Impfen: Neun-Klassen-Medizin

Nach Abschluss des ersten Quartals zeigt sich: Es war ein Fehler, den Bundesländern die Corona-Impfung zu überlassen. Jedes Land setzte auf seine eigenen Netzwerke. Impfvordrängeln wurde zum System.

Drucken

Schriftgröße

Einen traurigen Beleg, dass langsames Impfen Leben kosten kann, liefert ausgerechnet ein Kabarettist: Thomas Maurer machte bei einem Fernsehauftritt den Fall seines verstorbenen Vaters öffentlich. Der Mann war Ende 70, vorerkrankt und befand sich wegen Corona auf einer Wiener Intensivstation. Mitte März erlag der Vater dem Virusleiden, wenige Tage darauf trudelte eine Einladung für einen Impftermin ein.

Seit Ausrollen der Impfaktion starben österreichweit 2400 Personen mit einer Corona-Infektion. Selbst ein Impfwunder wie Israel hätte viele Todesfälle nicht verhindert. Doch die rot-weiß-rote Impfbilanz übers erste Quartal zeigt deutlich: Es wäre besser gegangen. Sie macht amtlich: Den Impfplan von Gesundheitsminister Rudolf Anschober, der absolute Priorität für Ältere und Hochrisikopatienten vorsah, verstanden die Bundesländer als freundliche Empfehlung. Es fehlte nicht nur der Gleichklang zwischen den neun Bundesländern, sondern auch die Kontrolle über die Verteilung des raren Impfgutes. Der Bund vertraute Ländern, die Länder den Bezirksbehörden und Gemeinden, diese den niedergelassenen Ärzten und Impfstraßenmitarbeitern. Sanktionen für Impfvordrängler oder Ärzte, die im eigenen Umfeld impften, gab es nicht - profil wurde von zahlreichen Fälle berichtet.

Beim Impftempo steht Österreich besser da als vermutet - an vierter Stelle in der EU. Davor liegen nur Malta (das besonders viel BioNTech-Impfstoff erhielt) oder Ungarn (das auf den russischen Impfstoff Sputnik V setzte). Doch Österreichs guter Rang könnte rasch verblassen. Das zeigt eine Hochrechnung der EU: Bis Ende Juni sollen 50 Prozent der Bevölkerung in Österreich geimpft sein - das wäre der sechstschlechteste Platz in der EU. Dazu kommt ein gehöriger Schönheitsfehler: Die Durchimpfung jüngerer Menschen ist hierzulande besonders hoch (Platz eins im EU-Vergleich), während man bei Älteren - der besonders gefährdeten Gruppe - nur im unteren Mittelfeld landet.

So wurde in Wien im ersten Quartal nur gut die Hälfte der rund 40.000 Personen über 85 Jahren geimpft. Die Stadt verpasste mehr Menschen (28.000) zwischen 25 und 34 Jahren den ersten Stich als in der Gruppe der über 85-Jährigen. Begründet wird das seitens der Stadt mit Unregelmäßigkeiten des verfügbaren Impfstoffes, aber auch mit der schweren Erreichbarkeit dieser Gruppe. Die Impfung der über 80-Jährigen außerhalb von Heimen wurde erst für Mitte Februar angesetzt; Kärnten oder Oberösterreich telefonierte seine ältesten Bürger schon Mitte Jänner durch. Ein weiterer Grund für die junge Impfschicht in Wien: der große Gesundheitssektor. Dieser wurde umfassend priorisiert. Wie profil berichtete, konnten sich bereits im Februar nicht nur 22.000 Spitalsbedienstete, sondern auch 8000 Verwaltungsbedienstete des Wiener Gesundheitsverbundes impfen lassen - inklusive Direktorium und Buchhaltern im Homeoffice. Aber auch junge Sozialarbeiter, Streetworker und die städtische Feuerwehr - für sie gab es 1400 Impfdosen - hatten Vorrang. "Diese Bereiche müssen funktionieren. Wir haben in einer Pandemie das systemische Risiko bewusst höher bewertet als das individuelle", sagt ein Sprecher des Gesundheitsstadtrates. Von dieser Logik profitieren jene stärker, die nahe an den öffentlichen Institutionen der Stadt sind.

Anderes Bundesland, andere Prioritäten: Im alpinen Bereich hatte die Bergrettung Priorität, in der Steiermark wurden im Unterschied zu Wien oder Niederösterreich bereits alle Pfarrer durchgeimpft. Diese Impfaktion lief zunächst über Altenheime und Krankenanstalten, in denen die Priester Seelsorge betreiben. Die restlichen 190 Pfarrer wurden schließlich zeitgleich mit den Lehrern immunisiert, "um diese Gruppe zu komplettieren", sagt Michael Koren, Impfkoordinator in der Steiermark.

"Neun Impfkampagnen statt einer zentralen Steuerung, damit wurde die Büchse der Pandora geöffnet"

"Neun Impfkampagnen statt einer zentralen Steuerung, damit wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Dass Berufsgruppen wie Ärzte und Pfleger prioritär geimpft wurden, verstehen wir. Dass manche Länder innerhalb anderer Berufsgruppen kaum nach Risiko priorisiert haben, nicht. Da ging es um teils riesige Kontingente. Ich gönne Verwaltungsangestellten, Feuerwehrleuten, Streetworkern, jungen Pfarrern oder Bergrettern ihre Impfung. Aber dass Hochrisikopatienten, von denen sich manche aus Angst vor einer Ansteckung seit Monaten nicht aus dem Haus wagen, nicht zuerst an die Reihe kamen, ist menschlich tragisch und gesundheitspolitisch widersinnig", sagt Margot Ham-Rubisch von der Patientenanwaltschaft. Immerhin: Für Hochrisikopatienten ab 18 Jahren gibt es nun landesweit die ersten Termine.

Nationaler Impfweltmeister ist aktuell Tirol: Hier wurden bereits über 22 Prozent der Gesamtbevölkerung erstgeimpft. Bei den über 65-Jährigen konnte das Land schon 46 Prozent der Menschen teilimmunisieren. Der Vorteil Tirols: Über ein EU-Sonderkontingent bekam das Bundesland aufgrund der Ausbreitung der Südafrika-Mutante im März 100.000 Dosen des Impfstoffes BioNTech zusätzlich; zehn Prozent aller Tiroler konnten allein über dieses Kontingent geimpft werden. Salzburg liegt beim Durchimpfen derzeit im hinteren Drittel. "Tirol hat mit seinem Sonderkontingent allein so viel Impfstoff bekommen wie Salzburg bisher insgesamt", sagt ein Sprecher des Landes. Wenn es genügend Impfstoff gebe, könnte man in wenigen Wochen "das ganze Bundesland durchimpfen".

Doch die Impfstoffmenge allein erklärt die Unterschiede nicht. So hat etwa Vorarlberg ohne Sonderkontingent schon 16,6 Prozent seiner Bevölkerung zumindest ein Mal geimpft, während die Steiermark bei gerade einmal 12,1 Prozent hält. Besonders bedenklich wird es, wenn man sich die Impfraten der älteren Personen ansieht. Lediglich 23 Prozent in der Gruppe der über 65-Jährigen bekamen im ersten Quartal den ersten Stich; Vorarlberg liegt hier bereits bei 42 Prozent, Kärnten und Oberösterreich bei 36 bzw. 37 Prozent. Die steirische Alterslücke rief vor Kurzem auch die großen Seniorenverbände von SPÖ und ÖVP gemeinsam auf den Plan. Michael Koren, Impfkoordinator in der Steiermark, stellt Versäumnisse in Abrede: "Wir impfen so viel wie nur möglich", sagt er. Man habe sich streng an die Vorgabe gehalten, zuerst die Allerältesten zu impfen. Tatsächlich liegt die Steiermark bei den über 85-Jährigen ganz vorn. Man konzentrierte sich darauf, ihnen möglichst beide Impfungen zu ermöglichen. Die große Lücke entstand dahinter: Steiermark hat im ersten Quartal nur ein Viertel seiner 75-bis 84-Jährigen geimpft, Kärnten die Hälfte.

"Ich musste mich in der Kollegenschaft fast rechtfertigen, warum ich meine Frau nicht mitgeimpft habe"

Am anderen Ende der Fahnenstange wurden bereits blutjunge Österreicher geimpft - auf teils abenteuerliche Weise. Ein Sohn eines Grazer Arztes ist in der Praxis geringfügig angemeldet, unter anderem für "kleine Tätigkeiten im Garten". "Als Teil der Belegschaft hatte ich Ende Februar die Möglichkeit, mich impfen zu lassen", schildert der junge Student. An der großen Wiener Impfstraße im Austria Center Vienna wurden die Kinder einer Person, die dort impft, bereits zweifach immunisiert. profil wurden dafür Belege präsentiert. In der letzten profil-Story über Impfdrängler meinte ein Arzt aus Wien-Umgebung: "Ich musste mich in der Kollegenschaft fast rechtfertigen, warum ich meine Frau nicht mitgeimpft habe."

Über Impfdosen, die übrig bleiben, können Ärzte relativ frei verfügen. Es braucht zwar Wartelisten für ausgefallene Termine. Wie genau diese abgearbeitet werden, wird aber offenbar nicht nachgeprüft. Laut Bund ist die Kontrolle Sache der Länder, laut Ländern Sache der Ärztekammer. "Wir erachten eine Kontrolle von freiberuflich tätigen Ärzten und ihrer Patienten als Eingriff in das Arzt-Patienten-Verhältnis und damit als absolut entbehrlich. Es fehlt auch jegliche Rechtsgrundlage dafür", sagt ein Sprecher der Ärztekammer. Konkrete Verdachtsfälle solle profil melden - was wir aus Gründen des Informantenschutzes nicht tun. Ab kommender Woche gehen Tausende Impfdosen von Johnson&Johnson an niedergelassene Ärzte zur Verimpfung (Anm.: Die Auslieferung und Verimpfung in Europa wurde von Johnson&Johnson vorerst verschoben) . Der Impfstoff ist hoch begehrt, weil eine Impfung reicht.

Wäre das kleine Land Österreich über seinen föderalen Schatten gesprungen und hätte die Bevölkerung zentral geimpft, wäre echte Steuerung und Kontrolle möglich gewesen - zum Beispiel über den Dachverband der Sozialversicherungen, der über alle wesentlichen Daten der Bürger sowie über Impfzentren und mobile Ärzteteams verfügt. Das Bundesheer, das schon bei den Teststraßen gezeigt hat, was es kann, hätte zusätzliche Impfstraßen betreiben können.

Neun Bundesländer, neun Geschwindigkeiten, neun Prioritäten, plus Impfvordrängler - all das wäre ein marginales Problem, würde die Bevölkerung rasch durchgeimpft. Immerhin: Jetzt kommt Bewegung rein. Doch solange der Impfstoff ein knappes Gut ist, bleibt so manches ein Skandal. Auch im zweiten Quartal.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.