Gruß aus der Isolation
Guten Morgen!
Vor drei Tagen nahm ich die U4, fuhr nach Heiligenstadt und mit dem Lift in den vierten Stock eines Bürogebäudes hinauf. Dann streifte ich mit FFP2-Maske durch leere Gänge, vorbei an leeren Schreibtischen mit Drehsesseln auf denen schon lange niemand mehr gesessen und Telefonhörer, die schon lange niemand abgehoben hatte. In der profil Redaktion ist es derzeit, wie in so vielen Großraumbüros des Landes, geisterhaft ruhig. Für gewöhnlich nimmt man in der ersten Arbeitswoche Kuchen mit und geht mit KollegInnen auf ein Feierabendbier.
Jetzt winkt man sich über Webcam zu und bildet anschließend Recherche-Teams per Videokonferenz, wo eigentlich fast immer irgendwer nicht zu hören oder zu sehen ist (wie kann das nach 12 Monaten eigentlich noch sein?) Andere hängen am Abend auf Clubhouse rum, eine neue App für Online-Diskussionen, über die seit einigen Wochen alle reden. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Sollten Sie, wie ich, zu jener Gruppe gehören, die Clubhouse für eine Musikrichtung halten oder sich wie Stefan Grissemann ärgern, weil sie noch keine Einladung bekommen haben: Vorbeischauen zahlt sich aus. Vergangene Woche hat profil es selbst versucht und vor und mit Publikum über die Macht Sozialer Medien diskutiert.
Das Zwischenmenschliche ersetzen kann Clubhouse freilich nicht. Und auch sonst wird die „neue Normalität“ längst nicht mehr so sozialromantisch gesehen, wie im Frühjahr. Stichwort Balkonkonzerte und Solidarität unter Nachbarn. Über die toxische Seite der Isolation geht es in der aktuellen Titelgeschichte von Angelika Hager. Corona, schreibt sie, wirke wie ein Brennglas: es verstärkt vorhandene Risse und Bruchstellen in einer Partnerschaft. Neue Studien zeigen, dass körperliche und psychische Gewalt im zweiten Lockdown angestiegen und insbesondere Frauen betroffen sind.
Andere, wie Robert Treichler, regt der Rückzug in die eigenen vier Wände zum Nachdenken an. Stellen Sie sich für einen kurzen Moment vor, die Unfreiheit wäre Dauerzustand. Die Grenzen wären nicht temporär dicht, sondern immer. Weil sie in einem Flüchtlingscamp geboren oder in Gaza aufgewachsen sind. Stellen Sie sich vor, ihre Regierung würde nicht aus Hygienevorschriften Demonstrationen absagen, sondern zur Vernichtung politischer Gegner.
Genau das passiert gerade in Russland, wo Alexej Nawalny letzte Woche zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Simone Brunner und Tessa Szyszkowitz berichten im aktuellen Heft über sein Team. Wer arbeitet mit und für den bekanntesten Oppositionellen der Welt? Es wird nicht unsere letzte Geschichte über Nawalny in diesem Jahr sein. Wo wir wieder bei meiner Wanderung durch das halbleere profil-Büro wären. Seit letzter Woche unterstütze ich die KollegInnen im Auslandsressort bei ihren Recherchen. Vom Homeoffice in die Welt zu blicken ist derzeit nicht einfach. Wir versuchen es trotzdem.
Ihre
Franziska Tschinderle
PS: Gibt es etwas, das wir an der „Morgenpost“ verbessern können? Das Sie ärgert? Erfreut? Wenn ja, lassen Sie es uns unter der Adresse [email protected] wissen.