Wer ist Herbert Kickl? Woher kommt er? Wie wurde er zu dem, der er heute ist? Ein „Sicherheitsrisiko“ (Bundeskanzler Karl Nehammer), ein „ehrlicher, geradliniger und bodenständiger Vollblut-Freiheitlicher“ (der niederösterreichische Landeshauptfrau-Stellvertreter Udo Landbauer), der Mann, „der Volkskanzler kann“ (Rechtsextremist Martin Sellner), und ganz objektiv betrachtet: der nach allen aktuellen Umfragen unbestrittene Favorit für die Nationalratswahlen im Herbst. Es gibt kaum einen Politiker, über dessen Herkunft und Werdegang – bei gleichzeitiger medialer Allgegenwart – so wenig bekannt ist, wie Herbert Kickl. Das war der Ausgangspunkt für unsere monatelange Recherche, deren Ergebnis jetzt unter dem Titel „Kickl und die Zerstörung Europas“ als Buch im Zsolnay Verlag erscheint.
Da bisher keine Gesamtbetrachtung zu Herbert Kickl erschienen ist, war unser Anspruch, mit so vielen Menschen wie möglich zu sprechen, die den 55-Jährigen kennen oder kannten, um aus Erinnerungen und Beobachtungen ein möglichst facettenreiches Porträt des verschlossenen Politikers zu zeichnen. Nachbarn, Klassenkameraden, Studienkollegen, politische Wegbegleiter, Gegner, Feinde gaben Auskunft, manche mit Namen, andere anonym. Kickl selbst wollte übrigens – auch das passt ins Bild – trotz mehrmaliger Anfragen keine Fragen zu seinem Leben beantworten. „Das profil recherchiert in meinem Heimatort“, schleuderte er missbilligend bei einer Rede im vergangenen Herbst in Seekirchen ins Publikum.
Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer Kickl ist, wo er herkommt – und wo er hinwill. Es ist die Biografie eines Arbeiterkindes: der Großvater ein illegaler Nazi; die Eltern beide im Magnesitwerk in Radenthein beschäftigt, wobei der Vater sich als Fußballer in der Werksmannschaft auszeichnete. Der kleine Herbert erwies sich als begabter Bub, der einen Hang zum Militärischen entwickelte und zur Freude am Widerspruch. Letzterer traf auf eine von der SPÖ dominierte Welt im Kärnten der 1980er-Jahre, und als Identifikationsfigur bot sich nur einer an: Jörg Haider. Das Buch verfolgt Kickls Weg von der Kärntner Provinz ins studentische Leben in Wien, wo der Studienabbrecher eine ideologische Prägung erfährt und schließlich bei der FPÖ landet.
Kickls eigentümlich spröder Charakter in Kombination mit einem unbestreitbaren Talent für aggressive Kommunikation prädestinierte ihn zur ewigen Nummer zwei, zum Offensivstrategen im Hintergrund. Wie es dazu kam, dass er plötzlich, aber keineswegs zufällig, an die Spitze der Partei gelangte, lesen Sie in einem der Auszüge auf den folgenden Seiten.
Die erstaunliche Karriere des ersten österreichischen Rechtspopulisten, der eine reale Chance auf das Kanzleramt hat, lässt sich nur verstehen, wenn man parallel dazu den Aufstieg dieser politischen Bewegung in ganz Europa mitdenkt. Zu Zeiten eines Jörg Haider oder Jean-Marie Le Pen in Frankreich blieben deren Erfolge Einzelphänomene, auf dem Kontinent erschrocken wahrgenommen, aber weitgehend folgenlos. Kickls politischer Werdegang verläuft synchron mit dem von Marine Le Pen (Frankreich), Matteo Salvini (Italien), Alice Weidel (Deutschland) und vielen weiteren Vertreterinnen und Vertretern des Rechtspopulismus, der sich in ganz Europa ausgebreitet hat und das „System“ – wie Kickl es nennt – attackiert. Man kann dafür auch den Begriff des „politischen Fundaments“ verwenden, das diese Gesinnungsgemeinschaft zerstören will. Es handelt sich um Regeln und Werte, die in Verfassungen, internationalen Abkommen und Menschenrechtskatalogen festgehalten sind. Was dabei herauskommt, wenn man diese untergräbt, kann man im Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán besichtigen, der Kickls erklärtes Vorbild ist.
Die Tatsache, dass in mehreren europäischen Staaten Politiker und Politikerinnen wie Herbert Kickl nahe daran sind, auf demokratischem Weg an die Regierungsspitze zu gelangen, verleiht ihren Plänen zum ersten Mal das Potenzial, eine politische Kontinentalverschiebung zu bewirken. Weg vom liberalen, hin zu einem illiberalen, völkisch konzipierten Europa.
Es ist wichtig zu verstehen, wer Herbert Kickl ist.
Die folgenden, stark gekürzten Auszüge stammen aus dem Buch „Kickl und die Zerstörung Europas“ (Zsolnay, erhältlich ab 15. April) der profil-Redakteure Gernot Bauer und Robert Treichler.
Herbert Kickls Wurzeln liegen in der Kärntner Gemeinde Radenthein unweit des Millstätter Sees. Genauer: in der sogenannten Erdmannsiedlung. In der Bachstraße steht das gelb gestrichene Haus. An der Straßenseite im Erdgeschoß liegen neben der Eingangstür drei kleine Fenster, das mit Eternit-Platten gedeckte Dach ist tief heruntergezogen. Im ersten Stock befindet sich eine Dachgaube mit einem Fenster, und darüber, etwas versetzt, ein Schornstein. Klein ist das Haus, schlecht isoliert und im Inneren wegen der kleinen Fenster recht dunkel. Zum Heizen dient ein kleiner Holzofen, der in der Küche steht.
Hier wächst Herbert Kickl auf, geboren am 19. Oktober 1968 in Villach. Er wohnt mit seinen Eltern, Andreas und Herta Kickl, im Erdgeschoß, in der Wohnung darüber lebt seine Großmutter mütterlicherseits. Damals lautet die Adresse noch Erdmannsiedlung 79, die hübschen Straßennamen wie „Bachstraße“ werden erst 2017 eingeführt. Die Familie wohnt zur Miete, Eigentümerin des Hauses ist die Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Neue Heimat. Rechts und links stehen weitere, identische Zweifamilienhäuser, weiter unten an der Straße gehen sie in Reihenhäuser über, doch der Bauplan ist immer derselbe. Alle wohnen gleich, allerdings haben die meisten Familien damals mehrere Kinder und leben deshalb gedrängter. Herbert ist ein Einzelkind.
Florian Johann Kickl, Herberts Großvater väterlicherseits, wird am 4. Mai 1904 in Sittich, einer Ortschaft der Gemeinde Feldkirchen in Kärnten, geboren. Er ist das uneheliche Kind von Agnes Kickl, einer Dienstmagd, und wird katholisch getauft. Am 7. Februar 1932 heiratet er Maria Reimann, geboren am 26. August 1909 als Tochter eines landwirtschaftlichen Hilfsarbeiters. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden bereits einen Sohn namens Walter. Florian Kickl ist Hilfsarbeiter. Das Ehepaar wohnt in Niederdorf, Ortschaft Sittich, in Feldkirchen. Florian und Maria Kickl werden laut dem Trauungsbuch der Diözese Gurk Eltern von 13 Kindern. Der uneheliche Sohn Walter wurde 1940 legitimiert.
Am 26. Februar 1933 tritt Florian Kickl der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei. Er gibt als Beruf „Hilfsarbeiter“ an und erhält die Mitgliedsnummer 1451800, Ortsgruppe Feldkirchen. Die Mitgliedskarte wird am 23. März ausgestellt. Sie ist im Deutschen Bundesarchiv unter der Signatur „BArch R 9361-XI KARTEI / 19991558“ archiviert.
Wenige Wochen vor Kickls Eintritt in die NSDAP, am 30. Jänner 1933, ist Adolf Hitler in Deutschland zum Reichskanzler ernannt worden, und seine Machtergreifung verleiht auch den österreichischen Nationalsozialisten Aufwind. Nach einem tödlichen Attentat der Nazis in Krems wird die NSDAP schließlich am 19. Juni 1933 verboten. NSDAP-Mitglieder wie Florian Kickl sind jetzt illegal.
Am 8. Juli 1944 kommt Herberts Vater, Andreas Siegfried Kickl, in Feldkirchen in Kärnten auf die Welt. Er ist im Eintrag seiner Eltern im Trauungsbuch als elftes Kind vermerkt. In den Geburtenbüchern der Diözese Gurk sind einige seiner Brüder auffindbar: Walter (1929) Volkmar (1940), Adolf (1941), Max (1942), Gerhard (1947), Anton (Geburtsjahr unleserlich). Am 1. August 1944, kurz nach der Geburt von Andreas Kickl, tritt Florian Kickl, Herberts Großvater, aus der Kirche aus.
Als Kind hat Herbert Kickl den besten Spielplatz vor der Haustür: den Wald. Die Eltern sind berufstätig, oft passt seine Großmutter auf ihn auf. In der Siedlung findet Herbert sehr früh seinen bis heute besten Freund. Er heißt Bernhard, die beiden sind unzertrennlich, „wie Pech und Schwefel“, sagt Bernhards Mutter. Herbert sei ein „sehr braves Kind“ gewesen, erinnert sie sich. Meistens streifen die Buben durch den Wald, wo es Höhlen gibt und einen Bach. Herbert und Bernhard besuchen dieselbe Klasse der Volksschule in Radenthein und sind Sitznachbarn. Herbert erweist sich als guter Schüler. Noch etwas fällt sofort auf: Er ist klein, verfügt aber über großes Bewegungstalent. Beim Fußball ist er einer der Besten, und beim Sechzig-Meter-Lauf besiegt er alle anderen Schüler, erzählt ein Schulfreund.
Herbert verbringt die Nachmittage oft in der Wohnung von Bernhards Eltern. Die beiden Buben wachsen auf wie Brüder. Im Sommer fährt Herbert mit der Familie seines Freundes mit auf Urlaub nach Bibione, auch ein Tagesausflug nach Venedig steht auf dem Programm.
Am Ende der vier Volksschuljahre werden nur drei Kinder ins Gymnasium geschickt. Herbert Kickl ist eines davon. Das nächstgelegene Gymnasium befindet sich in der Bezirkshauptstadt Spittal an der Drau, etwa eine halbe Stunde entfernt von Radenthein. Die Klasse, in die Herbert Kickl kommt, erweist sich als eine Gruppe von bemerkenswerten jungen Leuten. Darunter sind etwa Eva Glawischnig, die spätere Bundessprecherin der Grünen, Johannes Strobl, ein heute international gefragter Organist, und Matthias Geist, der Wiener Superintendent der Evangelischen Kirche.
Einer von Kickls Klassenkameraden ist Wolfgang Polanig. Er arbeitet heute für eine soziale Non-Profit-Organisation in Spittal an der Drau und ist SPÖ-Stadtrat in Radenthein. Polanig sitzt jeden Morgen neben Herbert Kickl im Bus. Bereits die Volksschule haben sie gemeinsam besucht. Ein dritter Freund aus der Klasse ist auch immer dabei, und die drei nutzen die Zeit, um sich zu unterhalten, Hausübungen rasch fertig zu machen oder auch abzuschreiben. „Die Busfahrt war wichtig für uns“, erinnert sich Polanig. Man tauscht sich aus und erzählt einander Neuigkeiten. Zum Beispiel an einem Dezembermorgen 1980, die Schüler sind in der zweiten Klasse Gymnasium, und Wolfgang Polanig hat gelesen, dass John Lennon erschossen worden ist. Kickl, der das noch nicht wusste, reagiert entsetzt. Wie viele in seiner Klasse mag er die Beatles.
In der Pubertät entwickelt Kickl seinen eigenen Stil. Er trägt auch in der Schule Militärhosen, die er im US-Army-Shop in Spittal kauft. Dazu kurz geschorene Haare, eine kreisrunde Nickelbrille, wie die von Lennon, und bald einen Dreitagebart, erinnert sich Polanig. Alles, was mit dem Militär zusammenhängt, fasziniert Kickl. Darin kennt er sich gut aus, und in der vierten Klasse eröffnet er seinen Mitschülern, dass er die Schule wechseln wird. Kickl will das Oberstufenrealgymnasium an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt besuchen. Dort tragen die Schüler auch im Unterricht Uniform und erhalten eine vormilitärische Ausbildung. Polanig erzählt, Kickl habe sich am Ende des Schuljahres verabschiedet. Doch am ersten Schultag der fünften Klasse sitzt Herbert Kickl wieder im Bus zum Gymnasium in Spittal. Warum aus dem Schulwechsel nichts wurde, weiß Polanig nicht.
Die Bezirkshauptstadt Spittal an der Drau, wo Kickl das Gymnasium besucht, wird damals durchgehend von SPÖ-Bürgermeistern regiert. Im Bundesland Kärnten stellt die SPÖ den Landeshauptmann, seit Kickl denken kann. Und Österreich insgesamt ist noch sehr paritätisch zwischen der SPÖ und der ÖVP aufgeteilt. Man nennt das den Proporz. Diese politische Landschaft wird abrupt von einem jungen Mann gestört, der Mitte dreißig ist und als Obmann der Kärntner FPÖ nicht nur SPÖ und ÖVP, sondern auch die eigene Bundesparteiführung frech kritisiert: Jörg Haider. Kickl dürfte noch Gymnasiast gewesen sein, als er ihn zum ersten Mal sah. Haider steht für eine Art von Widerspruch, die Kickl fasziniert. In seiner Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich etwas, das, transformiert auf das große Ganze, den Aufstieg der FPÖ und den Abstieg der SPÖ im Arbeitermilieu bedeutet. Dabei funktioniert das große Versprechen des Aufstiegs, die Legitimation der Sozialdemokratie, während der 1980er-Jahre noch ganz gut. Herbert Kickl, der Bub aus der ärmlichen Erdmannsiedlung, absolviert das Gymnasium und zieht bald nach Wien, um als Erster seiner Familie an einer Universität zu studieren. Hätte man Kickls Mitschüler und Nachbarn gefragt, bei welcher Partei er anheuern würde, hätten wohl die meisten auf die SPÖ getippt. Doch Herbert Kickl hat sich charakterlich davon entfernt, vorgezeichnete Wege zu gehen. Er hat Freude an der Verneinung gefunden, darüber hinaus neigt er zum Militärischen – eine behäbige und vor allem in den Jugendgruppen pazifistische Großpartei wie die SPÖ entspricht seinem Wesen ganz und gar nicht. Jörg Haiders rebellisches Aufbegehren und dessen Eintreten für die Kriegsgeneration imponieren ihm dagegen sehr.
Wohin ihn diese jugendliche Prägung führen wird, ist für seine Umgebung nicht auszumachen. Seine Mitschüler von einst wären jedenfalls nicht auf die Idee gekommen, dass ihr Freund einmal so radikale Positionen vertreten würde, wie er das heute tut. Einer von ihnen sagt, er würde gern mit Kickl unter vier Augen reden, mit der Zusicherung, dass nichts von dem Gespräch nach außen dringen würde. Er wolle verstehen, wie Kickl zu dem werden konnte, der er heute ist.
Die Anfänge in der FPÖ
Herbert Kickls Karriere in der FPÖ beginnt mit einer Notiz auf einem Bierdeckel. In der Parlamentscafeteria trifft sich der Studienabbrecher 1995 mit Fritz Simhandl, heute FPÖ-Bezirksrat und Fachreferent für Sozialpolitik im FPÖ-Parlamentsklub. Damals ist Simhandl stellvertretender Geschäftsführer der neu aufgestellten Freiheitlichen Akademie. Es ist ein Vorstellungsgespräch, bei dem Kickl offenbar zu überzeugen weiß. Simhandl notiert die Telefonnummer der Akademie auf dem Bierdeckel und sagt Kickl, er solle sich bei Interesse melden. So beginnt er in der FPÖ zu arbeiten, die damals in der Kärntner Straße 28 in der Wiener Innenstadt eingemietet ist. Nach Feierabend sagt Kickl im Kärntner Dialekt zu seinen Kollegen: „Gemma noch ans tscheppern.“ Er trinkt gern Bier. In die Bars und Clubs der Wiener Innenstadt zieht es ihn nicht. Lieber geht er in eines der Gasthäuser und Beisln, die es in der City noch gibt, etwa zum „Reinthaler“ nahe der Parteizentrale.
Kickl erzählt, er habe sich bei den Freiheitlichen mit den Worten vorgestellt: „Ich kann zwar nichts, aber ich kann alles lernen.“ Sein Philosophiestudium ohne Abschluss zählt wenig, im herkömmlichen Verständnis tatsächlich nichts. Mediziner, Juristen, Betriebswirte und Diplomingenieure werden damals in der FPÖ bevorzugt. Die Freiheitlichen sind – wenn auch nicht mehr ganz so ausgeprägt wie einst – eine Honoratiorenpartei aus Anwälten, Ärzten, Notaren, Architekten und Apothekern. Geschichte und Philosophie besitzen in diesen Zirkeln einen gewissen Stellenwert, Politikwissenschaften und vor allem Publizistik gelten als brotlose Kunst.
Doch die Universitätssemester werden Kickl auf einem Umweg dahin lenken, wo er seine Lebensaufgabe findet. Über das Philosophiestudium ist er in einen Kreis von Anti-Linken gelangt. Einer davon ist Johannes Berchtold aus Bregenz. Ohne es zu ahnen, ist er für eine der wichtigsten Weichenstellungen des Rechtspopulismus in Österreich verantwortlich. Berchtold ist es nämlich, der Kickl 1995 an die Freiheitliche Akademie vermittelt. Er selbst ist dort beschäftigt und für die Publikationen zuständig. Die Akademie besteht aus zwei Abteilungen, eine für die Schulung, die andere für inhaltliche Grundsatzarbeit. Hier arbeitet Kickl. Seine Aufgaben sind anfangs überschaubar. Er hilft bei der Organisation, besorgt Flipcharts oder stellt Poster bei den Diskussionsabenden, Enqueten und Symposien auf. Ein Parteigänger erinnert sich an den jungen Mitarbeiter: „Er machte immer einen leicht aggressiven Eindruck. Er war der leicht empörte, kleine Mann aus Kärnten.“
FPÖ-Funktionäre sind damals entweder Wirtschaftsliberale oder Nationale, die in Vereinen und Verbänden verankert sind. Kickl ist weder noch. Einmal wird er von einem Vorgesetzten gefragt: „Wenn du hier niemanden magst, was machst du dann hier?“ Geschäftsführer der Freiheitlichen Akademie ist zu dieser Zeit Karl-Heinz Grasser, ihm folgt der Nationalratsabgeordnete Herbert Scheibner. Regelmäßig tritt Parteichef Jörg Haider bei Veranstaltungen auf. Im Jahr 1995, zu Kickls Arbeitsbeginn, sieht Haider in einer Diskussion über „Ein Jahr EU-Votum“ seine schlimmsten Befürchtungen über die Folgen des Beitritts bestätigt. Die Regierung habe „falsch verhandelt“. Kickl lernt Haider aus der Nähe kennen; er kann beobachten, wie er argumentiert; wie Haider zu jedem Thema etwas zu sagen hat, weil er ein guter Improvisator ist, es in der politischen Kommunikation mehr auf die Verpackung als auf den Inhalt ankommt. Kickl, sozial etwas verkrampft, bewundert Haiders spielerisch leichten Umgang mit den Leuten.
Der Charakter des Mannes, der „Volkskanzler“ werden möchte
Wenn es eine Eigenschaft gibt, die in Herbert Kickls Wesen besonders ausgeprägt ist, dann ist es das Misstrauen. Er hegt es auch gegenüber den Mitstreitern in seiner eigenen Partei. Bis heute hält er Distanz zu den FPÖ-Obmännern von Wien und Oberösterreich, Dominik Nepp und Manfred Haimbuchner, die ihn nicht an der Parteispitze sehen wollten. Als Innenminister misstraut er seinen eigenen Beamten, vor allem jenen, die er für Parteigänger der ÖVP hält. Er misstraut seinen politischen Mitbewerbern, nicht nur der ÖVP, die ihn 2019 aus dem Innenministerium wirft. Sein Misstrauen macht ihn destruktiv.
In Oppositionszeiten schickt Klubobmann Heinz-Christian Strache lieber die Abgeordneten Dagmar Belakowitsch oder Walter Rosenkranz in die Präsidialsitzungen des Nationalrats, um ihn zu vertreten, Kickl hält er für zu feindselig gegenüber den anderen Parteienvertretern. Vor allem misstraut Herbert Kickl den Medien. Auch deswegen reagiert er in Interviews oft überaus aggressiv. Das Misstrauen geht so weit, dass er selbst banale Fragen nicht offen beantwortet, um sich nur ja keine Blöße zu geben. Auf die Frage beim ORF-Sommergespräch 2022, wann er zuletzt geweint habe, meint er: „Vor lauter Lachen, als ich ‚Stan & Ollie‘ gesehen habe.“ Als Kickl im März 2019 in der Ö3-Serie „Frühstück bei mir“ zu Gast ist, lädt er die Moderatorin Claudia Stöckl nicht in sein Haus im niederösterreichischen Purkersdorf, sondern zu Kaffee und Haferbrei-Müsli ins Innenministerium.
Sitzt man Kickl als Interviewer gegenüber, streckt man zur Vorbereitung auf das Gespräch unbewusst den Rücken durch. Denn auch Kickls Körper ist ständig gespannt. Selbst wenn er sich im Fauteuil zurücklehnt, lässt er die Hände auf den Kanten der Lehnen ruhen, als ob er sich jederzeit nach vorn katapultieren wollte. Kickl hat große Augen und blinzelt kaum, was ihn manchmal fanatisch wirken lässt. Ein Interview ist für ihn ein Duell, das selbst dann nicht endet, wenn das Tonband nicht mehr läuft. Andere Politiker werden im Off-Gespräch jovialer, Kickl legt noch eins drauf. Es kann passieren, dass er dem Interviewer aus seinem Büro nachläuft, um ihn im Abgang schnell noch auf einen Denkfehler im letzten Artikel hinzuweisen. Am Ende will er recht behalten. Nicht nur gegenüber Journalisten: Auch Parteifreunde verstrickt er so lange in Diskussionen, bis er das Gefühl hat, sich durchgesetzt zu haben. Kickl argumentiert nicht, er belehrt und wird auch im Vieraugengespräch nicht locker. Er verliere nie seine Abwehrhaltung, sagt ein Abgeordneter einer Oppositionspartei, „er redet selbst im Off so, als wäre eine Kamera auf ihn gerichtet“.
Im persönlichen Gespräch erlebt man Kickl selten völlig entspannt, selbst wenn man ihn jahrzehntelang kennt. Er ist leutselig, freundlich, kann aber bei einem falschen Wort sofort wieder in die Offensive kippen. ÖVP-Minister erzählen, Kickl sei in der Regierung immer derjenige unter den Blauen gewesen, der am häufigsten widerspricht. Bei Regierungsklausuren steht Kickl am Abend lieber abseits. Auf Konversationen mit seinen ÖVP-Regierungskollegen verzichtet er gern, wie ein ÖVP-Spitzenpolitiker es schildert: „Zu Kickl konnte man kein Vertrauensverhältnis aufbauen. Mit anderen FPÖ-Ministern gab es zwischendurch Spaß. Mit Kickl habe ich nie gelacht.“
Wie Kickl sich an die Spitze der Partei mobbte
Im Mai 2021 ist Norbert Hofer, Dritter Präsident des Nationalrats und Bundesparteiobmann der FPÖ, zu einer dreiwöchigen Reha-Behandlung in Baden bei Wien. Die Schmerzen an der Halswirbelsäule sind stark. Hofer ist kein gesunder Mann.
Bei einem Paraglider-Absturz 2003 erleidet er schwere Wirbelsäulenverletzungen, verbringt ein Jahr im Krankenhaus und auf Reha. Zunächst benötigt er einen Rollstuhl. Er kämpft sich zurück, lernt wieder gehen. Dann reicht ihm ein Stock, ein teures Hightech-Produkt, leicht, aber robust. Immer wieder muss er zu Behandlungen. Im Februar 2020 spricht er öffentlich über Herzprobleme.
Die Reha in Baden war anstrengend. Hofer fährt in sein Haus nach Pinkafeld im Burgenland, ganz fit ist er noch nicht. Am 1. Juni 2021, um 16.12 Uhr, setzt er eine Meldung auf dem Kurznachrichtendienst Twitter ab: „Heute ist mein erster Tag nach der Reha – und mein erster Tag nach der Tagespolitik. Ich lege meine Funktion als Bundesparteiobmann zurück und wünsche meinem Nachfolger alles Gute.“
Im Nachhinein sind auch Hofers Unterstützer enttäuscht. Dass der Parteiobmann per Tweet zurücktritt, erwischt sie unvorbereitet – und hilft Kickl. Bei einem geordneten Rückzug Hofers wäre es für Kickls parteiinterne Gegner wie den oberösterreichischen Landesparteiobmann Manfred Haimbuchner möglich, noch jemand anderen gegen Kickl zu positionieren, etwa den steirischen Landesparteichef Mario Kunasek. Grund für Hofers spontanen Rückzug ist auch eine wilde, parteiinterne Intrige. Dem Nationalratspräsidenten wird ein Fehlverhalten gegenüber einer Frau unterstellt. Intern kursiert die Geschichte, nach außen dringt sie nicht. Dass der Kampf um die Obmannschaft derart ins Persönliche geht, soll Hofer zur endgültigen Aufgabe bewogen haben – nachdem er sich monatelang gegen Mobbing aus dem Kickl-Lager gewehrt hat.
Die Krisenkommunikation des Klubobmanns greift noch am selben Tag. Erste Landesparteichefs wie der Tiroler Markus Abwerzger und Salzburgs Marlene Svazek sprechen sich für Kickl als nächsten Obmann aus. Vorerst wird statutengemäß der Älteste von Hofers Stellvertretern interimistischer Parteichef: Harald Stefan, Nationalratsabgeordneter, Notar in Wien, ehemaliges Mitglied der Wiener Burschenschaft Olympia. Zwei Jahre später – die FPÖ liegt in den Umfragen deutlich voran – wird Stefan sagen: „Was 2021 gesät wurde, geht jetzt auf.“
Stefan ist ein Mann im Hintergrund, drängt sich nicht auf. Der Parlamentsklub ist neben der FPÖ-Niederösterreich Kickls Machtbasis und Stefan dort einer der zentralen Mandatare. Für Kickl wird er immer wichtiger. Er hält Verbindung zum Milieu der Corps und Burschenschaften, mit denen Kickl fremdelt, deren Unterstützung er aber braucht. Zwölf der insgesamt
30 FPÖ-Abgeordneten sind völkisch Korporierte. Und sollte die FPÖ wieder in eine Regierung kommen, werden die notwendigen Mitarbeiter für die Kabinette aus den Reihen der Corps und Burschenschaften rekrutiert. Über andere Akademiker-Pools verfügt die FPÖ nicht. Die zweite zentrale Funktion des Harald Stefan: Er ist Kickls Fürsprecher in der Wiener FPÖ, die neben den Oberösterreichern die größten Zweifel gegenüber Kickl hegen. Landesparteiobmann Dominik Nepp wird auch als möglicher Hofer-Nachfolger gehandelt, sagt aber rasch ab.
Alles läuft auf Kickl hinaus. Schließlich gibt auch Manfred Haimbuchner seinen vehementen Widerstand auf. Er will in Oberösterreich bleiben und keinesfalls Bundesparteiobmann werden, auch sonst ist kein Alternativkandidat auszumachen. Am 7. Juni, sechs Tage nach Hofers Rücktritt, wird Herbert Kickl vom FPÖ-Präsidium zum neuen Parteiobmann designiert. Die Entscheidung unter den anwesenden Präsidiumsmitgliedern fällt einstimmig aus. Allerdings haben Haimbuchner und der Vorarlberger Landesparteiobmann Christof Bitschi die Sitzung vorzeitig verlassen. In einer ersten Erklärung als blaue Nummer eins widmet sich Kickl seinem erklärten Feind: „Ich halte die türkise ÖVP für das größte politische Blendwerk der Zweiten Republik.“ Dass es nun zu blauen Flügelkämpfen kommt, schließt er aus: „Die FPÖ ist kein Vogel.“
Norbert Hofer ist wieder der freundliche Freiheitliche: „Ich bin keiner, der irgendwem besonders lange böse sein kann.“ Nicht nur aus charakterlichen Gründen, sondern auch aus taktischen: Schließlich will Hofer 2028 wieder Bundespräsidentschaftskandidat werden. Wohlverhalten tut not. Dabei ist Hofer nicht einmal als nächster FPÖ-Nationalratspräsident gesetzt. Kickl favorisiert die Wiener Abgeordnete Dagmar Belakowitsch.
Welche Gefahr von Kickl und den Rechtspopulisten ausgeht
Wie weit will er gehen? Könnte ein Kanzler Kickl die Republik in der Struktur verändern? Droht eine Orbánisierung Österreichs? Hat Kickl dazu einen Plan? Und was soll das eigentlich sein: ein Volkskanzler?
Das erste Mal verwendet Kickl den Begriff nach einer Klausur des FPÖ-Bundesparteipräsidiums in Saalbach-Hinterglemm im März 2023. Er sagt: „Nach vielen Kanzlern des Systems braucht es einen freiheitlichen Volkskanzler. Das nehmen wir in Angriff. Nahe beim Volk, weit weg von den selbst ernannten Eliten.“ „System“, „Volk“, „Eliten“ – darin steckt die Essenz von Kickls politischem Paradigma.
Grundrechte, die Verfassung und die Justiz, die über deren Einhaltung wacht, sind die größten Hindernisse auf dem Weg der Rechtspopulisten zu dem Staat, wie sie sich ihn vorstellen. Doch es gibt Mittel und Wege, diese zu überwinden. Viktor Orbáns Methode, gleich eine neue Verfassung in Kraft zu setzen, funktioniert nur aufgrund einer Zweidrittelmehrheit. Eine andere, rechtlich heiklere Variante ist der Weg über ein Referendum. Die FPÖ fordert seit Langem die Stärkung der direkten Demokratie und spricht sich unter anderem für eine Volksabstimmung über einen Zusatz zu Artikel 1 der Bundesverfassung aus, der einen umfassenden Schutz der „Souveränität Österreichs“ enthalten soll. Damit würde „der Schutz unserer Heimat gegenüber Brüssel“ gesichert, so Kickl.
Genau das könnte der Plan sein: Ein Volkskanzler Kickl bricht, gestärkt durch ein Referendum, das (möglicherweise) zugunsten der „Souveränität Österreichs“ ausgeht, bei nächster Gelegenheit einen Konflikt mit der EU vom Zaun. Er argumentiert, dass der Wille des Volkes über die Gültigkeit des Vertrags mit der EU zu stellen sei. Das Resultat wäre ein listig herbeigeführtes Patt – und eine tiefe Krise.
Diese Vermutung ist so weit nicht hergeholt. Die AfD, Schwesterpartei der FPÖ, möchte eine Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus der EU abhalten. Marine Le Pen wiederum plant seit Langem, eine Volksabstimmung über eine Änderung der französischen Verfassung abzuhalten, in die eine sogenannte nationale Präferenz aufgenommen werden soll.
Herbert Kickl macht kein Geheimnis daraus, was er als „Volkskanzler“ plant: In einem „ZIB 2“-Interview sagt er, er wolle „eine Rechtslage herstellen, dass man solchen Leuten auch die Staatsbürgerschaft wieder entziehen kann“. Mit „solchen Leuten“ meint er kriminell gewordene Menschen, allerdings nur solche, die ihre Staatsbürgerschaft nicht durch Geburt bekommen haben, sondern weil sie eingebürgert wurden. Einer solchen „Rechtslage“, wie Kickl sie fordert, steht unter anderem das „Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit“ entgegen, ein Vertrag im Rahmen des Europarats, der auch für
Österreich Gültigkeit hat. Er enthält den Grundsatz der Nichtdiskriminierung von Staatsangehörigen, „gleichviel ob es sich bei diesen um Staatsangehörige durch Geburt handelt oder ob sie die Staatsangehörigkeit später erworben haben“. Kickl entgegnet auf solche Einwände: „Das ist die Demokratie.“ Er versteht darunter die Möglichkeit, dass eine Mehrheit einer Minderheit deren Rechte entzieht.
Das beste Beispiel ist die Migration. Kickl möchte nach Orbáns Vorbild eine „Festung Österreich“ bauen und die Zahl der Asylwerber auf null reduzieren. Das wollen auch andere wie Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Doch so lange EU-Gesetze gelten, gestaltet sich das nicht so einfach. Orbán kennt aus Erfahrung die Rechtsstaatsmechanismen der EU. Gemeinsam mit Verbündeten könnten die Rechtspopulisten dagegen vorgehen und daran arbeiten, dass etwa Pushbacks – Zurückweisungen an den Außengrenzen ohne Asylverfahren – legalisiert oder zumindest geduldet werden, die Grenzschutzagentur Frontex härter gegen Migranten vorgeht und Abschiebungen in Länder gestattet wird, in denen den Migranten Gefahr droht.
Damit wäre für Kickl der Weg frei, die Festung Österreich zu errichten.
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.