Heimfahrt nach NÖ: Rückkehr nach Grub
Wer im niederösterreichischen "Speckgürtel" rund um Wien aufwächst, startet im Bundesländerrennen um den ausgeprägtesten Regionalstolz vom letzten Platz. Ein Straßendorf; die halbe Familienhistorie in der mächtigen Hauptstadt über den sieben Hügeln; die "Zuagrasten" und Zweithäusler, die mit ihren protzigen Autos und Waffenrädern am Wochenende verwienern. Was verbindet mich als gebürtigen Niederösterreicher aus Gaaden im Wienerwald mit einem Retzer, Amstettner oder Pottendorfer? Am ehesten die Tatsache, dass wir weder Steirer noch Oberösterreicher noch Kärntner sind und um den Fixstern Wien kreisen. "Das Leben der Niederösterreicher spielt sich zu einem gewissen Teil in Wien ab", sagt der Wahlforscher Günther Ogris. Die offizielle niederösterreichische Hauptstadt St. Pölten nennt er "eine Fiktion".
Durch Globalisierung, Rekordzuwanderung und das Ende der Arbeitsplatzsicherheit können Region, Kultur und Werte wieder Wahlkämpfe entscheiden. All die Debatten über Islam, Mittelmeerroute, Mindestsicherung drehen sich im Kern um die Frage, was Österreich ausmacht und zusammenhält. Für welche Botschaften sind meine niederösterreichischen Landsleute am empfänglichsten - mit ihrer ambivalenten Identität zwischen linksliberalem Wien und schwarz-blauem Raiffeisen-Dorf?
Wahlergebnisse zeichnen gemischtes Bild
Bei der Bundespräsidentenwahl gewann der weltoffene Alexander Van der Bellen. Bei der Landtagswahl im März 2013 errang der schwarze Landesfürst Erwin Pröll eine absolute Mehrheit. Bei der Nationalratswahl im September 2013 landete die ÖVP knapp vor der SPÖ - zugleich holten SPÖ und FPÖ in absoluten Zahlen jeweils mehr Stimmen als in Wien. Denn bei den Wahlberechtigten hat Niederösterreich gegenüber der Hauptstadt klar die Nase vorn (siehe Grafik).
Erster Halt: Grub
Gerhard blieb. Er war aus Grub im tieferen Wienerwald. In der Volksschule war er ein bisschen mein Held, weil er schon mit acht Jahren nach Schulschluss den Traktor lenkte, während wir uns höchstens aufs BMX-Rad schwangen. "Das war damals ganz normal. Heute geht das nicht mehr." Beim Treffen auf seinem Hof in Grub im Wienerwald tuckert sein 13-jähriger Sohn im Traktor vorbei, am Steuer sitzt der Großvater.
Hier könnte eine niederösterreichische Version des Romans "Rückkehr nach Reims" des französischen Soziologen Didier Eribon beginnen. Der Autor beschreibt die Distanz der Pariser Elite zum "abgehängten" Volk in der Peripherie; die kulturelle Kluft zwischen linken Wählern in der boomenden Stadt und den rechten Wählern auf dem stagnierenden Land.
Nach dieser Lesart wäre Gerhard der Abgehängte. Ökonomisch wirkt es umgekehrt. Zuchtrinder, Pferdefarm für 30 Tiere, 120 Hektar Land. Der "Speckgürtel" braucht sich wirtschaftlich nicht hinter Wien zu verstecken. In der Gemeinde Wienerwald sind 88 der 2700 Einwohner arbeitslos. Gerhard, der einst die Milchkühe mit dem Pferd ohne Sattel auf die Alm trieb, sattelte um. Nun stehen die Pferde der wohlhabenden Wiener und Speckgürtler auf seinen Weidewiesen. Auch politisch ist die Region längst Wien-infiziert. Bei der Bundespräsidentenwahl verhalfen die Pendler dem urbanen Kandidaten Van der Bellen mit 54 Prozent zu einem klaren Sieg.
Gerhard ist treuer ÖVP-Wähler und "natürlich" bei der Feuerwehr. Er hat sich angepasst an die neue Welt der Dorf-Städter, vermisst aber die alte: "Höchstens zehn Prozent grüßen sich noch im Ort. Der Zusammenhalt ist verloren gegangen. Man redet lieber mit dem Hund als mit dem Nachbarn." Die Probleme erinnern an so manche Integrationsdebatte im Schmelztiegel Wien. "Ich bekomme Anzeigen, wenn ich am Sonntag Heu führe, und ein Nachbar hat sich sogar aufgeregt, weil der Hahn kräht." Am meisten Troubles hat er mit Hundebesitzern, die Stöcke in die Futterwiesen werfen oder diese als erweiterte Gassi-Zone nutzen. "Hundekot verunreinigt das Futter, und die Stöcke können die Erntemaschinen beschädigen. Veganes Hundefutter, aber kein Respekt für den Landwirt, das geht nicht."
Wer wie ich zwölf Stunden pro Tag arbeitet und volle Wäsch’ einzahlt, ist der Trottel. Das Geld wird falsch verteilt. Wir müssen mehr auf unsere Leut’ schauen.
Von meinem Multikulti-Viertel Ottakring nach Grub sind es 30 Autominuten. Während ich sein Almenpanorama bestaune, hat Gerhard das Gefühl, dass "die eigene Kultur einschläft" und andere Kulturen "bereits im Vordergrund stehen". Kontakt mit Flüchtlingen hat Gerhard kaum; was er hört und liest, reicht ihm für die Feststellung: "Wer wie ich zwölf Stunden pro Tag arbeitet und volle Wäsch’ einzahlt, ist der Trottel. Das Geld wird falsch verteilt. Wir müssen mehr auf unsere Leut’ schauen."
Der Besuch beim Klassenkollegen zeigt: Je tiefer Menschen in der ländlichen Kultur verankert sind, umso größer wird die Angst, sie zu verlieren - und umso kleiner das Vertrauen, dass Zuwanderer, die ebenso traditionell aufgewachsen sind, sich in eine neue Kultur einfügen. In dieser Hinsicht kann Gerhard einen jungen Bauernbuben aus Afghanistan vielleicht besser verstehen als ein Wiener.
FPÖ wählt die Jugend, weil es trendig und ein Zeichen der Auflehnung ist.
Auf Gerhard kann ÖVP-Kandidat Sebastian Kurz zählen. Viele Ortsbewohner werden den schwarzen Hoffnungsträger aber nicht wählen, weil sie auf ihrer Stadtflucht nicht nur fette Autos und Hunde, sondern auch ein linksliberales Weltbild mitnahmen.
Weiter nach Herrnbaumgarten bei Poysdorf
"Je weiter entfernt von Wien, desto konservativer", sagt Ogris. Also fahre ich ins Weinviertel, nahe zur tschechischen Grenze, nach Herrnbaumgarten bei Poysdorf. Hier wählten 80 Prozent ÖVP-Bürgermeister Christian Frank, 60 Prozent den blauen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer. Bei der Nationalratswahl 2013 stimmten 49 Prozent für die ÖVP und 21 Prozent für die FPÖ. Schwarz-Blau hätte hier eine erdrückende Mehrheit. "Bei uns sind sogar die Arbeiter schwarz", sagt Frank: "FPÖ wählt die Jugend, weil es trendig und ein Zeichen der Auflehnung ist."
Die Zahl der Weinkeller in der 1000-Seelen-Gemeinde ist massiv geschrumpft, aber ein großes Kabelwerk im Nachbarort sorgt für Jobs. Mit 31 Arbeitslosen kann auch hier keine Rede von abgehängter Provinz sein. Montagabend im täglich "offenen Keller". Hier treffen sich 40 Herrnbaumgartner zur Weinverkostung. Angesprochen auf die Politik, erweist sich der große Pensionistentisch mit Durchschnittsalter 80 als Kurz-Fanclub: "eloquent", "intelligent", "gutes Auftreten". Ist er ihnen nicht zu jung? "Er lernt das schon, unser Bürgermeister hat auch mit 33 begonnen." Es sind gebürtige Herrnbaumgartner, die einst vor der Arbeitslosigkeit nach Wien flüchteten und nun den Lebensabend daheim verbringen, oder Wiener mit Zweitwohnsitz. Ein pensionierter Autobusfahrer der Wiener Linien wählte in der Stadt wie fast alle Kollegen rot. "Hier draußen ist das anders. Ich wähle den Menschen, und der heißt diesmal Kurz."
Der große Flüchtlingsstrom trieb gerade mal eine syrische Flüchtlingsfamilie nach Herrnbaumgarten, die kaum sichtbar ist. Die Frau sitzt daheim bei den Kindern, und der Mann verbringt den Tag in Wien beim Sprachkurs.
Wenn ich meinen Glauben und meine Bräuche nicht lebe, darf ich mich nicht wundern, wenn andere Bräuche überhandnehmen. Das Kreuz gehört ins Klassenzimmer.
Bürgermeister Frank beschreibt die Stimmungslage so: "Die Leut’ spüren, dass zu viele Menschen ins Sozialsystem kommen, die nicht arbeiten und einzahlen." Und er erzählt von der Angst, dass sich am Ende nicht Zuwanderer, sondern Österreicher anpassen müssen. "Wenn ich meinen Glauben und meine Bräuche nicht lebe, darf ich mich nicht wundern, wenn andere Bräuche überhandnehmen. Das Kreuz gehört ins Klassenzimmer."
Eine Familie macht vielleicht in unseren Vereinen mit, so wie eine andere zugewanderte Familie im Ort. Aber wenn es sieben Familien sind, feiern sie nur noch muslimische Feste.
Der Islam mit seinem Alkoholverbot ist in der Region ein besonders sensibles Thema. Sie lebt wirtschaftlich und kulturell seit Jahrhunderten vom Wein. "Wir trinken unseren Wein und essen unser Schnitzel!" Das habe sich der syrische Vater in den ersten Tagen gleich anhören müssen, erinnert sich Frank schmunzelnd an die Herrnbaumgartner-Version des Wertekurses. Dann wird er wieder ernst: "Eine Familie macht vielleicht in unseren Vereinen mit, so wie eine andere zugewanderte Familie im Ort. Die ist voll integriert und fällt gar nicht mehr auf. Aber wenn es sieben Familien sind, feiern sie nur noch muslimische Feste."
Diese Stimmungslage hat die FPÖ über Jahrzehnte genährt. "Der Strache wird in der Versenkung verschwinden", sagt eine Frau am Pensionistentisch. Nur die Älteste in der Runde mit Hauptwohnsitz in Wien-Favoriten scheint am FPÖ-Chef festzuhalten, weil sie sich im Gemeindebau nicht mehr wohlfühlt.
Mehr zu holen für die FPÖ gibt es in den Arbeiterbastionen des bäuerlich geprägten Bundeslands. Sie erstrecken sich im Süden Richtung Steiermark und entlang der Donau. Berndorf bei Baden, Triestingtal, knapp 10.000 Einwohner. Hier wählten in der Nachkriegszeit bis zu 80 Prozent SPÖ. Heute tendieren viele seiner Arbeiter zur FPÖ, vermutet Norbert Zimmermann, Chef des traditionellen Besteckerzeugers und Metall-Spezialisten Berndorf AG. Er erklärt sich den Schwenk so: "Das gesamte Arbeiterleben war in der Hand der SPÖ, von der Wohnung bis zur Schule. Durch die Privatisierung der Verstaatlichten begann das alte Lied vom bösen Kapitalisten für die Arbeiter hohl zu klingen, gleichzeitig stieg die Angst vor ausländischer Konkurrenz." Bei der Nationalratswahl 2013 lag die FPÖ mit 24 Prozent deutlich vor der ÖVP mit 16 Prozent. Die SPÖ erreichte mit 36 Prozent dank der älteren Arbeiter, Pensionisten und Migranten noch immer Wiener Dimensionen. 16 Prozent der Bevölkerung sind Arbeiterfamilien aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei mit österreichischem Pass.
14 Uhr, Schichtwechsel. Hunderte Autos fahren über das Gelände Richtung Ausgang. Kein Tratsch, keine Kantine. Im Arbeiter-Gasthaus frage ich die einzigen beiden Gäste, ob sie einen einschlägigen Hintergrund haben. Der eine outet sich als Polizist, der andere als Bürgermeister. Der 63-jährige Hermann Kozlik ist seit 15 Jahren Stadtchef und wurde zuletzt von 56 Prozent der Berndorfer gewählt. Von seiner SPÖ hat er sich innerlich immer mehr distanziert, erzählt er bei einem Puntigamer Bier. Auf den eigenen Wahlplakaten stehe das Logo nur noch in Lupengröße.
Die Österreicher können von ihren Teilzeitjobs oder Pensionen nach 40 Jahren Arbeit nicht g’scheit leben, und wir zahlen an einen Flüchtling 860 Euro.
"Dieses ewige, Gegen Rechts‘ kann ich nicht mehr hören. Mit den Blauen verstehe ich mich in Berndorf bestens. Wir waren mit der Chefin auf Urlaub." Der Polizist nickt zustimmend. Den Bürgermeister ärgert die zu zögerliche Öffnung der SPÖ zu den Freiheitlichen: "Halbschwanger geht nicht." Deswegen wird er für SPÖ-Chef Christian Kern nicht die Werbetrommel rühren. "Man kann nur für etwas mobilisieren, von dem man überzeugt ist. Kern ist ein armer Hund, der von den eigenen Leuten schlechtgemacht wird." Seine Argumente klingen wie ein Echo aus Grub und Herrnbaumgarten. "Die Österreicher können von ihren Teilzeitjobs oder Pensionen nach 40 Jahren Arbeit nicht g’scheit leben, und wir zahlen an einen Flüchtling 860 Euro." Wenn Kozlik nur ansatzweise die Stimmungslage unter Niederösterreichs Arbeitern trifft, darf die FPÖ aufatmen und die SPÖ weitere Verluste im so wichtigen Bundesland befürchten.
Nächster Halt: Purkersdorf
Purkersdorf, Wien-West, 20 Minuten von Grub. Das Tal ist dunkler und enger als im südlichen Wienerwald. Der ehemalige rote Innenminister und Langzeit-Bürgermeister Karl Schlögl hatte nie Berührungsängste gegenüber der FPÖ und regiert doch eine andere Welt. 70 Prozent pendeln nach Wien, 50 Prozent sind Akademiker oder haben eine höhere Schule abgeschlossen. Van der Bellen holte hier 65 Prozent.
Auf dem Hauptplatz steht ein Kebab-Stand. Im schmucken Salettl, das ein Ägypter betreibt, haben sich Flüchtlingshelfer zum Jour fixe versammelt. "Die Mehrheit im Ort will, dass man Flüchtlingen hilft", schwärmt der parteilose Vizebürgermeister und Historiker Christian Matzka von der "tollen Helferszene". Nicht einmal der "Purkersdorfer Fenstersturz" habe die Stimmung zum Kippen gebracht. In einem Quartier des Innenministeriums für unbegleitete Minderjährige war ein Somalier beim Streit mit Afghanen aus dem Fenster gestürzt - nur einer von mehreren Zwischenfällen. Schlögl ließ 20 Burschen absiedeln. "Das externe Quartier macht Probleme. In den privaten Unterkünften läuft es viel besser. Offenheit muss man sich aber auch leisten können", spielt Matzka auf den hohen Akademikeranteil an. In diesen Kreisen spürt er keine Kurz-Euphorie. "Erstens hat er nicht fertig studiert. Und zweitens muss er in seiner harten Haltung zwischen Zuwanderern aus dem Nahen Osten und EU-Bürgern, die einen Teil der Purkersdorfer ausmachen, stärker unterscheiden." Als Historiker für politische Bildung weiß Matza, wie gut Feindbilder in Österreich ziehen - besonders der Islam. "Pummerin statt Muezzin, das lernt man in der Volksschule." Er ist überzeugt, dass die Türken-Belagerung von 1683 im kollektiven Gedächtnis bis heute nachwirkt.
Auf dem hügeligen Weg von Purkersdorf, Richtung Grub und Gaaden, steht ein weißes Stromleitungsgebäude mitten in den saftigen Hügelwiesen. "Islam" prangert darauf in grüner Schrift. Surreal, dieses Religionsbekenntnis mitten im Wienerwald. Dann entdecke ich das akribisch durchgestrichene "Fuck" darüber.