Holocaust: Wiesenthal-Institut erforscht unbekannte Aspekte der Shoa
Persönliche Gegenstände und Kleidungsstücke von Simon Wiesenthal (1908-2005) sind im ganzen Haus als Ausstellungsobjekte auf vier Stockwerken verteilt: ein kleines Adressbuch, ein Pistolenhalfter, sein geliebter Trenchcoat und ein lange verschollener Brief, den der Totgeglaubte nach 1945 seiner in den Nachkriegswirren gefundenen Ehefrau Cyla schickte.
Das Ende Jänner neu eröffnete Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI) ist in einem aus dem Mittelalter stammenden Haus am Rabensteig im 1. Bezirk untergebracht. Nun warten Wiesenthals Archiv mit jahrzehntelang gesammelten Informationen über NS-Verbrecher, Schreibtischtäter und KZ-Schergen, eine stattliche Bibliothek und ein kleines Museum auf Besucher und Forscher. Das Jahresbudget von 1,1 Millionen Euro plus Miete decken Bund und Stadt Wien je zur Hälfte.
"In Bezug auf die NS-Vergangenheit waren viele lange Zeit nicht ehrlich, was zu einer weiteren Demütigung der Opfer dieses verbrecherischen Regimes führte“, erklärte Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny beim Festakt. "Diese Ungerechtigkeit können wir nicht mehr gutmachen. Was wir jedoch schaffen können, ist ein gemeinsamer gesellschaftlicher Konsens, der Menschen hierzulande nie wieder zu Leidtragenden von Ausgrenzung, Hass, Rassismus und Antisemitismus werden lässt.“
Wiesenthals Tätigkeit wurde in Österreich jahrzehntelang angefeindet. Selbst als er NS-Verbrecher wie Adolf Eichmann in Argentinien aufspürte, bekam er Drohbriefe. "Glauben Sie, es ist angenehm, wenn man hier ständig mit einer Pistole herumrennen muss“, stellte Wiesenthal, der auch einem Attentatsversuch entging, in einer TV-Dokumentation fest.
Die Feindschaft zu Bundeskanzler Bruno Kreisky eskalierte, als Wiesenthal 1975 Unterlagen über die Zugehörigkeit von FPÖ-Chef Friedrich Peter zu einer SS-Brigade veröffentlichte. Kreisky verstieg sich zu der horrenden Behauptung, Wiesenthal sei in der NS-Zeit ein Gestapo-Spitzel gewesen. Noch zu seinen Lebzeiten wurde Wiesenthal dagegen in Israel und in den USA geehrt. In Los Angeles besteht noch heute ein "Wiesenthal Center“ mit angeschlossenem "Museum of Tolerance“. Sein alter Schreibtisch aus dem Wiener Büro und die Wandkarte mit den Zentren der Shoah in Europa sind dort ausgestellt.
Im Jahr 2002 wurde auf Initiative der Israelitischen Kultusgemeinde der Grundstein für ein Shoah-Forschungszentrum gelegt. Wiesenthal übertrug diesem vor seinem Tod im Jahr 2005 seine Archivbestände (bis auf jene in Israel, die heute in Wien auf Mikrofilm zugänglich sind). "Als Ehrenbürger der Stadt Wien ist es mir ein wichtiges Anliegen, die Resultate meiner Arbeit im Herzen der Stadt gut aufgehoben zu wissen“, meinte Wiesenthal damals. "Damit dem Erinnern ein Wissen um die Shoah folgen kann, ist eine Forschungsstätte von internationalem Rang Voraussetzung.“
Doch gerade der Holocaust erscheint als jenes historische Thema, das weltweit umfassend erforscht worden ist. Der Leiter des VWI, der Wiener Historiker Bela Rasky, widerspricht. "Die Holocaust-Forschung weist noch immer viele weiße Flecken auf. Vor allem seit der Öffnung der Archive in Mittel- und Osteuropa kommen laufend neue Dokumente und Erkenntnisse zutage.“
Auch Anton Pelinka, Politologe und Ex-Vorstandschef des Instituts, sieht noch viele unerforschte Themen: "Aufgaben gibt es genug - es geht ja nicht nur um die historische Detailforschung zum Massenmord an Jüdinnen und Juden. Da ist sicherlich noch einiges zu erforschen, wie Ereignisse in der Ukraine oder Aspekte des vielschichtigen Krieges in Weißrussland, Litauen, Ostpolen und Westukraine, wie sie Timothy Snyder in "Bloodlands“ beschrieb. Aber auch wenn dies alles vom Standpunkt der historischen Forschung tatsächlich aufgearbeitet sein sollte, wäre vieles noch offen - die Frage nach dem Warum und die damit verbundene Frage der Wiederholbarkeit. Und es bleibt auch das weite Feld der vergleichenden Forschung - dahinter steht die Frage nach der Einmaligkeit oder Erstmaligkeit des Holocaust.“
Derzeit wird im Rahmen eines VWI-Projekts das Schicksal von rund 15.000 Juden aus Ungarn, die bei Kriegsende zur Zwangsarbeit nach Wien transportiert wurden, untersucht. Diese Gruppe wurde der Gemeinde Wien für Arbeiten wie Holzsammeln, Reparatur von Elektro- und Wasserleitungen und auch an private Betriebe zur Verfügung gestellt. Viele von ihnen entkamen so den Vernichtungslagern. Die Geschichte der KZ-Nebenlager in Österreich weist ebenfalls viele Lücken auf. "So ist das Lager im oberösterreichischen Gusen bis heute kaum erforscht worden“, meint Rasky.
Erst seit Kurzem wird die Geschichte des KZ-Lagers in Maly Trostinec in Weißrussland, in dem viele Juden aus Österreich ermordet wurden, eingehender untersucht. VWI-Forschungsprojekte spielen auch in Literatur, Kunst und Musik hinein. Dazu gehört das in Romanen von Primo Levi bis Imre Kertész oft vorkommende Symbol der Eisenbahn, nicht nur für Transporte in die Todeslager.
Die acht "Research fellows“, die sich aus verschiedenen Universitäten weltweit für Projekte in Wien bewerben, widmen sich unterschiedlichen Themen: Dimitrios Varvaritis untersucht gerade die Wurzeln des Antisemitismus in Griechenland nach 1945. Irina Marin widmet sich den Bauernaufständen im Osten der Donaumonarchie und den angrenzenden Gebieten Russlands und Rumäniens im 19. Jahrhundert, bei denen auch Antisemitismus eine Rolle spielte. Anna Raphaela Schmitz untersucht die Biografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß.
Rasky weist darauf hin, dass am Institut nicht nur über den Massenmord an Juden geforscht wird, sondern über weitere weltweite Genozide, wie jene an Armeniern oder an den Tutsi in Ruanda.
Zudem gibt es Forschungszweige wie neue Untersuchungsmethoden der "forensischen Archäologie“. Da werden an den Mordplätzen oder Massengräbern Grabungen durchgeführt, wobei neben Knochen auch Überreste von persönlichen Gegenständen und Briefen gefunden werden.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 7 vom 13.2.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.