Haiders Aufstieg und Fall in Kärnten
Ein Rebell ohne Hinterland, Jörg Haider ohne Kärnten -ist das überhaupt denkbar? Damals, vor zehn Jahren, hatte nachts um zwei Uhr früh bei den Dörflers das Standtelefon geschrillt; unablässig und fordernd, bis der Landeshauptmann-Stellvertreter schlaftrunken aus dem Bett stieg und abhob. Haiders Chauffeur war dran, erregt, stammelnd. "Haider. Tot." Gerhard Dörfler meinte, sich verhört zu haben, er dachte, der Mann sei betrunken. "Ruhig, ruhig", sagte er. Er werde jetzt auflegen, und er solle noch einmal anrufen. Es half nichts. Haider war tot, und Dörfler machte sich auf den Weg ins Bärental. Auf der Fahrt dorthin entstand in seinem Kopf der Satz: Die Sonne ist vom Himmel gefallen. In Klagenfurt war es totenstill. Und so blieb es den ganzen Tag. Die Menschen sprachen nur leise miteinander, selbst die Autos flüsterten.
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In der Nähe des Bahnhofs ist ein charakteristischer Schriftzug in Orange weithin sichtbar. BZÖ. Das ist geblieben von Haiders letztem Projekt, dem "Bündnis Zukunft Österreich": ein Straßenlokal, ein riesiges Haider-Poster im Vorraum, Kartons, die von orangen Kugelschreibern, orangen Feuerzeugen und orangen Parkuhren überquellen; eine Partei, die von ihrem Ersparten zehrt. Hier sind die Gläubigen zu finden. Hier ist man empört, wie sich die Nachwelt an dem Idol vergeht, dass man Haider für das Hypo-Debakel und mehr verantwortlich macht. Parteichef und Nachlassverwalter ist Helmut Nikel, Gemeinderat in Grafendorf, in Gerichtshändel mit seiner Vorgängerin verstrickt. Jedes Jahr legen sie einen Kranz nieder an der Unfallstelle und im Bärental. Von der Welt unbeachtet. Sie spielen nur noch am Rande mit.
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Auf der Straße außerhalb von Klagenfurt, wo Haiders Phaeton sich überschlug, wurde eine Gedenkstätte errichtet. Im Sommer bremsen sich hier Touristen ein, steigen aus für ein Selfie. Auf den Kunstblumen liegt der Staub der Straße, eine Tafel insinuiert "offene Fragen" im Zusammenhang mit Haiders Unfalltod. Banken. Geheimdienste. Wusste Haider zu viel? Das ist zwar Unsinn, doch stimmig. Haider selbst schenkte Gerüchten gern sein Ohr und witterte überall Verschwörungen.
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Hat Haider wirklich geglaubt, er könne von Kärnten aus mit dem BZÖ noch einmal durchstarten? Von einem Provinzstädtchen aus, einer Gesellschaft, die immer trunken war von Nationalismus und ihre Minderwertigkeitsgefühle aus deutschem Überheblichkeitswahn schöpfte und Drohgebärden nach Wien? In seinem Essay über die "Kärntner Seele" stellte der Psychiater Erwin Ringel in den 1980er-Jahren fest, dass man in Kärnten, anders als im Rest Österreichs, den Nationalsozialismus nicht ins Unbewusste verdrängt, sondern sich "forsch, frei und fröhlich" dazu bekannte. Verleugnet wurde anderes: die slowenischen Vorfahren, die so gut wie jeder Kärntner in seiner Familie hat, die slowenischen Wörter, die erst am Totenbett wieder aus den alten Menschen herausbrechen und die ihre Enkel nicht mehr verstehen.
Der Oberösterreicher Haider war in dieser Hinsicht über jeden Verdacht erhaben, ein Fremder in der Heimat, ein Ideal.
In Kärnten waren 1972 zweisprachige Ortstafeln zertrümmert worden und der sozialdemokratische Kanzler Bruno Kreisky, der dieses Recht der Kärntner Slowenen gemäß Staatsvertrag umsetzen wollte, wurde bei einem Kärnten-Besuch bespuckt und als Verräter beschimpft -"die größte Nazi-Demonstration der Zweiten Republik" nannte er den Auflauf.
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Seit seinem Rücktritt als Parteichef der FPÖ am 28.2.2000, saß Haider in Kärnten als Landeshauptmann fest. Eine Funktion, die ihrer verfassungsrechtlichen Papierform nach ein Nichts ist. Ein Bundesland mit 400.000 Einwohnern, in einer Bilderbuch-Landschaft mit schneebedeckten Gipfeln und grünen Seen und überall Menschen mit gebräunten Gesichtern und trainierten Körpern. Hier hat Haider Politik gemacht oder das, was in der Postmoderne als Politik erscheint: ein permanenter Karneval mit wechselnden Signifikanten. Haider und Kärnten, das war eine einzige große Party, in der Haider, obwohl auf die 60 zugehend, noch immer wirkte wie ein kantiger Jüngling mittendrin.
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Haider war 26 Jahre alt, als er Parteisekretär in Kärnten wurde und die Laufbahn eines Berufspolitikers einschlug. Er hatte dafür ein Fulbright-Stipendium in New York sausen lassen. Zeitungskommentatoren damals meinten, der junge Mann werde es schwer haben in diesem nationalen Milieu. Auch der spätere SPÖ-Klubobmann Peter Kostelka, der in den 1970er-Jahren mit Haider so gut befreundet war, dass man gemeinsam auf Urlaub fuhr, hatte ihn gewarnt. In Wirklichkeit war Kärnten Haiders Coming-out. Die nationalen Clans waren zuerst skeptisch - der "Rotzbua" solle nach Wien zurückgeschickt werden, soll die Grande Dame der Nationalen, Kriemhild Trattnig, gesagt haben. Bald nahmen sie ihn unter ihre Fittiche. Die Familienbande. Der Junge wurde herumgereicht. Von SA zu SA sozusagen, von Blutordensträger zu Blutordensträger, von Illegalen zu Juli- Putschisten, wie Haiders Vater einer gewesen war. Ehemalige Nationalsozialisten gab es zuhauf, nur nicht bei den Kärntner Slowenen. In der Landesregierung saßen Sozialdemokraten und Freiheitliche, die sich "von früher" kannten. Der sozialdemokratische Landeshauptmann Leopold Wagner brüstete sich, ein "hochgradiger Hitlerjunge" gewesen zu sein. "Der müsst' bei uns sein. Da käme er groß heraus, sagte er über Haider. Nun, es ging auch anders. Es dauerte nicht lang, da hatte Haider seinen Chef ausgebootet, einen Dienstwagen, ein Nationalratsmandat und ein Haus in Klagenfurt. Er durchlief die Stationen vom blutjungen Maulhelden zum gefürchteten Politiker, der alle vor sich hertrieb und die Partei ganz auf seine Person ausrichtete. Eine Gruppe von jungen Leuten, angeführt von Gernot Rumpold, organisierte den Putsch am Innsbrucker Parteitag. Nationale und Burschenschaften brachten die Stimmen.
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Kärnten war nun sein Hinterland. Hier wurden seine Kinder geboren, und hier bekam er von einem ledig gebliebenen Onkel aus Südtirol das Bärental überschrieben, einen ausgedehnten Fortbesitz mit Wanderwegen und Almen. Ursprünglich jüdischer Besitz, den der Onkel von der NS-Behörde mit der Auflage, dort das "Deutschtum hochzuhalten", günstig erwarb.
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Im Bärental liegt Haider jetzt begraben. Im Herbst, wenn das Sonnenlicht durchbricht, glänzt es golden und rostrot und dunkelfichtengrün. Ein Stein mit der Aufschrift des Onkels liegt auf der Grabesstätte. Hier waren in den vergangenen Jahren Briefe und Zettelchen von Trauernden zu finden, die darin erzählten, wie Haider ihnen geholfen hat, mit einem guten Wort, einem Griff zur Geldbörse, wie ihr Leben durch ihn eine Wende nahm. Davon ist jetzt nichts mehr zu sehen. Zu privat. Haider ist eine Figur der Zeitgeschichte geworden, die Stätte umgeben von unzähligen kleinen Engelsfiguren, weinenden, nachdenklichen, ihre Flügel spreizenden Engeln, ein paar Tücher in den Bäumen, die Farben verblasst. Daneben eine kleine Kapelle, ein weiter Blick in entferntere Wälder und die alte Volksschule des Bärentals. Hier sind bis in die 1960er-Jahre hinein die Kinder von Keuschlern und Holzarbeitern zur Schule gegangen, Kärntner Slowenen, oft wohl Arbeiter von Haiders Erbonkel. In den Anfangsjahren, als noch die britische Militärverwaltung im Land war, wurde in ganz Südkärnten, also auch an dieser Schule, zweisprachig unterrichtet, doch nach Abschluss des Staatsvertrags traten die Heimatverbände auf den Plan, Abwehrkämpfer, Heimatdienst - Slowenenhasser. Sie stellten sich vor die Schulen und forderten die Eltern auf, ihre Kinder vom Slowenischunterricht abzumelden. In der Volksschule des Bärentals war der Druck so groß, dass über die Sommerferien alle Kinder vom zweisprachigen Unterricht abgemeldet wurden. So verschwand die Sprache. Die Volksgruppe wurde immer kleiner. Haider trug einen gewichtigen Teil dazu bei.
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1984 hatte Haider vor dem deutschen Turnerbund in St. Jakob im Rosental angekündigt: "Dieses Land wird erst dann frei sein, wenn es ein deutsches Land sein wird." In St. Jakob gibt es heute eine Ausstellung, die all das aufrührt, was in Kärnten geschehen ist, Zeitgeschichte, die ans Herz geht. Im Jahr 1938 war hier die gesamte ansässige Bevölkerung nach rassischen Kriterien vermessen worden. Die Länge der Nase, der Abstand zwischen den Augen, die Breite des Schädels, Augenform, Ohrstellung, Behaarung. In den Gasthäusern der Umgebung mussten sie antreten. 3000 Kärntner. Vermessungsbögen mit den Eintragungen und Fotos wurden im Anthropologischen Institut in Wien gefunden. Auf den Bögen stand am Ende mit rotem Stift ein Plus oder ein Minus. Das Plus bedeutete "Arisch". Das bekamen nur wenige. Der Rassenwahn, die Demütigung, die Deportation der Kärntner Slowenen im Jahr 1942, das war in der Nachkriegszeit ein Tabu. Die "Rasse"- und Volkskundler waren in Kärnten auch nach 1945 noch aktiv. Heute kommen Junge und Alte aus der Umgebung in das ehemalige, wunderschön erhaltene Kino, in dem die Ausstellung gezeigt wird, und blättern in den Ordnern, sehen Fotos durch. In den Familien wird jetzt darüber gesprochen, das erste Mal. Marian Sticker und Werner Koroschitz und viele Helfer aus dem Ort haben das ermöglicht. Ein Kärntner iranischer Abstammung, Farhad Paya, hat das alte Kino gekauft, um es vor dem Abriss zu retten, und zur Verfügung gestellt. Das Land Kärnten unterstützt. Zu Haiders Zeiten wäre das nicht möglich gewesen. Haider hat die slowenischen Opfer nie anerkannt, den Widerstand der Partisanen, ihren Beitrag zur Befreiung.
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Es gab Zeiten, in denen Haider die slowenische Volksgruppe umwarb, slowenische Hochzeiten besuchte, uneingeladen, doch Ansprüche durften sie nicht stellen. Der nationale Bodensatz war dann doch wichtiger, wie das jährliche Ulrichsbergtreffen, auf dem die ehemalige Waffen-SS zu Ehren kam - bis vor wenigen Jahren sogar unter der Patronanz des österreichischen Bundesheeres.
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In Kärnten hatte die Macht der Sozialdemokratie jahrzehntelang so ungeniert ihr Gesicht gezeigt, dass Haider als Befreier willkommen war. Nach seiner Abwahl im Jahr 1991 wegen seines Lobs für die "ordentliche Beschäftigungspolitik im Dritten Reich" war Haider von 1999 bis zu seinem Unfall 2008 durchgehend Kärntner Landeshauptmann gewesen. Er gab den Kärntnern Brot und Spiele und Selbstbewusstsein. Auf seinen Zuruf wurde geordert, bestellt und bezahlt. Er hinterließ einen Riesenschuldenberg und die bald insolvente Landesbank. Unsummen versickerten. Er umgab sich mit einer Clique, deren Mitglieder wie Trabanten um ihren Stern kreisten, darauf achtend, wer gerade in eine nähere Umlaufbahn wechselte. Er versuchte, seinen Wirkungskreis zu sprengen. Er fuhr zu Diktator Saddam Hussein in den Irak, machte Wahlauftritte für die Lega Nord, traf Europas Rechtspopulisten. Er zeigte Ungeduld und Unbeherrschtheit.
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Bis zuletzt hat Haider das Tempo nicht herausgenommen. Unter seinem Nachfolger Peter Kaiser, einem Sozialdemokraten, ist nach den manischen Haiderjahren Ruhe eingekehrt, offenbar ein Labsal für die Bevölkerung. Doch die Politik in Kärnten ist noch immer gejagt von dieser Intensität. "Er hat neue Maßstäbe gesetzt. Die Erwartung von Omnipräsenz. Das hält bis heute an", sagt Kaiser.
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"Mir wird eiskalt, wenn ich daran denke, dass man wie der Frosch auf der Leiter sein ganzes Leben lang nur schaut, wie man die Sprossenleiter hinaufkommt. Dann sagst du vielleicht einmal: Du bist ein Narr gewesen." Zu dieser Erkenntnis kam Haider schon in jungen Jahren. Sie hat ihm nichts genützt.