Hochrechnungen: Woher weiß man so schnell, wie Österreich gewählt hat?
Fünf Tage und drei Stunden, bevor Hunderttausende Menschen live zusehen werden, wie Christoph Hofinger im ORF hoch konzentriert auf einen Bildschirm starrt, starrt Christoph Hofinger hoch konzentriert auf einen Bildschirm – diesmal allerdings fast unbeobachtet im Homeoffice. „Ich drück den Van der Bellen runter, damit wir auf die Stichwahl kommen“, sagt er in die Runde. „Das müssen wir ja auch einmal probieren.“
Start des Testlaufs. Hofinger, gemeinsam mit Günther Ogris Leiter des Meinungsforschungsinstituts SORA, bespricht sich an diesem Dienstag in einer Videokonferenz, während nach und nach fiktive Wahlergebnisse aus den Gemeinden eintrudeln. Hofingers Mitarbeiterin Corinna Mayerl fragt regelmäßig nach: „Sind schon neue Daten da?“ „Ja“, antwortet Hofinger dann und nimmt einen Schluck Kaffee. „Du hast sie jetzt auf dem Server.“ Dann werden wieder andere Varianten des Wahlausgangs geübt.
Es geht schnell, innerhalb einer Stunde sind alle Sprengel ausgezählt. Hofinger teilt die Excel-Datei auf seinem Bildschirm mit der Runde: In Rot und mit vielen Rufzeichen steht in einer Zeile: „Nichts verschieben!!!!“ Darunter sind die Zahlen notiert, auf die das Team hingearbeitet hat: die endgültige Hochrechnung inklusive Wahlkarten. 55 Prozent bekommt Alexander Van der Bellen dieses Mal. Tassilo Wallentin erhält 12,1 Prozent, Walter Rosenkranz von der FPÖ 11,9 Prozent. Berücksichtigt man die Schwankungsbreite – also den Bereich, in dem sich diese Werte noch verschieben könnten –, ist der zweite Platz noch offen. Die Reihung wird erst feststehen, wenn auch alle Briefwahlstimmen ausgezählt sind. Hofinger notiert das in einem Kommentarfeld. Dann schickt er die Datei an den ORF.
Ende des Testlaufs. Hofinger ist es durchaus ernst. Auch wenn an dem Nachmittag nur mit Spieldaten und Fantasiezahlen gerechnet wird. Die hypothetischen Ergebnisse aus den Gemeinden sollen nicht völlig unrealistisch sein, aber trotzdem ein paar Überraschungen beinhalten. Für das Team ist es so etwas wie die Generalprobe für seinen wohl wichtigsten Moment des Jahres: Sonntag, 17 Uhr, Wahlschluss für die Bundespräsidentenwahl.
Ab dieser Uhrzeit kann das Innenministerium die ersten Ergebnisse aus ausgezählten Gemeinden veröffentlichen. Dann beginnt der größte Stress für SORA. In wenigen Minuten erwarten sich Kandidaten, Bevölkerung, ORF eine Hochrechnung. Wie weit der Balken für die Bewerber in die Höhe wächst, hängt von Hofingers Berechnungen ab. Für ihn und sein Team ist es also wichtig, im TV-Studio so schnell und so präzise wie möglich zu arbeiten. Am Abend der Bundespräsidentenwahl wird das besonders schwierig. Seit Jänner feilt Hofinger daher schon an dem komplizierten mathematischen Modell.
Vier Minuten dauert es am Sonntag, bis die ersten Zahlen präsentiert werden: Der erste Platz geht klar an Van der Bellen mit vorerst 54,6 Prozent. Rosenkranz, 18,9 Prozent, kann mit dem zweiten Platz rechnen. Weiter hinten in der Rangordnung rücken die Kandidaten enger zusammen: Wallentin erhält 8,5 Prozent, Gerald Grosz 5,8 Prozent. Michael Brunner erreicht 2,1 Prozent und Heinrich Staudinger 1,7 Prozent. Die Schwankungsbreite liegt bei 2,1 Prozent.
Gerhart Bruckmann, 90 Jahre alt, beobachtet die Hochrechnungen im Fernsehen ganz genau. „Jetzt gibt es eine total andere Technologie. Überhaupt nicht vergleichbar mit den primitiven Mitteln, die mir damals zur Verfügung standen“, erzählt er. Bruckmann war es, der weltweit die erste Hochrechnung live im Fernsehen präsentierte und aktualisierte. Mit Kreide schrieb er vor der Kamera die aktualisierten Zahlen auf eine Tafel. Das war im März 1966 bei der Nationalratswahl. „Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für ein Knalleffekt war.“ Die ÖVP gewann damals übrigens die absolute Mehrheit.
Auch Bruckmann hatte zuvor einen Probelauf: Im Jahr 1964, am Tag der niederösterreichischen Landtagswahl. Mit seinem Kollegen Josef Rössl, der die Berechnungen „in Maschinensprache übertragen hat“, setzte er sich in einem ruhigen Kammerl zusammen. „Wir haben die Teilergebnisse, die nach und im Radio durchgesagt wurden, abgehört.“ Dann übertrugen sie die beiden in Lochkarten, der Rechner erledigte den Rest der Arbeit. Kurz nach 15 Uhr war ihnen bereits klar, wie die Mandatsverteilung aussehen wird: „31 für die ÖVP, 25 für die SPÖ.“ Mehr Parteien schafften den Einzug nicht. „Es war für mich ein komisches Gefühl, so früh schon zu wissen, wie die Landtagswahl ausgegangen ist, während die Leute noch ihre Stimme abgaben.“
Seit der Bundespräsidentenwahl 2016 darf das Innenministerium Ergebnisse aus Gemeinden erst dann kommunizieren, sobald alle Wahllokale geschlossen haben. Das Grundprinzip der Hochrechnung hat sich aber nie geändert: Die Expertinnen und Experten verlassen sich nicht auf Umfragen, sondern auf Trends, die sie im mathematischen Verfahren analysieren.
Die ersten vorliegenden Ergebnisse aus Gemeinden oder Sprengeln werden mit denen aus vergangenen Wahlen verglichen. Je nachdem, wie sich das Stimmverhalten ändert, lassen sich Rückschlüsse auf das Endergebnis ziehen. Trends werden also in den ausgezählten Gemeinden erkannt und auf nicht ausgezählte Gemeinden übertragen. Es klingt einfacher, als es ist. Dahinter steckt ein „komplexes Gleichungssystem“, sagt Hofinger.
Er versucht es mit Früchten zu erklären. Folgt man seinem Vergleich, wäre Österreich eine riesige Obstwiese. Jede Gemeinde ist demnach eine Frucht. „Es gibt zum Beispiel Äpfel-Gemeinden, Birnen-Gemeinden und Quitten-Gemeinden“, sagt Hofinger. Welches Obst eine Gemeinde ist, muss erst bestimmt werden. Ländliche Kommunen sind Äpfel, urbane Gebiete Birnen. Jedes Obst kommt in eine eigene Kiste und wird dort nach Sorte geordnet. Saure Äpfel werden in die eine Ecke gelegt, rot-gelbe in die andere. Übersetzt wäre das beispielsweise eine Kiste voller ländlicher Gemeinden, unterteilt in ÖVP-Hochburgen mit hohem oder niedrigem Grün-Anteil. So entstehen verschiedene Kategorisierungen. Trends dürfen nur innerhalb einer Kiste und Sorte berechnet werden. Am Ende wird ein fein abgestimmter Obstsalat serviert: die Hochrechnung.
Ich freue mich, wenn die Abweichung nicht mehr als ein Prozent beträgt.
Am 9. Oktober wird das Stimmverhalten hauptsächlich mit dem Ausgang der Nationalratswahl 2019 verglichen. Allerdings gibt es einige Unsicherheiten, die die Rechnung erschweren: fünf unbekannte Kandidaten, die keiner Partei angehören, und besonders viele Wahlkarten, die später ausgezählt werden. „Ich muss also überlegen: Wie ist die Wahlkartenaffinität von Menschen, die Tassilo Wallentin ihre Stimme geben? Hat sich das Wahlkartenmuster durch Corona verändert?“, sagt Hofinger. Dann gibt es noch andere regionale Unterschiede, die zu beachten sind: „Die städtischen Gemeinden in Niederösterreich werden vermutlich ein besseres Rosenkranz-Ergebnis haben, weil er aus dem Bundesland stammt. Dafür werden die politischen Uhren in Wien wohl anders gehen, die Frage ist nur wie sehr.“
Nach seinem Probelauf will Hofinger das Rechenmodell noch verfeinern. Was muss eintreten, damit er am Wahlabend selbst erfolgreich ist? „Üblicherweise freue ich mich, wenn die Abweichung bei einem halben Prozent oder niedriger ist“, sagt er. Bei der Nationalratswahl 2019 waren es im Durchschnitt 0,37 Prozent. „Aber den Anspruch kann ich dieses Mal an keine Hochrechnung stellen.“ Also: „Ich freue mich, wenn die Abweichung nicht mehr als ein Prozent beträgt.“