Wir Heimkinder klagen an
Am 17. November werden im historischen Sitzungssaal im Parlament, wo sonst Präsidenten angelobt werden, ehemalige Heimkinder sitzen, die in staatlichen und kirchlichen Einrichtungen erniedrigt und gequält wurden. Nationalratspräsidentin Doris Bures nennt den bedeutungsschweren offiziellen Akt „Geste der Verantwortung“. Edith Meinhart widmete dem Thema im Juni eine profil-Titelgeschichte.
In der hintersten Ecke eines Souterrain-Lokals im 15. Wiener Gemeindebezirk, da sitzen sie mit ihren monströsen Geschichten, Männer und Frauen, die jüngsten in ihren 50ern, manche über 70. Schriftstücke werden herumgereicht, handgeschriebene Zettel, in Archiven aufgestöberte, oft lückenhafte Beweise für die Verbrechen, die an ihnen verübt wurden, als sie Kinder waren. Eine Frau mit kurzen, mahagonifarbenen Haaren kramt nach dem Kuvert mit dem goldenen Prägezeichen der Präsidentschaftskanzlei. Er werde 200 Euro überweisen lassen, hatte der höchste Mann im Staat sie wissen lassen, mehr könne er für sie nicht tun. Das Schreiben ist neun Jahre alt. "Wir sind Bittsteller geblieben“, sagt einer aus der Runde. Bitter pflichten die anderen bei: "Einmal Heimkind, immer Heimkind.“
Wie eine eitrige Beule war vor rund fünf Jahren einer der größten Skandale der Nachkriegsgeschichte aufgebrochen. Immer mehr Heimkinder und Internatszöglinge hatten zunächst in Deutschland und mit zeitlicher Verzögerung auch hierzulande zu erzählen begonnen, wie sie in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren unter der Obhut von Staat und Kirche körperlich und seelisch gebrochen worden waren. Man hatte sie geschlagen, angespuckt, in Besinnungsräume gesperrt, als Arbeitskräfte ausgebeutet und als Sexualobjekte missbraucht. Jede ihrer Geschichten leuchtete grell in die Abgründe einer Nachkriegswirklichkeit hinein, die von NS-Ideologie, schwarzer Pädagogik, Frauenverachtung und einem mörderischen Hass auf alles "Asoziale“ durchdrungen war.
Es gehört zu den Erfolgsgeschichten des Journalismus, dass die Verbrechen an den Heimkindern ins öffentliche Bewusstsein rückten.
Das Ausmaß der Gewalt schockierte. Hunger und Durst, Erbrochenes essen, mit Zahnbürsten Stiegengeländer putzen, frierend auf Holzscheiten knien, Folter mit Plastiksackerln: Mit jeder Woche wurde die Liste der Entsetzlichkeiten länger, die in Zeitungsartikeln, Talkshows, Büchern, Filmen, Kommissionsberichten und Studien abgehandelt wurde. Nur unter enormem öffentlichen Druck waren Kirche, Landesbehörden und staatliche Stellen dazu zu bewegen, sich dem Skandal zu stellen. Der Grüne Abgeordnete Albert Steinhauser sorgte für medialen Aufwind, als er das ehemalige Heimkind Jenö Alpár Molnár ins Hohe Haus einlud, um aus dessen 2008 erschienenen Buch "Wir waren doch nur Kinder“ zu lesen.
Zwei Jahre zuvor hatte profil Franz Josef Stangl porträtiert, der sieben Jahre lang in Besserungsanstalten "vernichtet“ worden war, wie er es formulierte (Ausgabe vom 28. Jänner 2008). Stangl ist heute einer der umtriebigsten Vertreter eines Vereins ehemaliger Heimkinder.
Es gehört zu den Erfolgsgeschichten des Journalismus, dass die Verbrechen an den Heimkindern ins öffentliche Bewusstsein rückten und Menschen wie Stangl nicht mehr als Lügner abgetan werden. Nach "Kurier“-Recherchen rund um das 1977 geschlossene Kinderheim am Wilhelminenberg geriet die Stadt Wien ins Fadenkreuz der Kritik. Seither ist einiges passiert, "das ohne Öffentlichkeit nicht passiert wäre“, konzediert der Grüne Steinhauser. Die Klasnic-Kommission schüttete 20 Millionen Euro an die Opfer von Missbrauch in der Kirche aus. Kardinal Christoph Schönborn hatte die ehemalige steirische Landeshauptfrau Waltraud Klasnic mit der Leitung des Gremiums betraut. 1700 Betroffene haben sich gemeldet, immer noch kommen neue dazu. Klasnic ist zufrieden mit der Aufarbeitung, auch wenn sie an Grenzen stoße, "wo Opfer nicht mehr leben oder keine Kraft haben, zu uns zu kommen“. Die Caritas Wien ließ aus eigenem Antrieb die Vergangenheit in vier Heimen aufarbeiten, die Caritas in Oberösterreich zieht gerade nach. Aufklärungsbedarf sieht Klasnic inzwischen vor allem im öffentlichen Bereich: "Nicht nur die Kirche, auch der Staat hat Fehler gemacht.“
Die ehemaligen Heimkinder aber warten immer noch auf ein Zeichen der Anerkennung, dass ihnen von Staat und Kirche Unrecht getan wurde.
2011 erkannte ein Forschergremium unter dem Vorsitz des Sozialhistorikers Reinhard Sieder eine "historische Katastrophe von unglaublichen Ausmaßen“. Im Nachhinein klingt das wie die Ankündigung jenes 344 Seiten dicken Berichts, den die von der Stadt Wien betraute Wilhelminenberg-Kommission im Juli 2013 ins Internet stellte. In Gesprächen mit ehemaligen Heimkindern, Erziehern, Nachbarn und Lieferanten hatten sich die Forscher ein Bild von der "massiven physischen und psychischen Gewalt“ verschafft. Gerüchte von massenhaftem sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen fanden sie bald bestätigt. Lediglich die kolportierten Morde ließen sich nicht nachweisen. Ungeklärt ist bis heute allerdings, wer bei der überfallsartigen Schließung des Heimes im Jahr 1977 die Vernichtung der Protokolle anordnete, die Mitarbeiter über ihre Zöglinge angefertigt hatten. Zeugen berichteten, sie seien auf einen Lkw geladen und weggeschafft worden. Am Ende der Nachforschungen bekam die Staatsanwaltschaft dennoch eine Liste mit 30 Verdächtigen zur allfälligen strafrechtlichen Verfolgung ausgehändigt.
Irgendwann wurde die Öffentlichkeit der schrecklichen Geschichten wieder müde. Reporter und Kameraleute wandten sich anderen Themen zu. Die ehemaligen Heimkinder aber warten immer noch auf ein Zeichen der Anerkennung, dass ihnen von Staat und Kirche Unrecht getan wurde. Über 100 von ihnen formierten sich zu einem Verein und trugen das Ansinnen an Bischöfe heran, schrieben dem Bundespräsidenten, dem Sozialminister und dem Wiener Bürgermeister. Manchmal antwortete jemand, meistens nicht. Die verstorbene Nationalratspräsidentin Barbara Prammer wollte sich für eine Zeremonie einsetzen, Kardinal Schönborn hatte sich darüber mit Heinz Fischer unterhalten, Mitglieder der Klasnic-Kommission klapperten die Minister ab, Justiz, Soziales, Bildung, Familie. "Ich hätte mir eine Geste gewünscht, wie seinerzeit von Franz Vranitzky, der sich in Israel auch für etwas entschuldigt hat, wofür er persönlich keine Schuld auf sich geladen hat“, sagt Kurt Scholz, Mitglied der Klasnic-Kommission. Vor einem Jahr signalisierte die Stadt Wien, im Herbst sei es so weit. Dann kamen die Flüchtlinge und die Landtagswahlen. Am Ende fühlte sich wieder niemand für die Veranstaltung zuständig, bei der die Heimkinder zudem ein Wort mitreden wollen. "Das darf kein Schlussstrich werden, mit dem man wieder über uns drüberfährt. Wir wollen, dass die Republik uns von dem Makel reinwäscht, dass wir ohnedies lauter Kretins waren“, sagt Stangl.
Fünf Jahre, nachdem sich das Ausmaß der Verbrechen an den Heimkindern offenbart hatte, sind längst nicht alle Bestände durchpflügt.
Auf profil-Anfrage ließ Nationalratspräsidentin Doris Bures ausrichten, eine würdige Geste der Entschuldigung erfordere einen Schulterschluss, die Möglichkeiten dafür würden ausgelotet. Im Büro des Sozialministers sieht man Kirche und Länder in der Ziehung, dennoch sei der Sozialminister "offen für eine Initiative“. Ähnlich Kardinal Christoph Schönborn, der über seinen Sprecher signalisiert: "Wir sind an Bord, sehen uns aber nicht berufen, uns an die Spitze zu stellen.“ Präsidentschaftskanzlei und Familienministerin Sophie Karmasin äußerten sich nicht. In der für Jugendwohlfahrt zuständigen MA 11 verwies man auf das Koalitionsübereinkommen der rot-grünen Stadtregierung. Darin steht, man werde sich für eine nationale Zeremonie starkmachen. Sollte dies nicht gelingen, würde man sich auf Landesebene etwas überlegen. Erinnerungskultur sieht anders aus. Justizminister Wolfgang Brandstetter deklariert im profil-Gespräch immerhin die Bereitschaft, "an einer Aufarbeitung mitzuwirken, etwa durch das Bereitstellen von Akten der Justiz zu Forschungszwecken“.
Fünf Jahre, nachdem sich das Ausmaß der Verbrechen an den Heimkindern offenbart hatte, sind längst nicht alle Bestände durchpflügt. Auch die berüchtigte Besserungsanstalt für männliche Jugendliche in Kaiserebersdorf, die zur Justiz ressortierte, harrt einer Durchleuchtung. Sind wenigstens die Opfer entschädigt, die Täter zur Rechenschaft gezogen? Die Kirche bekannte sich zögerlich zu ihrer Schuld, zahlte "finanzielle Hilfen“ und Therapien; von "Entschädigung“ will Waltraud Klasnic nicht reden. Die Beträge brauchen laut Kommissionsmitglied Scholz den Vergleich nicht zu scheuen: "In Deutschland gab es maximal 5000 Euro, bei uns liegt die durchschnittliche Zahlung bei 12.000 bis 13.000 Euro und der Höchstsatz bei 35.000.“ Doch die Täter blieben meist unbehelligt, nicht zuletzt, weil ihre Verbrechen verjährt waren. Inzwischen wurden in den Bundesländern Diözesankommissionen eingerichtet, die sich auch um Täter kümmern sollen. Der Bund hingegen tut immer noch so, als ginge ihn das Thema nichts an. Als sich herausstellte, dass es auch in staatlichen Internaten zu Übergriffen gekommen war, klopfte die Klasnic-Kommission beim Bildungsministerium an: "Die Antwort war erst einmal zwei Jahre Schweigen“, so Scholz.
Wie viele zwischen 1945 und 1990, der Hochphase physischer und psychischer Gewaltexzesse, zu Opfern wurden, ist selbst für ihn schwer zu schätzen.
Die Stadt Wien schaute beim Wilhelminenberg genau hin. Immerhin. Selbst Rechtsanwalt Johannes Öhlböck, der Dutzende Heimopfer vertritt - derzeit laufen drei Zivilverfahren und ein Strafverfahren gegen Erzieherinnen - zollt dafür Respekt: "Ich habe auch Erfahrung mit Benediktinern und anderen Orden, die könnten sich von Wien eine Scheibe abschneiden.“ Die Stadt zahlte Millionen an Entschädigungen. Wer als Kind aufgrund einer Jugendwohlfahrtsmaßnahme zu Schaden gekommen war - ob in kirchlichen oder staatlichen Heimen oder in einer Pflegefamilie - erhielt zwischen 5000 und 35.000 Euro. Die Abwicklung übernahm die Opferschutzeinrichtung Weißer Ring. 2800 Menschen haben sich hier gemeldet, laut Geschäftsführerin Marianne Gammer flossen in Summe 35,6 Millionen Euro. Auch hier trudeln immer noch neue Meldungen ein, im Vorjahr waren es durchschnittlich 34 pro Monat.
Die Wilhelminenberg-Aufarbeitung sollte pars pro toto stehen, was in der Praxis bedeutet, dass an andere städtische Heime - Eggenburg, Hohe Warte oder Wimmersdorf - bis heute nicht gerührt wird, wie der Historiker Michael John kritisiert. John setzte sich mit der Heimgeschichte auseinander, lange bevor sich Medien dafür interessierten, und war Mitglied der Wilhelminenberg-Kommission. 500.000 Euro hat ihre Arbeit gekostet. Für die Idee, das ehemalige Waisenhaus Hohe Warte aufzuarbeiten, hat Wien nur noch wenig finanzielle Mittel übrig. "Für die Anerkennung der Opfer und das gesellschaftliche Klima wäre eine lückenlose Aufarbeitung unverzichtbar“, sagt John. 11.000 Heimkinder zählte man 1970. Wie viele zwischen 1945 und 1990, der Hochphase physischer und psychischer Gewaltexzesse, zu Opfern wurden, ist selbst für ihn schwer zu schätzen: "Beschränkt man sich auf Fälle von unverhältnismäßiger Repression, kommt man auf eine fünf- bis sechsstellige Zahl.“
Die Erziehungsheime waren Sache der Kirche und der Länder, wo eigene Kommissionen die Arbeit aufnahmen. Das Land Salzburg gab eine Heimkinder-Studie in Auftrag, Vorarlberg ließ das Gewaltregime im ehemaligen Erziehungsheim Jagdberg erforschen. Laut Horst Schreiber, Historiker aus Innsbruck und Verfasser einer Reihe von Büchern zur Heimerziehung, sind die Landesheime im Westen des Landes inzwischen gut erforscht. Mindestens 8000 Kinder waren seit 1945 in Tirol und Vorarlberg untergebracht, weitere 4000 bis 5000 in katholischen Heimen.
Im Rückblick offenbaren sich strukturelle Unterschiede zwischen katholischen und staatlichen Gewaltregimen.
Seit 2010 wurden rund vier Millionen Euro an etwa 600 Betroffene gezahlt. Nur die Orden verriegeln immer noch ihre Archive. Im Kloster Martinsbühel bei Zirl in Tirol, das in der NS-Zeit als Schule für "schwer erziehbare Kinder” diente, führten Benediktinerinnen ab 1947 ein Kinderheim und eine Behinderteneinrichtung, wo Kinder als Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Schreiber würde gerne Berichten von Zeitzeugen nachgehen, "aber die Nonnen verweigern bis heute jede Kommunikation mit den Opfern“, so Schreiber.
Das "größte Scheitern“ bei der Aufarbeitung der nationalen Nachkriegsschande besteht vermutlich darin, dass die von vielen Seiten geforderte staatliche Oberkommission nie zustande kam. Der Bund igelte sich von Anfang an in seine Unzuständigkeit ein und verwies Opfer, die in den Ländern und bei der Kirche abblitzten, auf den Gerichtsweg. "Eine Position, die völlig ausblendet, dass die meisten Taten längst verjährt sind“, kritisiert Steinhauser. Viele Heimkinder reiben sich in der föderalen Zersplitterung auf und fühlen sich hin und her geschoben, so wie früher als Zöglinge der Fürsorge. Oft bekamen sie nur Bruchstücke ihrer verfahrenen Geschichte in die Hand, weil Akten vernichtet wurden oder nur mit viel Hartnäckigkeit aufzutreiben sind. Margit Christine Skala, 71, war als Mädchen in einem Heim in der Hinterbrühl gewesen, von dem die Diözese zunächst behauptete, es habe nie existiert: "Ein alter Pfarrer konnte sich aber noch erinnern, schließlich habe ich meinen Akt im Staatsarchiv gefunden.“
Franz Josef Stangl ist es in mehrfachen Anläufen nicht gelungen herauszufinden, was aus einer Anzeige gegen seinen Großvater geworden ist. Seine Mutter hatte 1957 auf einem Gendarmerieposten in der Oststeiermark zu Protokoll gegeben, von ihrem Adoptivvater vergewaltigt worden zu sein. Gingen die Beamten dem Vorwurf nach? Bei der Staatsanwaltschaft Graz wollte man dem Enkel mit Verweis auf den Datenschutz keine Auskunft geben.
Im Rückblick offenbaren sich strukturelle Unterschiede zwischen katholischen und staatlichen Gewaltregimen. Am Wiener Wilhelminenberg überwogen körperliche Tortouren, während in kirchlichen Internaten, wo sich die Aufstiegshoffnungen der männlichen Landjugend bündelten, sexuelle Übergriffe dominierten. Aus der Sicht der Betroffenen aber geht es um das Große und Ganze. Die meisten von ihnen sind inzwischen in Pension und blicken mit wehmütigem Ingrimm auf ein Leben zurück, das mit etwas mehr Glück ganz anders verlaufen hätte können. Zu den für sie schmerzlichsten Erkenntnissen der Wilhelminenberg-Untersuchung gehört, dass die Zustände bis in höchste Beamtenkreise bekannt waren, sich aber niemand veranlasst sah, bedrängten Kindern zu Hilfe zu eilen. "Wir waren es nicht wert“, sagt Ilonka Stahleder, geborene Redinger, die als Mädchen ein Jahrzehnt am Wilhelminenberg verbracht hatte. Manche ihrer Leidensgenossen schafften es als Erwachsene, qualvolle Erlebnisse hinter einer achtbaren Fassade zu vergraben. Viele wurstelten sich mit Hilfsjobs durchs Leben, innerlich von der stetigen Erwartung gehetzt, jeden Augenblick in ein Unglück zu laufen. Andere strauchelten, wurden drogensüchtig oder kriminell.
Eine offene Wunde sind auch Versicherungszeiten und Opferpensionen.
Der Kampf der ehemaligen Heimkinder ist einsam geworden, seit die öffentliche Aufmerksamkeit weg ist. "Das Blut ist eingetrocknet“, sagt Stangl. Es gibt keine Täterforschung, Mittel für Aktenanalysen, auch juristisch sind die Verbrechen nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet. Jenö Molnar focht eine Schadenersatzklage gegen das Land Oberösterreich durch alle Instanzen, derzeit ist die Causa beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg anhängig. Molnar, der von Tatiana Urdaneta Wittek, Kanzlei Lansky, vertreten wird, hatte geltend gemacht, die Erinnerungen an traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit seien erst bei einer schweren Operation vor etwa zehn Jahren hochgekommen. Die Frage, wann die Verbrechen verjähren, darf man durchaus auch politisch und moralisch verstehen, wie Clemens Jabloner, Ex-Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, in einem "Standard“-Interview erklärte: "Der Umstand, dass etwas verjährt ist, schließt nicht aus, dass man neue Rechtsgrundlagen schafft, wenn man befindet, dass sonst nicht genug getan wurde.“ Im Zuge der Restitution von NS-Raubgut habe sich der Staat schon einmal einen Ruck gegeben.
Eine offene Wunde sind auch Versicherungszeiten und Opferpensionen. Die Männer und Frauen, die als Kinder in Besserungsanstalten oft im buchstäblichen Sinn bis zum Umfallen arbeiten mussten, fühlen sich um Löhne und Pensionsansprüche betrogen. Sozialminister Rudolf Hundstorfer zeigt bei dem Thema sofort auf die Länder, denen die Erziehungsheime unterstanden. Auch bei Opferrenten steht er auf der Bremse.
Ich habe Kinder und Enkel. Was uns passiert ist, darf sich nicht wiederholen!
2012 gelang es einer 70-Jährigen, die als Kind in einem Heim in Innsbruck gequält worden war, 1600 Euro zu erstreiten. Ihr deutscher Anwalt Christian Sailer führte danach eine Reihe ähnlicher Verfahren und stellte fest, "dass die Sozialbehörde offenbar Angst bekommen hat, dass sich alle Schleusen öffnen“. Seither gäbe es fast nur noch negative Bescheide. Tatsächlich: Von 304 Anträgen auf Verdienstentgang wurden bisher erst 33 bewilligt, 132 sind noch in Bearbeitung. Laut einem Sprecher des Sozialministeriums ziehen sich die Verfahren, weil es schwierig sei, entgangene Verdienstchancen auf konkrete Heimschäden zurückzuführen: "Das primäre Instrument der Entschädigung in diesem Bereich sind die von den Ländern und der Kirche getroffenen Maßnahmen.“
Die Heimkinder setzen große Hoffnungen in eine "Wiener Heimstudie“, die 2017 fertig sein soll und über die Grenzen hinweg Aufsehen erregen könnte. Die Traumapsychologin Brigitte Lueger-Schuster will damit eine Frage klären, die den Opfern von Missbrauch und Gewalt unter den Nägeln brennt wie keine andere: Wirken sich traumatische Erlebnisse in frühen Jahren ein Leben lang aus, etwa in Form psychischer Probleme, geringer Ausbildung, hoher Kriminalität? Der Zwischenbericht liefert ein zartes, erstes Ja. Lueger-Schuster will dazu "harte Fakten“ ermitteln und sucht für die Kontrollgruppe noch Menschen zwischen 50 und 70 Jahren, ohne traumatische Heimgeschichte.
Die Debatte der ehemaligen Heimkinder im 15. Wiener Gemeindebezirk ist nach einigen Stunden in der Zukunft gelandet. Man habe genug von der Rolle der Opfer und Bittsteller. Stangl und seine Mitstreiterinnen wollen sich als Zeitzeugen zur Verfügung stellen, wollen anfangen, ihre Geschichten in Schulen zu erzählen, damit nachfolgende Generationen daraus ihre Schlüsse ziehen können. Volek: "Ich habe Kinder und Enkel. Was uns passiert ist, darf sich nicht wiederholen!“