Warum immer wieder Häftlinge aus österreichischen Gefängnissen ausbrechen
„Häftling entwischt aus Gefängnis in Wien“, „Häftling aus Forensisch-Therapeutischem Zentrum Mittersteig geflohen“, „Häftling in Wien geflüchtet“: Seit Herbst letzten Jahres mehren sich Meldungen nach Ausbrüchen oder Entweichungen aus österreichischen Gefängnissen. Der jüngste Fall ereignete sich am 7. Jänner, als ein Insasse der Justizanstalt Puch/Urstein im Rahmen eines Röntgentermins im UKH Salzburg durch eine zweite Tür entkommen konnte.
Täuscht der Eindruck oder finden derzeit tatsächlich mehr Insassen den Weg in die Freiheit? Wie viele Häftlinge entkommen hierzulande im Vergleich mit anderen Ländern? Und wie laufen diese Transporte – Eskorten – ab, bei denen auch jener 25-Jährige im UKH Salzburg entweichen konnte?
Dienstag, 7. Jänner. Ein 25-jähriger Häftling der Justizanstalt (JA) Puch/Urstein braucht ein Röntgenbild. Und weil die JA selbst nicht die dafür notwendigen Geräte und Räume hat, fahren Beamte den Mann ins Krankenhaus. „Vor jeder Eskorte wird im Einzelfall geprüft, welche Sicherheitsmaßnahmen im Hinblick auf die konkrete Person erforderlich sind“, erklärt eine Sprecherin des Justizministeriums (BMJ). Diese Einzelfallprüfung erfolgt im Vier-Augen-Prinzip und wenn von einer Person ein erhöhtes Risiko ausgeht, sind auch „intensivere Sicherungsarten“ zulässig. Etwa Fußfesseln, das Anlegen der Handfesseln am Rücken, oder die zusätzliche Sicherung mittels Transportgurt. Weil der Mann wegen Eigentumsdelikten in Untersuchungshaft in Puch/Urstein saß und nicht als eine allgemein gefährliche Person eingestuft wurde, erachtete die Justiz weitere Maßnahmen als nicht notwendig. Der Insasse wurde von zwei Justizwachebeamten ins UKH Salzburg eskortiert.
Im Krankenhaus selbst sind mehrere Szenarien möglich, wie ein Sprecher der AUVA, die in Salzburg das UKH betreibt, schildert. Grundsätzlich wissen Ärztinnen und Ärzte, dass ein Häftling behandelt wird, „die genauen Hintergründe sind uns aber in der Regel nicht bekannt, wir behandeln jeden gleich“, sagt der Sprecher. Wie eine Untersuchung dann wirklich aussieht, hängt von den Sicherheitsvorkehrungen ab: Geht von der Person keine Gefahr aus, warten die Justizwachebeamten meist vor dem Behandlungsraum. Aber auch der umgekehrte Fall, also die Begleitung der Beamten zur Untersuchung, sei schon vorgekommen. „Es ist auch möglich, dass die Justizwachebeamten mit ins Röntgen kommen, etwa wenn dort weitere Sicherheitsmaßnahmen notwendig sind“, sagt der Sprecher. Wie also konnte der 25-jährige Häftling am 7. Jänner entwischen?
Beim Röntgen entkommen
Offizielle Informationen über den Ablauf an jenem Dienstag vor drei Wochen gibt es nicht. Im Krankenhaus erzählt man sich, dass die beiden Beamten der Justizwache den Insassen bis zur Umkleidekabine vor dem Röntgen begleitet und diese Türe anschließend gesichert hätten. Entkommen sei der 25-Jährige schließlich durch eine zweite, ungesicherte Türe. Ob er dabei Kittel und Strahlenschutz trug, ist nicht überliefert. Bestätigen wollte das Justizministerium den Hergang nicht: „Der Vorfall in Salzburg wird derzeitig umfassend und eingehend überprüft. Sowohl die Justizanstalt Salzburg als auch die Generaldirektion haben unverzüglich Sofortmaßnahmen ergriffen: in enger Kooperation mit den Gerichten und der Polizei wurde die Fahndung veranlasst“, schreibt eine Sprecherin des BMJ. Vom flüchtigen Häftling fehlt laut Landespolizeidirektion Salzburg auch drei Wochen später jede Spur.
Das ist kein Einzelfall. Ein Blick auf die Zahlen.
Die Behörden unterscheiden zwischen Ausbrüchen aus dem geschlossenen Bereich der Justizanstalt (Flucht), und solchen aus dem nicht-geschlossenen Bereich einer JA (Entweichung). Dazu zählen auch Nichtrückkehrer, die ihren Freigang zum Abhauen nützen. „Festzuhalten ist, dass die meisten Fluchten auf die Nichtrückkehr von unbewachten Aufenthalten (etwa Ausgänge, Freigänge, Unterbrechungen, therapeutische Unterbrechungen) zurückzuführen sind“, heißt aus dem BMJ.
In Summe gab es zwischen 2019 und 2024 18 Ausbrüche und 141 Entweichungen. Davon entfallen 123 auf Nichtrückkehrer und 18 auf Häftlinge, die bei Krankentransporten den Weg in die Freiheit gesucht und gefunden haben. Wenige Fälle, vor allem wenn man sie in Relation mit den tausenden Eskorten, die jährlich stattfinden, setzt. Und dennoch, blickt man auf die Zahlen der entwichenen Personen in Bayern, vergleichbar mit der Größe Österreichs, wirkt die Gesamtanzahl der entwichenen Personen aus österreichischen Anstalten hoch.
Zum einen verfügen große Justizvollzugsanstalten in Deutschland in der Regel über grundlegende radiologische Ausstattung wie Röntgengeräte. Zum anderen gibt es wesentliche Unterschiede in der Ausrichtung des Strafvollzugs: „Was mir in der Diskussion in Deutschland immer wieder auffällt ist, dass dort immer vom Resozialisierungsgrundsatz gesprochen wird. Während bei uns in Österreich meist vom Abschließungsgrundsatz die Rede ist“, sagt Veronika Hofinger vom Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie der Uni Innsbruck.
Das führt dazu, dass bei unseren Nachbarn der Fokus mehr auf der Wiedereingliederung der Straftäter in die Gesellschaft liegt, als das hierzulande der Fall ist. Und: Die Gefangenenrate pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner ist in Deutschland (70) um mehr als ein Viertel geringer als in Österreich (100).
Welche Rolle spielt der Personalmangel?
Zudem sind die Gefängnisse hierzulande mit einer Belagsquote von 106,66 Prozent (Stand 1.1.2025) überbelegt und das Personal der Justizwache mit einem Besetzungsgrad von 95,52 Prozent unterbesetzt. Spielt auch das eine Rolle bei Ausbrüchen oder Entweichungen?
Nein, sagt das BMJ auf profil-Anfrage. Ganz irrelevant ist die Personalsituation aber nicht, meint Norbert Dürnberger von der Justizwachegewerkschaft: „Solche Ausführungen stellen das größte Risiko dar, da wollen wir natürlich, dass man mit der maximalen Anzahl an Personen arbeiten kann“, sagt der Gewerkschafter. Das Problem: zieht man Personal aus dem Gefängnis für eine Eskorte ab, dann „fehlt mir das in der Justizanstalt. Dann müssen gewisse Betriebe oder Arbeitsstätten geschlossen werden und die Insassen sind nicht beschäftigt und wenn wir sie nicht beschäftigen, beschäftigen sie uns“, so Dürnberger. Und: „Dann kommt man vielleicht auch eher auf andere Gedanken, wenn man den ganzen Tag im Haftraum sitzt. Da ist vielleicht auch der Fluchtgedanke größer, als wie wenn man einer Beschäftigung nachgeht und sich deshalb noch eher mit der Situation arrangiert.“
Was also tun, um Druck aus dem Kessel zu nehmen? Und lassen sich Fluchten überhaupt verhindern?
„Es braucht Maßnahmen zur Haftentlastung, also dass überhaupt weniger Leute zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden“, sagt Hofinger. „Außerdem braucht es Alternativen zum Gefängnis und mehr vorzeitige Entlassungen“, so die Expertin. Eigentlich war eine Reform des Maßnahmenvollzugs im schwarz-grünen Regierungsprogramm auch geplant. Zum Beispiel sollte bei ungefährlichen Personen stärker auf Fußfesseln gesetzt werden und ihre Anwendung auf Strafen bis zu zwei Jahre (Rest-) Strafe ausgedehnt werden. Auch die bedingte Entlassung sollte ausgeweitet werden. Wie das gesetzlich umgesetzt werden sollte, ließ Justizministerin Alma Zadić (Grüne) von einer Expertengruppe prüfen. Diese legte im Februar 2021 das „Strafvollzugspaket NEU“ vor. Beschlossen wurde das aber nie.
Gänzlich unterbinden wird man Fluchten und Entweichungen auch im modernsten Maßnahmenvollzug nicht können. „Menschliches Versagen ist immer auch eine Komponente und ich kann in keinster Weise beurteilen, ob das beim jüngsten Fall in Salzburg eine Relevanz hatte“, sagt eine Sprecherin des Justizministeriums. Aber natürlich habe es in der Vergangenheit Fälle gegeben, wo eine Situation falsch eingeschätzt wurde, „aber auch da sind wir eine lernende Organisation, die die jeweiligen Schlüsse zieht, wenn geklärt ist, wie beispielsweise eine Entweichung gelingen konnte“, heißt es aus dem BMJ.
Und auch, wenn eine Entweichung schon Wochen oder Monate her ist: In vielen Fällen führt der Weg der Ausbrecher dann doch zurück in die Zelle. Entweder, weil die Fahndung erfolgreich war oder aufgrund einer freiwilligen Rückkehr. Bleibt abzuwarten, ob auch der 25-Jährige aus der Justizanstalt Puch-Urstein in eine der beiden Kategorien fällt.