Hochwasser in Österreich: Die Tage nach der Flut
Von Natalia Anders und Daniela Breščaković
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Eva Graser darf nur bis zur Brücke gehen – weiter kommt sie nicht. Von hier aus wären es nur noch ein paar Gehminuten zu ihrem Haus. Doch die Straße verschwindet gleich hinter dem Absperrband im dunkelbraunen Wasser. Von der Brücke aus kann sie nichts erkennen. Sie sieht nicht, ob der Pegelstand noch immer bis zu ihrer Terrasse reicht und was aus ihrem Haus und ihrem Garten geworden ist. Trotzdem kommt sie jeden Tag hierher, in der Hoffnung, einen ersten Blick auf ihr Zuhause werfen zu können.
Eine Woche ist seit der Hochwasserkatastrophe vergangen. Die Naturgewalt hat tiefe Wunden im Land hinterlassen: an den Häusern, in der Landschaft, auf den Straßen – und besonders bei den Menschen. „Daran kann man sich nicht gewöhnen“, sagt Graser. Für die pensionierte Lehrerin aus Wien ist es die dritte Jahrhundertflut, vor der sie fliehen musste. 2002, 2013 und jetzt wieder. Hierher, nach Kritzendorf bei Klosterneuburg, kam Graser anfangs nur, um ihre Sommerferien zu verbringen. Doch schließlich gefiel es ihr so gut, dass sie nach ihrer Pensionierung ihr Haus in der Strombadsiedlung am Ufer der Donau zu ihrem dauerhaften Wohnsitz machte. Sie wollte raus aus der Großstadtwohnung in Wien und in einer beschaulicheren Umgebung leben. Doch die große Flut hat das einst idyllische Bullerbü an der Donauriviera in ein Katastrophengebiet verwandelt. Der Wasserpegel erreichte einen Höchststand von 7,72 Metern, die Häuser sind vom Rest des Ortes abgetrennt, 17 Menschen mussten von der Feuerwehr in Sicherheit gebracht werden, fünf wollten ihr Zuhause nicht verlassen und harren seit Tagen ohne Strom aus.
Das Gesamtbild der Schäden, die das Hochwasser in ganz Österreich verursacht hat, ist erschreckend. In Niederösterreich sind fünf Menschen ums Leben gekommen, insgesamt 2400 mussten aus ihren Häusern und Wohnungen evakuiert werden. Der Schwerpunkt der betroffenen Gebiete lag im Tullnerfeld und im Pielachtal. In der Tullner Messehalle wurde ein Notquartier errichtet. In Markersdorf, im Bezirk St.-Pölten-Land, musste das Bundesheer mehrere Menschen mit einem Black-Hawk-Helikopter aus dem Wasser bergen. Das Krankenhaus in Klosterneuburg stand unter Wasser, das Gefängnis in Göllersdorf ebenfalls. Autobahnen und Zugstrecken waren blockiert. Es kam zu 20 Dammbrüchen. Trinkwasser musste chloriert werden. Gezählte 38.643 Feuerwehrleute waren seit Beginn der starken Regenfälle permanent im Einsatz und werden es für die nächsten Wochen und Monate auch bleiben.
Dieses große Bild der Katastrophe setzt sich aus vielen Einzelschicksalen zusammen. Unzählige Menschen haben ihre jeweils eigene Geschichte vom Hochwasser zu erzählen. Es sind Geschichten von Verlust, Unwiederbringlichkeit und dem unbändigen Willen, zu retten, was vielleicht doch noch zu retten ist.
Alles von Neuem
2002, nach der ersten Flut, die sie erlebt hat, musste Eva Graser in ihrem Haus ganz von vorn beginnen. Die Türen wurden rausgerissen, die Böden neu gemacht. Überall dort, wo Laminat oder Parkett verlegt war, kamen Fliesen hin. 20 Zentimeter hoch hatte das Wasser damals in ihrem Wohnzimmer gestanden. 2013 kam es noch schlimmer. In jenem Jahr erwischte es ihre Küche. Der Wasserstand damals: 70 Zentimeter.
Eva Graser
Die pensionierte Lehrerin musste bereits vor drei Fluten fliehen: 2002, 2013 und jetzt wieder. Ans Wegziehen denkt die 68-Jährige aber trotzdem nicht. „Meine Tochter lebt hier, meine Freunde sind hier. Das ist jetzt mein Zuhause. Davon trennt man sich nicht so einfach“, sagt sie, während sie auf der Brücke zu ihrem Haus steht – weiter kommt sie nicht.
Jetzt hofft sie, dass sie diesmal Glück im Unglück gehabt hat. Ehe sie das Haus verlassen musste, konnte sie sich vergewissern, dass das Wasser nicht vom Keller bis ins Erdgeschoss gestiegen war.
„Weil die Häuser der Strombadsiedlung in einem Überschwemmungsgebiet stehen, werden sie auf Stelzen erhöht. Doch bei diesen Wassermassen können auch die nicht viel ausrichten“, erklärt Feuerwehrkommandant Peter Dussmann von der Freiwilligen Feuerwehr Kritzendorf. Der Einsatzleiter geht davon aus, dass die Aufräumarbeiten bis zu einem Monat dauern werden. Damit meint er nur das Fällen der Bäume, das Säubern der Straßen, das Entfernen des Schlamms – einmal fest, ist er hart wie Beton. Erst danach können die Bewohnerinnen und Bewohner wieder in ihre Häuser zurück und sich ein erstes Bild von der Lage machen. Viele werden dann vermutlich vor der schwierigen Entscheidung stehen: Sanieren oder Wegziehen? Die Bundesregierung kündigte bereits am Mittwoch an, den Katastrophenfonds auf eine Milliarde Euro aufzustocken. Damit soll den Betroffenen „schnell und unbürokratisch“ geholfen werden, heißt es.
Für Graser stellt sich die Frage nach einem neuen Zuhause jedenfalls nicht. „In einer Wohnung komme ich mir eingesperrt vor“, antwortet sie prompt, ohne groß nachzudenken. Sie will ihr Haus in der Strombadsiedlung so lange wie möglich behalten. „Meine Tochter lebt hier, meine Freunde sind hier. Das ist jetzt mein Zuhause. Davon trennt man sich nicht so einfach“, sagt die 68-Jährige, die auch weiterhin jeden Tag zur Brücke gehen wird – so lange, bis sie wieder in ihr Haus zurückkehren kann.
Peter Dussmann
Der Feuerwehrkommandant ist mit seinen Kolleginnen und Kollegen seit einer Woche im Dauereinsatz. Sie befüllen Sandsäcke, säubern Straßen vom Schlamm und fällen Bäume. Bis die Bewohner in Kritzendorf wieder zurück in ihre Häuser dürfen, dauert es noch mindestens einen Monat.
Aus der Traum vom Eigenheim?
So oder ähnlich geht es den meisten, die profil an diesem Tag in Niederösterreich antrifft. In jedem Ort steht die Gemeinschaft unter Schock. Ans Aufgeben und Wegziehen will aber kaum jemand denken. Auch nicht Remzi Limani. Er ist erst 2019 mit seinem Sohn und seiner Frau in ein neues Haus in Judenau gezogen. „Niemand kann sich hier an solche Überschwemmungen erinnern“, sagt Limani. Die Familie hatte besonderes Pech: Sie hat auf einem tiefer gelegenen Feld gebaut. Dann brach ein Damm, und die Wassermassen der Großen Tulln überfluteten das Haus. „Das hat höchstens 20 Minuten gedauert“, sagt sein 19-jähriger Sohn Musli. Die außen angebrachte Wärmepumpe ist hinüber, die weiße Fassade völlig verdreckt, und wie es drin aussieht, kann die Familie bisher nur erahnen.
Doch die Limanis versuchen, nicht zu verzagen, und zeigen sich tapfer. Vater Remzi will an diesem Nachmittag zum ersten Mal ins Haus vordringen. Dafür hat er sich eine Wathose von der Feuerwehr ausgeborgt. Die braucht er, um es überhaupt in den Vorgarten zu schaffen. Entschlossen watet er durch die braune Brühe, die ihm bis zur Brust steht, hin zur Haustür. Im Erdgeschoss ist nichts mehr zu retten, so viel steht fest: „Der neue Fernseher, die neuen Möbel, der neue Boden – alles neu, alles hin“, sagt sein Sohn bitter. Ob die Versicherung den Schaden abdecken wird? „Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht.“ Die Limanis konnten einstweilen bei Verwandten unterkommen. Wann sie wieder in ihr Haus dürfen, wissen sie nicht.
Alle packen an
Wie in Judenau zieht sich die Spur der Verwüstung durch das gesamte Tullnerfeld. Am Straßenrand türmen sich Berge von Sperrmüll. Verschlammte Waschmaschinen, die im Keller oder in der Waschküche gestanden waren, Schränke mit Winterkleidung, Möbel, Kinderwagen und Spielzeug – alles verschlammt, alles hinüber. Alle paar Meter räumen Bewohnerinnen und Bewohner ihre von der Flut zerstörten Häuser, Wohnungen, Geschäftslokale und Keller leer. Sie tragen Gummistiefel, sind schmutzig vom Schlamm, die Erschöpfung ist ihnen ins Gesicht geschrieben. In Sieghartskirchen sind zur Unterstützung Soldaten des Bundesheeres ausgerückt. Mit einem Panzer haben sie umgeknickte Bäume und Geröll aus der Kleinen Tulln gefischt, auch ein abgebrochener Laternenmast schwamm darin.
Immer zu hören: das Geräusch der Helikopter von Polizei und Bundesheer. Immer zu riechen: der stechende Ölgeruch überfluteter Traktoren, Rasenmäher, Autos und Heizungsanlagen. Und immer zu sehen und zu spüren: ein unverbrüchlicher Zusammenhalt. In Heiligeneich, in Atzenbrugg, knapp zwölf Kilometer von Sieghartskirchen entfernt, hat die Gemeinde innerhalb einer Stunde eine Hilfsaktion auf die Beine gestellt. Neben den 103 Feuerwehrkräften, die als zusätzliche Unterstützung aus Kufstein, Kitzbühel und Gmünd angereist sind, haben sich Dutzende Gemeindebewohner zum Sandschaufeln zusammengetan. Auf dem Sportplatz befüllen sie Sandsäcke. „Wir wissen nicht, ob noch eine vierte Welle kommen wird“, sagt Bürgermeisterin Beate Jilch, die eine kurze Ansprache hält und den Helferinnen und Helfern für ihr Kommen dankt. Mehr als 1500 Sandsäcke auf 70 Paletten können die freiwilligen Helferinnen und Helfer innerhalb weniger Stunden vorbereiten.
Beate Jilch
Die Bürgermeisterin von Atzenbrugg hat gemeinsam mit Freiwilligen innerhalb einer Stunde eine Hilfsaktion auf die Beine gestellt. Am Sportplatz in Heiligeneich wurden mehr als 1500 Sandsäcke auf 70 Paletten vorbereitet.
Die Übriggebliebenen
Auch in der Stadtgemeinde Tulln bekommen die Betroffenen Hilfe. In der Messehalle 6 hat das Rote Kreuz ein Notquartier organisiert. Hunderte Feldbetten stehen bereit, dazu eine Feldküche, Wasserkocher und Verpflegung. Hier kommen jene Menschen hin, die aus ihren Häusern evakuiert mussten und keine andere Bleibe haben. Platz gibt es für fast 1000 Menschen, aber nur eine Handvoll ist tatsächlich auf die Hilfe angewiesen.
Johannes, ein 52 Jahre alter Landwirt aus Asparn (seinen Nachnamen will er nicht nennen) ist froh, hier Unterschlupf gefunden zu haben. Mit seinen beiden Kindern, seiner Frau, seiner Schwester und seinen pflegebedürftigen Eltern schläft die Familie seit einer Woche auf Feldbetten. Johannes’ Mutter sitzt im Rollstuhl, auch sein Vater kann ohne Hilfe nicht gehen. Während der Überschwemmung am Wochenende mussten beide von den Einsatzkräften mit einem Schlauchboot weggebracht werden.
Bevor das Wasser seinen Bauernhof überschwemmte, konnte Johannes sein Auto umparken und seine Schafe auf einer Anhöhe in Sicherheit bringen. Wie viele von ihnen überlebt haben, weiß er nicht. Ebenso wenig, wann er mit seiner Familie wieder zurück nach Hause kann. „Man hofft, dass das Ganze bald ein Ende nimmt, aber letzten Endes lügt man sich dabei nur selbst an“, sagt der 52-Jährige niedergeschlagen.
Ähnlich wie Johannes und seiner Familie geht es auch den anderen Flutopfern im Notquartier. Sie haben keine Angehörigen, die sie aufnehmen könnten, sagt Sonja Kellner, die Sprecherin vom Roten Kreuz Niederösterreich.
Das Unwetter hat alle hart getroffen, aber manche härter als andere.
Fotos: Wolfgang Paterno
Natalia Anders
ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.