Hannes Swoboda: „Wir können uns aussuchen, ob wir teilen wollen oder schießen“
Interview: Eva Linsinger
profil: Oft wurde die Festung Europa als Schreckbild beschworen. Kommt sie jetzt wirklich? Hannes Swoboda: Das ist die große Gefahr, dass wir genau das werden, was viele von uns immer verhindern wollten. Manche politische Kräfte wollen das, was wir erreicht haben, zerstören – und zwar durch eine fatale Mischung aus Ungeschicklichkeit und Böswilligkeit.
profil: Wer ist ungeschickt oder böswillig? Swoboda: Es gibt natürlich die Böswilligkeit der Rechtspopulisten, die immer gegen Europa eingetreten sind – weniger aus Überzeugung denn aus Kalkül. Nicht alle in der FPÖ sind gegen Europa, aber wenn sich daraus politisches Kapital schlagen lässt, wettern sie dagegen. Dazu kommt die Ungeschicklichkeit bei Konservativen und Sozialdemokraten: Viele sind zwar für Europa, tapsen aber unbeholfen voran und machen Schritt für Schritt alles zunichte. So wird die Festung Europa in der Flüchtlingskrise Realität.
profil: Das Leben in einer Festung kann doch komfortabel sein. Swoboda: Das wird kein angenehmer Ort. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass die Abschottung einfach so akzeptiert wird. Es wird immer wieder gegen diese Festung angestürmt werden. Das bedeutet, dass wir sie verteidigen müssen. Manche sehnen sich anscheinend nach einem Schießbefehl nach dem Vorbild der DDR; das war ein befestigter Staat. Nicht zuletzt wird das dem Kontinent wirtschaftlich massiv schaden, weil gerade kleinere und mittlere Unternehmen – die großen richten es sich ohnehin immer – von Weltoffenheit, Austausch von Ideen und Multikulturalität leben. Diese Multikulturalität ist derzeit in Europa Realität, auch wenn es manche gerne leugnen. Wenn wir uns abschotten, geht das verloren.
profil: Wie kam es vom pathetischen „Wir schaffen das“ dazu, dass geschlossene Grenzen der neue Konsens in Europa sind? Swoboda: Die Kritik an der Offenheit, an der Multikulturalität bekommt seit zwei, drei Jahren Zustimmung bis tief in mittlere bürgerliche Kreise hinein. Als es wirtschaftlich enger wurde, begannen auch durchaus liberale Bürger plötzlich über die vielen Ausländer zu reden. Leider haben wir kaum Führungspersönlichkeiten, die sich energisch dagegen gestemmt haben. Dieser Prozess ging über Jahre, und da fallen dann die Anschläge in Paris oder die Ereignisse von Köln auf gut vorbereiteten, fruchtbaren Boden.
profil: Weil die Mittelschicht Abstiegsängste hat? Swoboda: Die untere bis mittlere Mittelschicht hat Abstiegsängste – nicht ganz unberechtigt, gar nicht so sehr für sich selbst, sondern für ihre Kinder. Das Merkmal der Mittelklasse war immer, dass sie für sich und ihre Kinder Aufstiegschancen sah. Davon ernährte sie sich psychologisch. Wenn das wegfällt, weil wir kein Wirtschaftswachstum zustandebringen und plötzlich die Angst besteht, auf derselben Sprosse der sozialen Leiter stehen zu bleiben oder gar eine Sprosse abzusacken, dann wirkt das auf diese Schicht psychologisch fatal. Es führt zu Verlustängsten, und dafür sucht man sich einen vermeintlich Verantwortlichen. Diese Prozesse gibt es quer durch Europa und besonders ausgeprägt in Österreich.
profil: Warum? Swoboda: Hier ist die Gesellschaft schon länger gespalten, wegen des ausgeprägten Boulevardmediensektors und wegen der starken Stellung der FPÖ. Die ÖVP schwankt ohnedies immer zwischen christlich-sozialer Politik und einer Anlehnung an die FPÖ. Und die SPÖ hat dem leider wenig entgegengesetzt. Das führt zu einer Politik, die Obergrenzen beschließt – was eigentlich nur ein Zeichen der Hilflosigkeit ist. Denn derartige Obergrenzen sind ohnehin nicht umzusetzen, sie sind nur der hilflose Versuch, der FPÖ nachzurennen.
profil: Auch Ihre Partei, die SPÖ, setzt darauf. Hilft das politisch etwas? Swoboda: Das hilft absolut nichts, den Beweis führen wir in Österreich ungewollt, aber eindrucksvoll seit den 1990er-Jahren. Gerade die Wiener Wahl hat gezeigt, dass man Stimmungen etwas entgegensetzen kann. Das traut sich im Moment kaum jemand. Fast mehr als die lächerliche Debatte über Obergrenzen stört mich, dass man all die Menschen, die sich für Flüchtlinge engagiert haben, so allein lässt. Dabei wäre das eine Riesenchance für eine Politisierung gewesen. Seit Jahrzehnten jammern wir, dass sich niemand engagiert, dass sich niemand für Politik interessiert – und dann sind plötzlich Tausende Menschen da, um zu helfen, ohne Bezahlung, im Urlaub. Die stößt die Regierung gerade vor den Kopf.
profil: Verantwortlich dafür ist Regierungschef Werner Faymann. Swoboda: Faymann hat in der schwierigsten Phase Standfestigkeit und Haltung bewiesen. Leider ist dann der Druck aus Teilen der SPÖ, etwa von Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl, und vor allem der ÖVP auf eine Kursänderung stark gewachsen. Ich finde besonders fatal, dass die SPÖ zugelassen hat, dass Sebastian Kurz seine Aufgabe als Außenminister nicht wahrnimmt, sondern nur auf die innenpolitische Situation schielt. Die Regierung hätte ihn von Land zu Land in der EU schicken müssen, um eine Lösung zu verhandeln. Davor drückt sich Kurz – und führt große Töne. Er agiert wie ein Oppositionsführer, nicht wie ein Minister. Und die SPÖ lässt ihn polemisieren und wagt nicht, Kontra zu geben. Diese Gegenstimme fehlt mir schmerzlich.
profil: Droht die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen? Swoboda: Ich fürchte, ja. Gerade deshalb wäre es so wichtig, jetzt gegenzusteuern. Ich hoffe, dass zumindest Wien seine Politik der Aufnahme und der Integration fortsetzt.
profil: Aber die Wiener SPÖ ist doch beim Flüchtlingsthema genauso gespalten wie der Rest der SPÖ. Swoboda: Natürlich wäre es naiv, zu sagen, dass Österreich alle Flüchtlinge aufnehmen kann. Man hätte durchaus auch einen Richtwert definieren können, dann wäre die Debatte viel sachlicher verlaufen. Was mich besonders stört: Der Hintergrund der hitzigen Diskussion über das Flüchtlingsthema sind Verteilungskämpfe um Einkommen und Vermögen und um das Sozialsystem. Gerade wir als SPÖ müssen viel deutlicher sagen, dass es nicht darum geht, die einen Armen gegen die anderen Armen auszuspielen. Sonst bekommen viele Menschen das Gefühl, dass sie und ihre Probleme – wie etwa Arbeitslosigkeit – gar nicht mehr vorkommen.
profil: Derzeit wird diskutiert, Sozialleistungen für Flüchtlinge zu kürzen. Swoboda: Es ist irreal, zu glauben, wir könnten Flüchtlingen viel abknöpfen. Außerdem: Wie sollen wir durch Kürzungen mehr Integration erreichen? Dann sind nur Flüchtlinge ärmer als andere. Ich halte das für völlig sinnlos. Es ist eine typische Politik der Augenauswischerei und des Populismus, die Dänemark gerade auf die Spitze treibt: Flüchtlingen auch noch den Schmuck wegzunehmen, ist abgrundtief schäbig.
profil: Aber ziehen nicht gut ausgebaute Sozialstaaten Flüchtlinge an? Swoboda: Natürlich versuchen Flüchtlinge, dorthin zu kommen, wo sie einigermaßen gut behandelt werden, finanziell und rechtlich. Daran hakt auch die Verteilung in Europa: Wie kann ich Flüchtlinge in die Slowakei schicken, wenn sie dort wie Gefangene behandelt werden? Es wäre wichtig, eine einigermaßen gerechte Verteilung unter den reicheren Ländern zu schaffen und Flüchtlinge möglichst bald in den Arbeitsprozess zu integrieren, damit sie nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind. In Österreich wird derzeit geschimpft, dass Flüchtlinge Geld bekommen – Arbeitserlaubnis erhalten sie aber auch keine. Das ist grotesk.
profil: Österreich will die Zahl der Abschiebungen massiv erhöhen. Ist das der richtige Weg? Swoboda: Natürlich muss man Menschen wieder in ihre Heimatländer zurückbringen, wenn sie kein Recht auf Asyl haben oder wenn es dort Frieden gibt. Aber man sollte sie mit einem kleinen Startkapital abschieben, etwa mit 3000 Euro, damit kann man in Lagos oder im befriedeten Syrien einen kleinen Laden aufmachen. Die Leute haben den Schmugglern irrsinnig viel Geld gegeben. Wenn sie ohne Geld und in Handschellen heimkehren, sind sie unten durch. Ein kleines Startkapital wäre die beste Entwicklungshilfe. Man muss in neuen Bahnen denken: Wir können Flüchtlinge nicht nur als Feinde sehen, sie möglichst kurz halten und rasch wegschicken. Dann springt die Wirtschaft in den Herkunftsländern nie an, und es flüchten immer wieder Menschen.
profil: Erleben wir derzeit erst den Beginn der Völkerwanderung? Swoboda: Ich glaube schon. Wir im reichen Europa müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir so nicht weitermachen können. Unser ganzes System ist falsch: Wenn wir Europäer uns etwa umweltpolitisch nicht sehr anstrengen, wird es wegen des Klimawandels verstärkt Wanderungen geben. Halb Afrika ist fluchtbereit. Derzeit schafft Europa keine legalen Wege der Zuwanderung, daher blühen die illegalen Wege. Indirekt subventioniert Europa also Waffen- und Drogenhandel, außerdem hält sich unser außenpolitisches Engagement in überschaubaren Grenzen. Europa betreibt weder vernünftige Flüchtlings- noch vernünftige Entwicklungspolitik. Das kann nicht gutgehen. Wir brauchen eine ganz neue Orientierung der Entwicklungspolitik, der Klimapolitik, der Friedenspolitik, sonst schaffen wir das nicht. Und dennoch wird es heißen, dass wir mehr teilen müssen. Polemisch ausgedrückt: Wir Europäer können uns aussuchen, ob wir teilen wollen – oder schießen.
profil: Was bedeutet teilen konkret? Swoboda: Entweder wir lassen Menschen ins reiche Europa, mit all den Konflikten, die damit verbunden sind – oder wir investieren mehr in die Herkunftsländer. Das bedingt eine andere EU-Agrarförderung, indem wir nicht Afrika mit subventionierten Produkten überschwemmen. Das bedingt, dass wir unsere Märkte öffnen für Produkte aus anderen Kontinenten, und das bedingt, dass wir an Hochschulen mehr Menschen ausbilden. Kurz: nicht Entwicklungshilfe, sondern Entwicklungspolitik. Da wird derzeit extrem wenig gemacht.
profil: Braucht es dazu auch legale Einwanderung nach Europa? Swoboda: Der beste Kampf gegen illegale Schlepper sind Möglichkeiten der legalen Zuwanderung – natürlich nicht für alle. Aber ohne das wird man nicht auskommen.
Für mich als Sozialdemokraten ist es traurig, dass ich nur auf Angela Merkel hoffen kann. Die SPE ist abgetaucht.
profil: Sie zeichnen ein geeintes Zukunftsszenario. Realität ist, dass die EU im nationalistischen Klein-Klein versinkt. Swoboda: Derzeit gibt es in Europa wenig Führung. Für mich als Sozialdemokraten ist es traurig, dass ich nur auf Angela Merkel hoffen kann. Es stellt ein Riesenproblem dar, dass die europäische Sozialdemokratie derart abgetaucht ist. Es ist erbärmlich, dass es nicht einmal ansatzweise eine Idee gibt, was weiter geschehen soll. Europa müsste jetzt handeln. Und natürlich müsste die Sozialdemokratie viel offensiver Vorschläge auf den Tisch legen. Es kann doch niemand ernsthaft glauben, dass man die Flüchtlingsfrage dem ohnehin gebeutelten Griechenland umhängen kann.
profil: Werden Regime wie in Ungarn oder Polen in Europa Usus werden? Swoboda: Das ist zu befürchten und leicht möglich. Ich stelle mich schon fast darauf ein, dass wir in einigen EU-Ländern – etwa auch Dänemark – deutliche Rückschläge erleben werden bei all dem, was wir in Europa unter Demokratie und Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verstanden haben. Das ist momentan fast schon der Trend.
profil: Hat dann die EU noch eine Legitimation? Swoboda: Das ist die große Frage. Sie hat nur dann eine Legitimation, wenn die Diskussion über Ungarn, Polen und vergleichbare Länder zur Stärkung jener Kräfte führt, die ein neues Europa wollen. Es müsste fast zu einer Neugründung von Europa kommen – genau in den Gebieten Außen- und Sicherheitspolitik, inklusive Migration, Währungsunion. Sonst zerfällt das Ganze in eine Freihandelszone. Das wollen die Briten ohnehin, aber das ist nicht das Europa, für das so viele gekämpft haben.
profil: War die SPÖ-Mitgliederbefragung zur Flüchtlingspolitik sinnvoll oder eine Farce? Swoboda: Solche Umfragen können sinnvoll sein – wenn man sich damit einen Überblick verschafft, wie man besser führen kann. Sie sind sinnlos, wenn sie nur zeigen, wie man besser Stimmungen nachlaufen kann.
Hannes Swoboda, 69
Der Volkswirt und Jurist wechselte 1986 aus der Arbeiterkammer in die Wiener Kommunalpolitik, war bis 1996 Planungs- und Verkehrsstadtrat in Wien und saß von 1996 bis 2014 für die SPÖ im Europaparlament. Er stieg dort bis zum Präsidenten der sozialdemokratischen Fraktion auf.