesbenpartei." – "Faschistoide Kampflesbe."

"Bei mir kommt für diese Menschen einfach viel zusammen", sagt Lunacek: "Ich bin eine Grüne, eine Frau und dann auch noch homosexuell." Die Auseinandersetzung scheut sie trotzdem nicht, ganz im Gegenteil: Als Lunacek und Hofer nach dem TV-Duell in den Zuschauerraum des ORF kommen, verzieht der FPÖ-Politiker keine Miene. Lunacek wirkt hingegen elektrisiert und erlöst zugleich. "Ich glaube, es lief ganz gut", sagt sie.

Hinweis: profil und Club 20 laden am Mittwoch, dem 27. September, um 18.30 Uhr ins InterContinental Wien zum Gespräch mit Ulrike Lunacek. Melden Sie sich hier an!