Holocaust-Überlebende besuchen Wien
Erinnerung tut weh, und mit dem rituellen Bekenntnis von Schuld ist es nicht getan. Wer wüsste das besser als jene Holocaust-Überlebenden aus Israel, die am vergangenen Dienstag in Schwechat ankamen, mit ihren Ehepartnern, Kindern oder Enkeln, mit Gehstöcken und Rollstühlen. Einige von ihnen haben ihre Mutter, ihren Vater, ihre ganze engere Verwandtschaft im Holocaust verloren. Manche haben nur überlebt, weil es einer Mutter das Herz zerriss und sie ihr Kind einem Fremden anvertraute, sonst wären beide in der Gaskammer erstickt. Viele von ihnen kamen als unbegleitete Minderjährige, wie man heute sagt, nach Palästina. Fremde, weitschichtig Verwandte haben sich ihrer angenommen, ihnen den Weg in die Erwachsenenwelt gezeigt. Hier waren sie der Hölle der Vernichtungslager entronnen, dort in eine Gemeinschaft hineingewachsen, die sich selbst in einem Überlebenskampf befand. Im Israel der Gründergeneration waren die meisten arm, man half einander, man war solidarisch. Das machte es den jungen Flüchtlingen aus der "Ostmark" vermutlich leichter.
An allen Ecken in Wien überwältigen sie Erinnerungen, alle packt eine Kindheitssehnsucht. Wenn ihnen sehr alte Wiener begegnen, fragen sie sich unwillkürlich: War er ein Hitlerjunge, der die Scheiben unseres Geschäfts eingeschlagen hat? War er einer von denen, die die Mutter am Asphalt knien und den Boden haben reiben lassen? Sie schauen lieber in jüngere Gesichter. Kanzler Sebastian Kurz lieben sie.
Am ersten Tag: mit dem Bus durch Wien, an der Ringstraße entlang, am Stadtpark vorbei. Hier haben sie gespielt. Am Wiener Heldenplatz ein erstickter Ruf: "Ich war dabei." Alle Köpfe wenden sich Zwi Nigal zu. "Ich war dumm, 15 Jahre alt, wollte Hitler schauen und war mitten in der 'Heil! Heil! Heil!' schreienden Masse und hatte Wahnsinnsangst, man würde mich als Jude erkennen", erklärt Nigal.
"Irgendjemand in Wien tritt noch immer auf unsere schönen Teppiche"
Kurze Zeit später am Aspang-Bahnhof: Sie klettern tapfer aus dem Bus, umringen das Denkmal mit den Daten der Deportationen. Heim Galon findet den Zug, den eine nächste Verwandte, Maria Beck, gestorben 1942 in Minsk, nehmen musste. Galon, der früher Gelband hieß, zeigt auf seinem Handy das Hochzeitsfoto seiner Eltern. 1934 haben sie im Tempel in der Seitenstettengasse geheiratet, wie schon die Großeltern 1911. Seine Familie besaß einst eine Zigarettenfabrik in Wien. Von ihrem Besitz habe er kaum ein Zehntel zurückbekommen, sagt Galon. "Irgendjemand in Wien tritt noch immer auf unsere schönen Teppiche." Glücklich machen würde ihn ein Zigarettenpackerl von damals, der Marke Almuly, die mit der Rax, dem Wiener Hausberg, als Logo warb. Sein Tischnachbar Berthold Amnon Klein, Jahrgang 1928, lächelt milde. Am 24. Dezember 1939 kam er mit seiner Mutter und Hunderten anderen mit dem letzten Transport nach Haifa. Doch sie durften nicht an Land. Heute würde man sagen, sie bekamen keine Anlandeerlaubnis. Erst in Mauritius wurden sie aufgenommen, wo die Mutter an Typhus erkrankte und starb. Der Zwölfjährige war fortan allein, kam zu den Männern ins Internierungslager. Eine Zelle, jede Art von Hilfsarbeit, mit der er etwas verdienen konnte, und ein paar Schulbücher - so musste er erwachsen werden. Und eine vorgedruckte Karte von seinem Vater aus dem Osten, dass es ihm gutgehe, und seine Unterschrift. Als er 1945 nach Palästina kam, erfuhr er, dass sein Vater in Maly Trostinez ermordet worden war.
Mittwochabend waren die Altösterreicher aus Israel in die Synagoge in der Seitenstettengasse geladen. Jeder bekam eine Urkunde, die Ehrenmitgliedschaft der Israelitischen Kultusgemeinde, ausgehändigt. Mit dünnen, schwachen Stimmen und Tränen in den Augen sangen sie die Hymne Israels.
Mittwochmorgen: Der 91-jährige Avram Engel ist aufgewühlt. Eben erst hat er erfahren, dass Historiker der Kultusgemeinde das Grab seines Großvaters am Wiener Zentralfriedhof gefunden haben. Elias Engel war einst aus Galizien eingewandert und hatte in Graz ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieben. Die Familie Engel hatte wenig Geld. Nach der Pogromnacht -Engel will nicht darüber sprechen - versucht die Familie, auf illegalem Weg nach Palästina zu gelangen. Vier Wochen waren sie unterwegs, 921 Menschen, auf einem Schiff, das vorher dem Rindertransport gedient hatte und auch so stank. Engel hat lang gezögert, die Einladung der Regierung anzunehmen. Von der FPÖ will er nicht begrüßt werden. Als er von den Donnerstags-Demonstrationen gegen die Rechts-Regierung hört, erwägt er, dort mitzugehen. Die 90 Überlebenden sind nicht nur Gäste. Sie sind auch Zeitzeugen. Schon auf dem Weg in die Berufsschule Längenfeldgasse fragt der 91-jährige Jossi Carmiel dem jungen Taxifahrer Löcher in den Bauch. Auch die angehenden Köche und Köchinnen in der Berufsschule fragt er nach ihrer Einstellung, was sie von einem "alten Juden" hielten, er wolle wissen, mit wem er es zu tun habe.
"Wenn mir die Tränen kommen, verzeiht"
Als Jossi Carmiel in Graz in die Volksschule ging, hieß er noch Kurt Weinberg, erklärt er seinen hebräischen Namen. "Wir sind ein altes Volk. Von diesem Volk abzustammen, ist keine Schande. Ich bin ein ebenso alter Jud' wie Sigmund Freud einer war, oder Albert Einstein, oder andere Nobelpreisträger", sagt Carmiel stolz und zeigt auf seine Tochter Miri, die mit ihm gekommen ist. Und ein Foto, das ihn zeigt bei einer Familienfeier zur Bar Mizwa in Graz. 1939 waren sie schon alle voneinander getrennt und besaßen nichts mehr. Der Zwölfjährige kam noch auf per Schiff nach Palästina, die verarmten Eltern hatten keine Chance auf ein Visum. Sie versuchten es mithilfe von Schleppern, hingen in Serbien fest und wurden von den Nazis erschossen. "Wenn mir die Tränen kommen, verzeiht", sagt Carmiel, fasst sich schnell und erläutert: Die Hälfte seiner Landsleute kam auf illegalem Weg nach Palästina um, viele sprangen vor Haifa ins Meer und versuchten, ans Land zu kommen, und einige der rostigen, seeuntüchtigen Schiffe sanken. Die jungen Leute scheinen die Luft anzuhalten. Carmiel redet fast zwei Stunden lang. Er erklärt, warum er sich als 18-Jähriger der Untergrundmiliz Haganah anschloss, dass die Araber ähnlich dachten wie die Nazis und dass Israel ein wunderbares Land sei "mit einer Million Probleme". Ganz nebenbei gibt er eine Lektion des Nahost-Konflikts.
Sie wollen gehört werden. Der Festakt im Parlament am vergangenen Freitag war für alle eine große Freude. Die einst Vertriebenen wurden geehrt. Sie saßen in den Bänken der Abgeordneten, jeder von ihnen ein kleiner König und eine kleine Königin. Einige bekamen nasse Augen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka hatte gesagt: "Bitte verzeihen Sie uns!" Ihre Erfahrungen verpflichten. Das haben nicht alle begriffen. Die freiheitlichen Minister wussten, dass sie von einem größeren Teil der Holocaust-Überlebenden nicht willkommen geheißen werden, dass man ihnen nicht gern die Hand gibt. Sie waren dennoch da. Und so spielten sich seltsame Szenen ab. Nach Ende der Feier waren die FPÖ-Politiker plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, um an anderer Stelle, ebenso unvermutet, vereinzelt wieder aufzutauchen und vor dem Saal, in dem die Gäste einen Lunch serviert bekamen, höflich, aber bestimmt abgewiesen zu werden. Wie peinlich.
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