Das war 2024: Die Stunde vor dem Hochwasser in Niederösterreich
Von Daniela Breščaković und Wolfgang Paterno
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Vom 12. bis 20. September kam es nach extremen Regenfällen zu einem dramatischen Hochwasserereignis, von dem vor allem Niederösterreich und Wien betroffen waren; Teile Tschechiens und der Süden Polens standen ebenfalls unter Wasser. Die Flut zählt zu den schwersten Naturkatastrophen in der jüngeren Geschichte Österreichs. In Niederösterreich kamen fünf Menschen ums Leben, Hunderte Anrainer mussten aus ihren Häusern und Wohnungen evakuiert werden.
Die pensionierte Lehrerin Eva Graser stand damals in Kritzendorf vor ihrem dritten Neuanfang. Der Feuerwehrmann Peter Dussmann versuchte zu retten, was zu retten war. ÖVP-Bürgermeisterin Beate Jilch organisierte in Atzenbrugg notwendige Hilfe. Drei Erinnerungsprotokolle an ein Land unter Wasser.
Samstag, 14. September, 11 Uhr
Die pensionierte Lehrerin Eva Graser weicht in Kritzendorf den anrückenden Wassermassen.
„Die große Flut sah ich via App der niederösterreichischen Wasserstandnachrichten und Hochwasserprognosen kommen. An diesen Tagen war ich in meinem Haus in Kritzendorf, einem einstöckigen Bau auf Stelzen, und verfolgte die Meldungen: Wie schaut es in den kommenden zwölf, wie in nächsten 24 Stunden aus? Mein Schwiegersohn, der bei der Freiwilligen Feuerwehr ist, sagte mir: ‚Eva, das schaut gar nicht gut aus.‘ Meine Tochter, mein Sohn und Freunde halfen mir in aller Eile, Wertsachen aus dem gemauerten Parterre, das als eine Art Keller dient, nach oben zu schaffen. Wien Energie drehte den Strom ab. Ich fuhr das Auto aus der Siedlung und parkte es auf sicherem Grund, nachdem wir von der Polizei durch Lautsprecherdurchsagen dazu aufgefordert worden waren. Meine drei Hühner steckte ich in einen großen Käfig, den ich auf die Terrasse stellte.
© Wolfgang Paterno
Eva Graser
Die pensionierte Lehrerin kommt nur bis zur Brücke, weiter darf sie nicht. Hinten steht ihr Haus in der Strombadsiedlung Kritzendorf, in Klosterneuburg, das schon zum dritten Mal überschwemmt wurde.
Eva Graser
Die pensionierte Lehrerin kommt nur bis zur Brücke, weiter darf sie nicht. Hinten steht ihr Haus in der Strombadsiedlung Kritzendorf, in Klosterneuburg, das schon zum dritten Mal überschwemmt wurde.
Am Samstag, dem 14. September, kurz nach 11 Uhr, sperrte ich mein Haus ab und stapfte in Gummistiefeln mit Hund und Koffer über die Brücke bei der Badstraße. Ich wusste zu jenem Zeitpunkt nicht, wann ich zurückkehren, wie schlimm das Wasser steigen würde. Mein Schwiegersohn ruderte mit der Zille der Feuerwehr alle zwei Tage zu den Hühnern, um sie zu füttern.
Es ist immer wieder ein mulmiges Gefühl. Zum dritten Mal erlebte ich in Kritzendorf ein Hochwasser. Vor 22 Jahren wurde die Gegend bereits einmal überschwemmt, 2013 stand das Wasser 70 Zentimeter hoch im Wohnbereich meines Stelzenhauses. Es geht also immer noch schlimmer. Sobald die Donau aus den Ufern tritt, herrscht hier der Ausnahmezustand. Das viele Wasser zu bewältigen, wird von Mal zu Mal schlimmer und schwieriger, weil auch ich älter werde.“
Sonntag, 15. September, 3 Uhr
Peter Dussmann, Feuerwehrkommandant in Kritzendorf, ist seit Stunden im Einsatz, als Niederösterreich zum Katastrophengebiet erklärt wird.
„Am Montag, dem 9. September 2024, wurden wir zu einem Brandeinsatz der höchsten Stufe gerufen. Weil wir aufgrund des Brandausmaßes Hunderte Meter an Schlauchleitungen verlegen mussten und wegen des in Neubau befindlichen Feuerwehrhauses derzeit bei uns keine Möglichkeit haben, das Material zu reinigen, fuhren wir im Anschluss nach Klosterneuburg, um die schmutzigen Schläuche zu waschen. Dort kam die prognostizierte Unwettersituation erstmals zur Sprache.
Am Donnerstag, dem 12. September, kletterte die Prognose auf fünf Meter. Grundsätzlich sind wir in Kritzendorf Schlimmeres gewohnt, das Wasser rinnt ab einem Pegel von sechs Metern in die Strombad-Siedlung. Am 13. September wurden frühmorgens bereits 6,65 Meter vorausgesagt. Also organisierten wir den Aufbau von Hochwassersperren und schafften Sand für die Befüllung von Sandsäcken herbei. Am Samstag, dem 14. September, stand die Prognose bei 7,24 Metern. In der Nacht zuvor, von Freitag auf Samstag, hatte zusätzlich ein heftiger Sturm gewütet. Im Strombad Kritzendorf waren aufgrund des Unwetters Strommasten umgeknickt und Bäume auf Häuser gestürzt.
An jenem Samstag begann um sieben Uhr in der Früh dann das Chaos der Hochwassertage. Wir waren im Dauereinsatz und führten Evakuierungen durch, zogen Pkw auf sicheren Grund, organisierten Notschlafunterkünfte und pumpten Keller aus. Im Lauf der Nacht kam es zu Hangrutschungen, Straßen wurden unterspült, viele Einsatzorte waren selbst mit unseren Feuerwehrfahrzeugen nicht mehr erreichbar. Alle 97 Feuerwehren des Bezirks Tulln waren in diesen Tagen im Einsatz. Auch die Funksprüche einzelner Feuerwehren verdeutlichten das Leid: Es kam die Info, dass ein Feuerwehrkamerad tödlich verunglückt sei, andere erklärten verzweifelt über Funk, dass Objekte, die man versucht hatte zu retten, aufgegeben werden mussten. In der Nacht auf Sonntag, den 15. September, wurde Niederösterreich gegen drei Uhr in der Früh zum Katastrophengebiet erklärt.
Peter Dussmann
Der Feuerwehrmann ist seit fast 30 Jahren im Einsatz.
Ich sehe noch heute die Schreckensbilder vor mir: Bäche, die zu reißenden Flüssen wurden und Autos mitrissen, Häuser und Betriebe unter Wasser, verendete Tiere. Mitten in Österreich, in einer der sichersten Gegenden überhaupt, heulten die Sirenen zum Zivilschutzalarm. Die Behörden mussten den Menschen angesichts der Großwetterlage signalisieren: Es wird euch aufgrund der dramatischen Lage keine Rettungsorganisation sofort helfen können – eine emotionale Niederlage für uns alle, die wir ehrenamtlich und mit viel Herzblut arbeiten, um anderen zu helfen.
In den zehn Hochwassertagen wurden allein in Niederösterreich rund 18.210 Notrufe abgesetzt. Die Hotspots waren die Bezirke Tulln und St. Pölten.
Sonntagabend kletterte der Pegel auf 7,72 Meter, noch höher als prognostiziert. Wir fuhren mit unseren Motorbooten über Gartenzäune hinweg, retteten Menschen aus Notlagen. Ich erinnere mich an eine Bäuerin, die alles, bis auf die Kleider, die sie trug, verloren hatte. Einem Schweinebauern ertranken Hunderte Tiere. Ich hörte damals viele solcher Geschichten.
Am Donnerstag, dem 19. September, zog sich die Donau dann langsam zurück, wir konnten mit den Aufräumarbeiten im Strombad Kritzendorf beginnen.
Mein Dank gilt allen Feuerwehrkameraden und ihren Familien für deren aufopfernden Beistand. Das Feuerwehrwesen ist in Österreich zu 99 Prozent ein freiwilliges Ehrenamt. In Niederösterreich standen in diesen Tagen der Hochwasserkatastrophe rund 55.000 freiwillige Feuerwehrleute im Einsatz.
Wir leben in Zeiten, in denen es auf der Welt viele Probleme gibt – Kriege, Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit. Das Hochwasser zeigte, dass nur Solidarität und Mitmenschlichkeit dabei helfen, Katastrophen zu überstehen.“
Sonntag, 15. September, 14.30 Uhr
Beate Jilch, ÖVP-Bürgermeisterin in Atzenbrugg, erfährt vom Dammbruch an der Perschling.
„Bis Mittag hatten wir noch gehofft, vom Schlimmsten verschont zu bleiben. Der Pegel der Perschling war auf den Höchststand von 7,19 Meter gestiegen und hat begonnen, leicht zurückzugehen. Ein Trugschluss, wie wir später erfahren mussten. Wir haben stundenlang in der Feuerwehrzentrale in Atzenbrugg auf die Monitore und blinkenden Zahlen gestarrt, die uns über die Pegelstände im Gemeindegebiet informiert haben. Dass der Damm tatsächlich brechen könnte, daran wollten wir nicht denken. Bis der Funkspruch kam.
Die Feuerwehr war auf Patrouille durch das Gemeindegebiet, als ihr in Ebersdorf, einer Ortschaft vor Atzenbrugg, das Wasser knietief entgegenkam. Wir wussten, die Flut steht vor der Tür, und wir haben nur noch Minuten, um zu handeln. Das war am 15. September um 14.30 Uhr. In solchen Momenten funktionierst du nur. Es ist wie ein Automatismus. Man spürt keinen Hunger, keinen Durst. Man spürt einfach gar nichts. Ich habe sofort den Katastrophenalarm ausgelöst – den ersten in meiner Amtszeit. Die Feuerwehr begann mit den ersten Evakuierungen. Alte Menschen, Kinder, Familien – sie mussten raus. Wenn man den Funkspruch hört: ‚Menschenrettung in Atzenbrugg …‘, dann denkt man nur mehr: Hoffentlich geht alles gut.
© Wolfgang Paterno
Beate Jilch
Beate Jilch ist Bürgermeisterin (ÖVP) in Atzenbrugg, Niederösterreich. Die Flut war die größte Herausforderung in ihrer bisherigen Amtszeit.
Beate Jilch
Beate Jilch ist Bürgermeisterin (ÖVP) in Atzenbrugg, Niederösterreich. Die Flut war die größte Herausforderung in ihrer bisherigen Amtszeit.
Nebenbei organisierten wir in der Volksschule ein Notquartier: Matten aus den Turnsälen, Sofas aus den Klassen. Bei unserem Nahversorger bestellten wir kistenweise Lebensmittel: Brot, Aufstriche, Wurst, Suppe, Kaffee und Tee. Niemand sollte frieren oder Hunger haben, wenn er hier ankommt. Auf Facebook schrieben wir einen Aufruf: ‚Wer Decken, Matratzen, Polster hat, bringt sie bitte zur Volksschule.‘ Und die Menschen kamen. Mit allem, was sie entbehren konnten. Wir haben in Heiligeneich einen Rotkreuzstützpunkt, auch von hier meldeten sich Mitarbeiter und unterstützten uns vor Ort. In der Messehalle in Tulln wurde auch eine Notunterkunft eingerichtet, aber die Leute wollten nicht gehen. Niemand will in so einer Lage weit weg von zu Hause sein. Viele wollten gar nicht erst ihr Haus verlassen. Schon dieser Schritt war eine große Hürde. Die Zeit von Samstag bis Sonntagnacht habe ich im Feuerwehrhaus verbracht, mit kurzen Unterbrechungen. An Schlaf war sowieso nicht zu denken. Die Nerven von uns allen waren angespannt. Da ist es verständlich, wenn die Emotionen bei Betroffenen hochkochen. Es sind Menschen auf mich zugekommen, die mich gefragt haben: ‚Wo warst du? Warum hast du uns nicht früher geholfen?‘ Wenn dir jemand in die Augen schaut, jemand, der vieles verloren hat und um Hilfe bittet, und du kannst nichts tun – das treibt dir Tränen in die Augen. Es fühlt sich an, als hätte man die Menschen im Stich gelassen, obwohl man ständig überall war, um zu helfen, und gleichzeitig nicht jedem helfen konnte. Das war das Schlimmste, das ich in dieser Zeit erleben musste.
In meinen fünf Jahren als Bürgermeisterin habe ich vieles erlebt. Aber nichts hat mich so an meine Grenzen gebracht wie diese Flut. Du merkst in solchen Momenten: Egal wie viele Pläne du machst – Katastrophen halten sich nicht daran.“
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.