Herr Hochgatterer, Studien besagen, dass 25 Prozent aller Jugendlichen in Österreich an einer diagnostisch zuordenbaren psychischen Störung leiden. Das ist erschreckend.
Hochgatterer
Da muss ich eines vorausschicken: Als Kinder- und Jugendpsychiater ist man nicht nur verpflichtet, sondern durch den Kontakt mit Kindern und Jugendlichen auch verführt, professioneller Optimist zu sein. Die Haltung unserer Gesellschaft, alles gehe den Bach runter, möchte und darf man im Sinne der Kinder und Jugendlichen nicht teilen. Andererseits ist die Zahl, die Sie nennen, wissenschaftlich gut belastbar. Die österreichische Studie „Mental Health in Austrian Teenagers“ belegt, dass ein Viertel der Kinder und Jugendlichen ein nennenswertes und psychiatrisch definierbares psychisches Problem haben.
Welche Probleme sind das?
Hochgatterer
Es handelt sich zu einem wesentlichen Teil um affektive Störungen, also um das, was man allgemein unter Depressionen subsumiert. Wir haben es in den letzten Jahren mit deutlich mehr suizidalen Jugendlichen zu tun, mit jungen Menschen, die ernsthaft daran gedacht haben, sich das Leben zu nehmen. Auch die Essstörungen sind wieder in die Höhe gegangen, ebenso die Suchterkrankungen.
Wie sehr hängt das mit der Corona-Pandemie zusammen?
Hochgatterer
Zum Teil schon, aber es sind auch Faktoren wie der Krieg in der Ukraine, die weltpolitische Situation insgesamt, die den Jugendlichen genauso Unbehagen bereitet wie den Erwachsenen.
Wie bleibt man da Optimist?
Hochgatterer
Der wesentliche Faktor, der mich immer wieder optimistisch gemacht hat, ist der persönliche Kontakt zu Kindern und Jugendlichen. Sie zeigen zwar diesen Anstieg an psychischer Belastung und definierbaren psychischen Störbildern, weisen aber trotz allem nach wie vor eine kaum korrigierbare Tendenz auf, wieder gesund zu werden. Kinder und Jugendliche wollen sich entwickeln. Sie wollen, auch wenn es ihnen manchmal sehr schwer gemacht wird, psychisch gesund sein.
Trotz des Anstiegs der psychischen Erkrankungen herrscht in Österreich ein eklatanter Mangel an Psychiaterinnen und Psychiatern für Kinder und Jugendliche. Ist das akutes Staatsversagen?
Hochgatterer
Der Begriff Staatsversagen hat etwas distanzierend Abwehrendes. Man schreibt die Ursache für ein Problem nicht sich selbst, sondern einem Abstraktum zu, das man Staat nennt. Ich glaube, wir alle als Gesellschaft haben in dieser Frage versagt. Den jetzigen Mangel hätten wir vor 20 Jahren antizipieren müssen.
Wenn kein Staatsversagen, ist es doch ein Politikerversagen.
Hochgatterer
Es ist insofern Politikerversagen, als Politiker tendenziell in jene Richtung schauen, aus der am lautesten geschrien wird. Und da Kinder und Jugendliche in Bezug auf ihre Bedürfnisse weder laut schreien noch eine starke Lobby haben, werden sie von der Politik zu wenig beachtet.
So gut wie jede Partei behauptet von sich, Familienpartei zu sein. Das inkludiert auch die Sorge um Kinder und Jugendliche.
Hochgatterer
Das sind hübsche Floskeln. Die Politik hätte längst Gelegenheit gehabt, sich landesweit besser um die Versorgung psychisch belasteter Kinder und Jugendlicher zu kümmern. Da fehlt ein gemeinsamer politischer Wille. Es ist zum Beispiel ziemlich beschämend, dass in einem wohlhabenden Land wie Österreich Psychotherapie für Kinder und Jugendliche nicht selbstverständlich kassenfinanziert wird.
Psychotherapie für die eigenen Kinder müssen sich Eltern leisten können.
Hochgatterer
Das ist das Eine. Noch wichtiger ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Situation von Familien und der Häufigkeit psychischer Erkrankungen der Kinder. Armut macht krank, Arbeitslosigkeit macht krank. Wenn die Eltern als wichtigste Beziehungspersonen psychisch instabil sind, weil sie kein Geld oder keine Arbeit haben, wirkt sich das natürlich auf die psychische Gesundheit der Kinder aus.
Sie haben Suchtverhalten angesprochen. Wie sollen wir mit der Handysucht der Kinder umgehen?
Hochgatterer
Da muss man terminologisch präzise sein. Eine Sucht ist eine psychische Erkrankung, von der man nur sprechen sollte, wenn ernsthaft der Alltag der Betroffenen beeinträchtigt ist, wenn Schule, Beziehungen, Freizeit nicht mehr funktionieren. Das ist bei einem kleinen Teil der Kinder und Jugendlichen der Fall. Wenn Jugendliche ihr Handy als Körperteil bezeichnen, ist das kein Hinweis auf Sucht, sondern schlicht darauf, dass ein Leben ohne Smartphone nicht mehr denkbar ist.
Trump benimmt sich, wie wir es in der Kinderpsychiatrie von nicht behandelten ADHS-Kindern kennen: ungesteuert, sprunghaft, seinen Impulsen völlig ausgeliefert.
Die wahre Abhängigkeit besteht etwa von TikTok Sozialen Medien. In Europa wird ein Verbot Soziale Medien für Unter-16-Jährige diskutiert. Ist es zielführend, mit Verboten zu arbeiten?
Hochgatterer
Ich bin ein Lehrerkind und daher mit einer natürlichen Skepsis Verboten gegenüber ausgestattet. Wir brauchen sie viel weniger, als wir glauben. Andererseits kann ein Verbot auch ein Mittel der Ordnung und Strukturierung sein. In Bezug auf Soziale Medien hat das aber wieder mit politischem Willen zu tun. Wenn die Politik glaubt, sie müssen ein Social-Media-Verbot aussprechen, dann sollen sie es tun. Es wird dann die Gruppe der Braven geben, und es wird die Gruppe der weniger Braven geben, die sich nicht daran halten.
Die Sozialen Medien überfordern die Erwachsenen.
Hochgatterer
Die Sozialen Medien sind ein Bereich, in dem uns die Jugendlichen ein Stück fremd werden, weil sie anders damit umgehen, als wir selbst es können.
Politik bestimmt, etwa bei der Regulierung Sozialer Medien, das Leben der Jugendlichen. Aber interessieren sich Jugendliche noch für Politik? Oder haben sie das Vertrauen verloren, dass Politiker Probleme wie den Klimawandel lösen.
Hochgatterer
Wenn Themen wie der Klimaschutz oder die Migrationsfrage Jugendliche berühren, werden sie politisch und gehen auf die Straße. Und natürlich vertrauen sie den Alten nicht. Das war immer so.
In einem Beitrag für das soeben erschienene Buch „Wie wir leben wollen“ schreiben Sie, jungen Leuten würde seit Sokrates vorgeworfen, faul und respektlos zu sein. Sie nennen das generationale Differenz. Was verstehen Sie darunter?
Hochgatterer
Es braucht Bereiche, in denen Unterschiede zwischen den Generationen bestehen, Bereiche, in denen Konflikte ausgetragen werden können. Anhand der Social-Media-Problematik lässt sich das gut illustrieren. In dieser Zone haben die Jungen uns gegenüber eindeutig einen Kompetenzvorsprung. Trotzdem ist es notwendig, dass wir Alten uns Sorgen machen und den Jugendlichen mit diesen Sorgen lästig sind.
Geht es nicht auch darum, wie wir unsere Kinder erziehen? Oder darf man den Begriff „Erziehung“ nicht mehr verwenden?
Hochgatterer
Ich habe fünf Jahre lang ein Institut für Erziehungshilfe in Floridsdorf in Wien geleitet. Ich bin überzeugt davon, dass es so etwas wie Erziehung nach wie vor geben darf. Die entscheidende Frage ist, wozu wollen wir unsere Kinder erziehen? Zu mündigen, reifen, entscheidungsfähigen Menschen oder zu Soldaten? Das ist nicht als Seitenhieb auf unser Bundesheer gemeint, zu dem ich eine unbelastete Beziehung habe. Was ich meine: Ich halte es für problematisch, wenn wir Jugendliche dezidiert zu gehorchenden Wesen erziehen wollen.
Diese Zeiten sind doch lang vorbei.
Hochgatterer
Das hätte unsere Generation gerne. Ich bin aufgewachsen unter dem Paradigma, dass Krieg, Hunger und Arbeitslosigkeit nicht wiederkommen. Der Leitspruch lautete ,Niemals wieder‘. Der Glaube an diesen Satz hat Risse bekommen. Wir erleben gegenwärtig ringsherum eine Rückkehr des Faustrechts. In der Spitzenpolitik sehen wir die Wiedergeburt des Starken Mannes, der unbelastet von einem moralischen Gerüst machen kann, was er will, und dabei zusehen darf, wie die Menge, die ihm zujubelt, immer größer wird. Der Prototyp dieser Über-Ich-freien alten weißen Männer ist natürlich Donald Trump, der gerade ein Drittel des Weißen Hauses demoliert hat.
Was sagt der Psychiater in Ihnen zu Trumps Verhalten?
Hochgatterer
Von Trump weiß ich biografisch zu wenig, um ihn seriös beurteilen zu können. Aber natürlich benimmt er sich, wie wir es in der Kinderpsychiatrie von nicht behandelten ADHS-Kindern kennen: ungesteuert, sprunghaft, seinen Impulsen völlig ausgeliefert. Aber das wahrhaft Schreckliche ist nicht die Person des Donald Trump, sondern sein Umfeld, in dem niemand Widerspruch wagt und Individualpathologien ungestört gedeihen können. Das US-Verteidigungsministerium heißt jetzt wieder Kriegsministerium und Minister Hegseth darf sich als Kriegsherr fühlen. Eines der Grundparadigmen unserer Biografie war doch der Friede. Plötzlich ist das Gespenst des Krieges wieder da. Es finden sich die Begriffe, die es braucht, und es finden sich Gesichter.
Politiker wie Trump kommen nicht aus dem Nichts, sondern werden vom Volk gewählt.
Hochgatterer
Das hat damit zu tun, dass den Menschen von der Politik Dinge versprochen werden, von denen von vornherein klar ist, dass sie niemals eingehalten werden können. Da benützen Persönlichkeiten wie Trump die Bedürftigkeit von sozial schwachen Menschen und machen sich zu Hoffnungsträgern. Die Spur des Elends, die sie ziehen, ist ihnen vollkommen egal.
Vielleicht haben uns der Staat und die Politik in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr verwöhnt, so dass das Anspruchsdenken in Bezug auf das Sozialsystem zu hoch geworden ist. Bei der geringsten Enttäuschung wählt man dann eine rechtspopulistische Partei.
Hochgatterer
Das ist eine zwiespältige Sache. In der Individualpsychologie von Alfred Adler gibt es die Figur des verzärtelten Kindes. Mit ihr habe ich, obwohl ich aus dieser Therapieschule komme, nie etwas anfangen können. Pointiert formuliert: Ich finde es hundertmal besser, ein Kind erfährt zu viel Zärtlichkeit als zu wenig. Und mir ist es hundertmal lieber, die Menschen verlassen sich zu sehr auf ein Gesundheits- und Sozialsystem, als sie können sich nicht mehr darauf verlassen.
Es gibt zwei Begriffe, die ich nicht leiden kann. Der eine ist der sogenannte Intensivtäter, der andere der sogenannte Systemsprenger. Wenn ein einzelnes Kind oder ein Jugendlicher in der Lage ist, unser System zu sprengen, dann stimmt vor allem mit dem System etwas nicht, würde ich behaupten.
Gibt es nicht auch den von der Politik verzärtelten Bürger?
Hochgatterer
Den verzärtelten Bürger hat es immer gegeben. Wir alle haben doch ein Bedürfnis nach ein wenig Verwöhnung. Das würde ich den Politikern nicht vorwerfen.
Es gibt in unserem Gemeinwesen immer weniger Menschen, die bereit sind, in die Politik zu gehen.
Hochgatterer
Die Politiker und Politikerinnen, die ich kenne, sind alle gekennzeichnet durch eine gewisse Lust am Sozialkontakt, und sie sind alle gezeichnet durch die Notwendigkeit der permanenten Verfügbarkeit. Politiker ist ein Beruf, der keine Pause kennt.
Diese Ruhelosigkeit führt zur Déformation professionnelle des Politikers, der nichts mehr anderes kennt als Politik und ihr alles unterordnet.
Hochgatterer
Ich weiß nicht, ob dies nur aus der ständigen Verfügbarkeit kommt. Meine Vermutung ist, dass es eher aus dem Bedürfnis nach Zuwendung und Aufmerksamkeit resultiert. Aus diesem Bedürfnis heraus tun Politiker alles, um gewählt zu werden.
Das heißt, Sie würden sich Politiker wünschen, die nicht geliebt werden wollen?
Hochgatterer
Ich würde mir Politiker wünschen, die fähig sind, begleitet von der notwendigen Transparenz auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.
Derzeit ist es populär, dass der Innenminister Straftäter abschiebt, darunter so genannte jugendliche Intensivtäter mit oft mehreren hundert Strafdelikten. Wären diese überhaupt noch resozialisierbar oder sind sie verloren?
Hochgatterer
Es gibt zwei Begriffe, die ich nicht leiden kann. Der eine ist der sogenannte Intensivtäter, der andere der sogenannte Systemsprenger. Wenn ein einzelnes Kind oder ein Jugendlicher in der Lage ist, unser System zu sprengen, dann stimmt vor allem mit dem System etwas nicht, würde ich behaupten. Das heißt beileibe nicht, dass diese jungen Menschen Lämmchen sind, die ein paar Streicheleinheiten brauchen und dann ist alles gut. Aber es bedeutet, dass es Strukturen braucht, die mit ihnen umgehen können. Und diese Strukturen muss man entwickeln und finanzieren.
Ist es selbst für einen Berufsoptimisten wie Sie nicht zu optimistisch zu glauben, dass solche Burschen resozialisierbar wären?
Hochgatterer
Ich bin nicht bereit, meinen Optimismus, den manche vielleicht Sozialromantik nennen, abzulegen. Wenn die entsprechenden Strukturen gefunden und finanziert werden, dann sind diese Jugendlichen nicht verloren.
Aber ist es einer Gesellschaft zumutbar, so viel Geld in die Hand zu nehmen zur Betreuung junger Burschen, die uns am Ende wieder schaden?
Hochgatterer
Ich denke, man muss sich einfach entscheiden, ob man ein paar Panzer mehr kauft oder für diese Jugendlichen Lösungen findet.
Mit Panzern beschütze ich acht Millionen Österreicher. Von diesen Burschen geht Gefahr für die Bürger aus.
Hochgatterer
Wenn ich die sogenannten Intensivtäter richtig betreue, beschütze ich auch die Bürger. Den Aussonderungsreflex kann ich trotzdem verstehen. Wenn so eine Gruppe in meine Wohnung einbricht oder mein Auto stiehlt, werde ich auch zornig.
Aktuell besonders herausfordernd für die Politik ist der Umgang mit dem Thema Transgender. Es gibt junge Menschen, die sich während der Pubertät nicht wohl in ihrem Körper fühlen und ihr Geschlecht wechseln wollen. Wie viel davon ist jugendliche Identitätssuche und wie viel tatsächlich eine Geschlechtsdysphorie, also ein Zustand, bei dem sich Personen nicht mit dem biologischen Geschlecht ihrer Geburt identifizieren.
Hochgatterer
Das zu unterscheiden ist heikel. Dass die Gender-Frage mittlerweile deutlicher in unseren Fokus gerückt ist, ist mit Sicherheit ein Verdienst der LGBTQ+-Bewegung. Um diesen Bereich haben wir Psychoprofis uns zu wenig gekümmert. Was neu auftaucht oder heller beleuchtet wird, ist aber häufig auch Projektionsfläche für andere Dinge. Es passiert immer wieder, dass Jugendliche, deren Problemzentrum ganz woanders liegt, mit dem Gender-Thema zu uns kommen. In so einem Fall muss man differenzieren: Was ist wirklich Gender-Problematik und was ist in Wahrheit etwas anderes? Etwa Identitätsunsicherheit, Beziehungsprobleme oder familiäre Konflikte.
Es gibt auch die Debatte, ab welchem Alter man bei Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie mit Hormontherapie oder Pubertätsblockern beginnen soll.
Hochgatterer
Diese Debatte ist leider durch fundamentalistische Exponenten auf beiden Seiten ziemlich aufgeladen. Ich habe insofern eine vielleicht konservative Haltung, als ich der Überzeugung bin, dass es sich wie in vielen Fragen lohnt, die Sache nicht übers Knie zu brechen, sondern sich Zeit zu lassen und bei jeder, jedem einzelnen Betroffenen wirklich genau hinzusehen.
Paulus Hochgatterer, 64
Kinder- und Jugendpsychiater und Schriftsteller. Von 2007 bis September 2025 Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am NÖ Universitätsklinikum Tulln. Zahlreiche Romane und Erzählungen. Alle Bücher im Verlag Zsolnay/Deuticke, Wien.
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und seit 2025 Leiter des Innenpolitik-Ressorts. Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl.