Nach einem „Weltjournal“ im Herbst 2024 brachte die Israelitische Kultusgemeinde eine rechtliche Beschwerde gegen den ORF ein. Der Vorwurf: Antisemitismus. Ein Präzedenzfall, der bis heute läuft.
55 Minuten lang verschüttete, verwundete, verbrannte, sterbende Kinder. 55 Minuten lang Aussagen wie: „Alle Knochen kamen aus meinem Bein. Mama, Papa und mein Bruder, alle wurden getötet.“ Oder: „Mein Neffe bittet mich ständig, ihn zu umarmen. Er weiß nicht, dass er beide Eltern und beide Beine verloren hat.“ Oder: „Sie sind als Zwillinge zusammen geboren und zusammen begraben.“
Das ORF-„Weltjournal“ „Gaza-Krieg – Hölle auf Erden“, ausgestrahlt am 4. September 2024, ist nichts für schwache Nerven. In der Signation heißt es: „Flächendeckende Zerstörung, 40.000 Menschen getötet, 90.000 Verletzte. Palästinensische Journalisten, Ärzte und Kinder erzählen.“
Der Tenor der Sendung wird in der dritten Minute klar: „Es ist einfach die schiere Bösartigkeit des Angriffs. Das Ausmaß der Zerstörung, die Auslöschung ganzer Nachbarschaften. Das Töten ganzer Familien“, sagt ein palästinensischer Arzt, nachdem kleine und große Leichensäcke zu sehen waren.
„Nie da gewesene Dimension“
Für den ORF ein „schonungsloser Blick, der dokumentiert, wie das Leben von Millionen Palästinensern entwurzelt und zerstört wurde“. Für die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) eine „antisemitische“ Sendung, die „Lügen“ der Terrororganisation Hamas „verbreite“. Der ORF trage damit zu einer „judenfeindlichen Stimmung in Österreich“ bei, heißt es in einer der vielen Stellungnahmen zur Sendung, die profil vorliegen.
Zwei Tage nach der Sendung meldet sich der Präsident der IKG, Oskar Deutsch, in einer Presseaussendung zu Wort: „In einer bisher nie da gewesenen Dimension wurde Israel als das ultimativ Böse dargestellt.“ Seit der Ausstrahlung hätten die Schutzmaßnahmen jüdischer Einrichtungen verstärkt werden müssen.
Was bisher nicht bekannt war: Das genügte der Kultusgemeinde nicht. Sie beschritt den Rechtsweg und reichte Beschwerde bei der KommAustria ein, der Aufsichtsbehörde für den ORF. „Es ist das erste Verfahren dieser Art, gewissermaßen ein Präzedenzfall“, sagt der Generalsekretär der Kultusgemeinde, Benjamin Nägele.
Das „Weltjournal“ sei weder unparteilich, umfassend noch objektiv und verstoße somit gegen das ORF-Gesetz. Ziel der Beschwerde: Löschung der Sendung aus dem Online-Archiv und, sollte man recht bekommen, Verlautbarung der Entscheidung auf allen ORF-Kanälen.
Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, sieht Israel als „ultimativ böse“ dargestellt.
Der Beschwerde der IKG schlossen sich rund 200 Privatpersonen aus der jüdischen Community an. Sie seien „unmittelbar geschädigt“ – durch eine „wesentliche Zunahme von antisemitischen Hasspostings und Schmierereien auf Hauswänden zwei Tage nach der Ausstrahlung“, argumentiert die Anwältin der IKG, Maria Windhager.
In einer ersten Stellungnahme weist die KommAustria die Beschwerde zurück. Windhager beruft. Somit ist der ORF dran, die Vorwürfe zu kontern. Es folgt ein Schlagabtausch, der bis heute anhält. Die finale Entscheidung der KommAustria steht noch aus.
Wie berichtet man aus einer Sperrzone?
Am deutlichsten entzündet sich der Streit an den Protagonisten des „Weltjournals“, der palästinensischen Reporterin Hind Khoudary und dem Arzt Ghassan Abu-Sittah, auf deren „Hamas-Nähe“ der ORF hätte hinweisen müssen, argumentiert die Kultusgemeinde. Der ORF hält dagegen und stellt die Quellen der IKG für die angebliche Hamas-Nähe infrage. „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Der ORF muss dieser Wahrheit möglichst nahe kommen. Aber wie?
Der Sender weist darauf hin, dass „die israelischen Behörden internationalen Journalistinnen und Journalisten den unabhängigen Zugang zum Gazastreifen verwehren“. Deswegen sei man auf externe, unabhängige Quellen angewiesen. Die Sendung „Gaza Krieg – Hölle auf Erden“ sei eine zugekaufte Produktion, erstausgestrahlt „vom renommierten britischen Sender Channel 4“. Im ORF habe „Weltjournal“-Chefin Christa Hofmann die Hintergründe der Protagonisten und Szenen sorgfältig überprüft.
Der Kultusgemeinde geht es aber nicht nur um Personen: „Der Auslöser des jetzigen Konflikts, nämlich der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel, bleibt eine Randnotiz.“
Bilder sind stärker als Worte
Am Anfang der Sendung wird sehr wohl kurz rekapituliert, was am 7. Oktober 2023 passierte. Im Vergleich zu den hoch emotionalen Bildern und Aussagen von Opfern der israelischen Gegenschläge verblasst dieser Hinweis aber rasch. Israels Armee wird auch mit der Aussage zitiert, nur terroristische Infrastruktur ins Visier zu nehmen. Dann hält ein Mann ein totes Kind in die Kamera und sagt: „Das sind Israels Angriffsziele.“
Man sieht Flugblätter vom Himmel regnen, die alle Menschen auffordern, den Norden des Gazastreifens zu verlassen. „Die Israelis sagen, dass sie sichere Korridore und humanitäre Zonen im Süden geschaffen haben. Doch ein Konvoi auf dem Weg in eine sichere Zone wird angegriffen“, sagt eine Sprecherin. Es folgen Szenen von Bombeneinschlägen und Toten. Ein Sanitäter schluchzt: „Sie sagen den Leuten, sie sollen gehen, und dann greifen sie sie an.“ Der Täter scheint klar: die israelische Armee. Laut Kultusgemeinde gebe es bis heute keinen eindeutigen Beweis dafür. Und darauf hätte der ORF hinweisen müssen.
Hätte der ORF die israelische Perspektive im Sinne der Objektivität immer wieder und stärker in diese Reportage einbauen müssen? Der ORF kontert mit der Breite seiner Berichterstattung über Israel und Gaza seit dem 7. Oktober 2023: „Es gibt nur drei Produktionen, die im Gazastreifen selbst gedreht wurden. Dem steht eine Vielzahl von Programmen aus israelischer Sicht gegenüber.“ Das beanstandete „Weltjournal“ trage deswegen „wesentlich zur Förderung der Meinungsvielfalt bei“.
Die Argumentation des ORF wird mit der Zeit schärfer. Es sei „völlig lebensfremd“, dass ausgerechnet der „Weltjournal“-Beitrag kausal für den Anstieg antisemitischer Postings oder Graffitis nach der Sendung verantwortlich sei. Man verwehre sich auch gegen die „pauschale berufliche Abwertung“ der Protagonisten. Keine einzige konkrete Äußerung von Hind Khoudary, aber auch von Doktor Ghassan Abu-Sittah, sei beanstandet worden.
ORF-Korrespondent als Feindbild
Die Härte der Auseinandersetzung mag auch mit den regelmäßigen Attacken auf den ORF-Korrespondenten im arabischen Raum Karim El-Gawhary zusammenhängen.
Dieser hatte mit dem „Weltjournal“ selbst nichts zu tun und war nur Zeuge im Verfahren vor der KommAustria. Schon das empfand die IKG als Zumutung, weil El-Gawhary „bekannt“ dafür sei, „Narrative der Hamas zu verbreiten“, wie es in einer der Stellungnahmen heißt. „Er weigert sich konsequent, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen“, begründet IKG-Generalsekretär Nägele die Ablehnung des Korrespondenten.
„Dagegen verwahre ich mich. Jeder weiß, was Hamas am 7. Oktober angerichtet hat. Das muss ich nicht betiteln. Hinter diesen Kampagnen gegen mich steckt oft, dass man keine kritische Berichterstattung darüber möchte, was die israelische Armee im Gazastreifen macht“, kontert der ORF-Journalist. „Aber das ist mein Job.“
Kultusgemeinde lässt nicht locker
Anfang April erweitert die Kultusgemeinde ihre Vorwürfe und präsentiert ein YouTube-Video von Ghassan Abu-Sittah, aufgenommen bei einer Pressekonferenz am 17. Oktober 2023 vor dem Al-Ahli-Spital. Kurz zuvor waren hier Bomben eingeschlagen. Der Arzt und „Weltjournal“-Protagonist prangert das „Kriegsverbrechen Israels“ an. Neben ihm steht der Vize-Gesundheitsminister der Hamas.
Wenige Stunden später stellt sich heraus: Die Rakete aufs Krankenhaus war ein Irrläufer auf dem Weg nach Israel. Abgefeuert vom Hamas-Verbündeten Islamischer Dschihad.
Der ORF steht weiterhin hinter der Sendung und ihren Protagonisten.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.