Wurde Hitler von Europas Dichtern und Denkern sträflich unterschätzt?
Ein Gedanke des Schriftstellers Michael Köhlmeier aus seiner Parlamentsrede 2018 geht auch dem Buchautor und früheren profil-Chefredakteur Herbert Lackner nicht aus dem Kopf: „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.“
Es scheint eine ewige menschliche Wahrheit zu sein, dass Menschen in etwas hineinschlittern, was sie später so nicht gewollt haben wollen. In seiner historischen Studie „Als die Nacht sich senkte. Europas Dichter und Denker zwischen den Kriegen – am Vorabend von Faschismus und NS-Barbarei“ ergründet Lackner das Phänomen der kleinen, stetigen Veränderungen in den 1920er- und 1930er- Jahren: den anschwellenden Antisemitismus, die politische Gewalt, die Verhöhnung des Parteienstaates und des Parlamentarismus. „Warum wurden die Feuerzeichen nicht ernst genommen, warum hat man die Brachialrassisten und Volksverhetzer unterschätzt, bis es zu spät war?“, fragt Lackner im Vorwort. Offenbar waren auch die klügsten Denker jener Zeit, Künstler, Bestsellerautoren, prominente Wissenschafter nicht in der Lage, den Gang der Dinge aufzuhalten und die Demokratie zu retten.
Unwillkürlich sucht man Vergleiche in der Gegenwart, denkt an die Abwertung bewährter demokratischer Verfahren, die Geringschätzung des Kompromisses, das Aufblühen autoritärer Ideen. So einfach macht es sich der Autor nicht. Heute sind zwar keine Wiedergänger unterwegs, doch „für Assoziationen gibt es in der Geschichte der Jahre zwischen den Kriegen erschreckend viel Stoff“, schreibt Lackner. Er beobachtet und seziert den damaligen Zeitgeist, zeichnet – unter anderen – die Lebenslinien der Schriftsteller Robert Musil, Stefan Zweig, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Alma Mahler, der Grande Dame des Wiener Kunstszene, nach. Er führt uns ihre Irrungen und Wirrungen vor, wie sie kriegstrunken den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges huldigen, sich ernüchtert abwenden, revolutionären Illusionen erliegen, den neuen republikanischen Geist feiern, vor Ausbrüchen politischer Gewalt erstarren und sich am Ende über der Frage zerstreiten, ob der Austrofaschismus angesichts eines Adolf Hitler in Deutschland nicht zu unterstützen wäre. Freundschaften zerbrechen.
Stefan Zweig, ein Autor mit Millionenauflage, war der Stillste von allen und der am klarsten Denkende. Im Frühjahr 1918, der Erste Weltkrieg war noch nicht zu Ende, die Donaumonarchie schon in Auflösung, notierte Zweig: „Erbitterung wird sich nach dem Krieg nicht gegen die Kriegshetzer (…), sondern gegen die Juden entladen.“
Alte Werte und Autoritäten wankten
Krieg und Inflation wälzten die bürgerliche Gesellschaft um. Wer sein Erspartes in Kriegsanleihen gesteckt hatte, ging nun am Bettelstab; neue Millionäre wurden über Nacht gemacht. In Wien drängten sich Tausende Flüchtlinge aus Galizien zu jenen, die immer schon arm waren. Alte Werte und Autoritäten wankten, und der Sozialdemokratie war es zu verdanken, dass kommunistische Umstürzler im Zaum gehalten wurden. Die nationalsozialistische Bewegung war in Wien ein schwaches Grüppchen, das gegen Fremde und Juden hetzte und Veranstaltungen der Gegner sprengte. Der noch weitgehend unbekannte Adolf Hitler tauchte im Herbst 1920 in Österreich als Brandredner in Wahlkampfveranstaltungen für die Nationalratswahl auf. In heimischen Zeitungen erschienen dazu kleine Meldungen, während deutsche Blätter alarmiert berichteten, wie die Hitler-Truppe in München politische Gegner mit Rollkommandos blutig schlug. In Italien gründete Benito Mussolini die faschistische Bewegung; Zweig sah darin eine „erste Warnung, dass unter der scheinbar beruhigten Oberfläche unser Europa voll gefährlicher Unterströmungen war“. Manche Vereine, darunter auch der österreichische Skiverband, führten Arierparagrafen ein, Tourismusverbände warben mit „judenfreier Sommerfrische“, der Schriftsteller Hugo Bettauer, der den Bestseller „Stadt ohne Juden“ geschrieben hat, wurde ermordet.
Alles geschah allmählich, doch es gab Wendepunkte. Im November 1926 beschloss die Sozialdemokratie ihr Linzer Programm, in dem sie unter Wenn und Aber erklärte, die Arbeiterklasse könnte zu „Mitteln der Diktatur“ gezwungen sein. Bruno Kreisky sollte dies 60 Jahre später einen „furchtbaren verbalen Fehler“ nennen. Die „Diktatur des Proletariats“ haftete der Partei an wie ein Brandmal und vertiefte die Gräben zwischen den Lagern.
Im Juli 1927 fiel das Skandalurteil von Schattendorf: Rechte Frontkämpfer, die in einen sozialdemokratischen Schutzbundaufmarsch hineingefeuert und dabei einen Kriegsinvaliden sowie ein Kind getötet hatten, waren von einem Geschworenengericht freigesprochen worden. Es kam zu Massenprotesten vor dem Parlament. Sozialdemokratische Politiker konnten ihre Anhänger nicht mehr beschwichtigen. Der Justizpalast ging in Flammen auf, 84 Demonstranten starben durch Schüsse der Polizei, fünf Tote gab es aufseiten der Exekutive. Wer war für die Eskalation verantwortlich? Karl Kraus, Herausgeber der „Fackel“, gab dem Polizeipräsidenten Schuld. Alma Mahler-Werfel sah darin die „böse Saat des Kommunismus“.
Politische Radikalisierung
Die Wehrverbände der politischen Lager wurden radikaler, die Nationalsozialisten frecher. Das kulturelle und wissenschaftliche Leben verengte sich. Wer konnte, folgte dem Ruf ins Ausland. Jüdische Studenten wurden in den Hörsälen von Nazi-Trupps terrorisiert.
1928 wurde in Deutschland die NSDAP mit 37,3 Prozent zur stärksten Partei. In Österreich kollabierte 1931 die größte Bank des Landes, die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe. Ein Jahr darauf feierten die Nationalsozialisten buchstäblich überwältigende Erfolge. Bisher waren sie über drei Prozent nicht hinausgekommen; nun erreichten sie in bürgerlichen Bezirken Wiens schon ein Drittel der Stimmen. Ein paar Monate später hielten sie Gautage in ganz Österreich ab und marschierten über den Ring. Joseph Goebbels trat als Starredner auf.
1933 war Adolf Hitler deutscher Reichskanzler, und unter den Christlich-Sozialen in Österreich setzte sich die Ansicht durch, der Parlamentarismus sei nicht geeignet, die braune Gefahr zu bannen. Es erfordere vielmehr die Ausschaltung von Parteien und demokratischen Institutionen. Was dann auch in die Tat umgesetzt wurde. Eine Geschäftsordnungspanne in einer Parlamentssitzung bot den willkommenen Vorwand, das Parlament aufzulösen.
Österreich hatte nun seinen Austrofaschismus.
Streit um Dollfuß
Für jüdische Schriftsteller, Musiker und Wissenschafter war Adolf Hitlers Machtübernahme existenzbedrohend. Neue Werke wurden nicht mehr verlegt, alte verbrannt. Immer weiter wurden die Verbote gezogen. Die Solidarität hielt damit nicht Schritt. Manch einer – etwa Franz Werfel – unterwarf sich den Bedingungen der neuen Machthaber, in der Hoffnung, ein ihm wichtiges Buch herausbringen zu können. Ein kleiner Aufschub.
Vorerst wurde unter Künstlern und Intellektuellen erbittert über den austrofaschistischen Kanzler Engelbert Dollfuß gestritten. Dollfuß war der Meinung, die „braune Welle“ nur aufhalten zu können, indem man das, was sie vorhatten, in abgemilderter Form selbst besorge. Zweig prophezeite, dass „der Sieg der faschistischen Idee morgen von dem der Nationalisten abgelöst werden wird“. Karl Kraus sah in Dollfuss das kleinere Übel und begrüßte sogar den Ständestaat. 1934 wurde Dollfuß von den Nationalsozialisten ermordet. Die Sozialdemokratie war ein paar Monate zuvor verboten worden. 1938 ging Österreich kampflos unter.
Die jüdischen Künstler mussten flüchten. Für viele andere begann eine glänzende Karriere, bitter kommentiert vom deutschen Schriftsteller Kurt Tucholsky, der mittlerweile in Schweden lebte: „Da kommen sie nun aus allen Löchern gekrochen, die kleinen Provinznutten der Literatur, nun, endlich, endlich ist die jüdische Konkurrenz weg – jetzt aber! Alpenrausch und Edelweiß. Mattengrün und Ackerfurche. Schollenkranz und Maienblut – Niveau null!“
Herbert Lackner: Als die Nacht sich senkte Ueberreuter Verlag, Wien 2019. 224 Seiten. 22,95 Euro.