Inside „Letzte Generation“: Senioren als neue Klimakleber
„Streng vertraulich! Protest der Letzten Generation. Treffpunkt: 7:35 Uhr Währinger Park (pünktlich!) Mary wird euch abholen und zum Protestort begleiten. Bitte unauffällig verhalten und keine großen Kameras bereits am Treffpunkt auspacken!“ Journalisten, die über eine Klebeaktion der Letzten Generation berichten, werden gut betreut. Vorbei die Zeit, als man gemeinsam mit den Klimaklebern per U-Bahn zum Einsatzort fuhr und als Menschentraube die Aufmerksamkeit der Polizei vorab erregte.
Die 32-jährige Mary Aichholzer weist uns unauffällig den Weg zur Straßenkreuzung am Wiener Währinger Gürtel, wo bereits sieben Klimakleber in orangen Warnwesten am Boden sitzen. Sechs haben sich mit Superkleber auf den Asphalt gepickt. Die siebente Person macht im Fall der Fälle eine Rettungsgasse frei.
Doch die Rettungsgasse braucht es nicht. Die Aktivisten haben die Rettungszentrale vorab informiert. Entsprechend rasch ist die Polizei zur Stelle, die ihren Einsatz routiniert abspult. Die Beamten ziehen einen wütenden Autofahrer zur Seite, der auf einen der Klimakleber eintritt; Entklebungsspezialisten schmieren Lösemittel unter die Hände und lösen sie mit einem festen Faden ruckweise ab; sie tragen die Aktivisten, die sich schwer machen wie Säcke, zum Einsatzbus; nehmen ihre Daten auf; verfrachten sie ins Polizei-Anhaltezentrum; lassen sie nach ein paar Stunden wieder gehen. Was bleibt, ist „nur“ eine Geldstrafe nach dem Verwaltungsstrafrecht – wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder Verstößen gegen das Versammlungsgesetz. In Deutschland greift auch das Strafrecht. Vor zwei Wochen wurde eine Aktivistin zu acht Monaten unbedingter Haft verurteilt.
Nach wenigen Minuten beginnt der Verkehr normal zu fließen. Im Vergleich zum Stauchaos, das die ersten Aktionen der Letzten Generation auslösten, eine Routineübung, die in der Hauptstadt schon fast zum Alltag gehört.
Vor knapp einem Jahr begleitete profil die Klimakleber über Wochen. Damals bestand die Gruppe aus radikalen Klimaschützern, die sich Letzte Generation nennt, aus einem dreiköpfigen Kernteam, die zusammen mit ein paar Studenten Wiener Straßen blockierten. Seither hat die Gruppe ihren Aktionsradius auf ganz Österreich ausgedehnt – inklusive Autobahn. Rund um die drei Aktivisten der ersten Stunde wuchs die Gruppe auf 100 Personen an, im Alter von 17 bis 70. Die Letzte Generation unterhält eine professionelle Struktur mit Presseleuten, Rechtsvertretern, Verbindungsmenschen in allen Bundesländern, die sich täglich mit dem Kernteam absprechen. Für Personen, die besonders viel Zeit für die Letzte Generation aufwenden, gibt es monatliche Löhne.
Was wurde aus den Aktivisten von damals, wer sind die Neuen, und wie weit sind sie bereit zu gehen, wenn die Politik mit ihren Verbotsdrohungen ernst macht?
Das Wachstum
Rund 130 Personen haben sich seit Herbst 2022 in Österreich angeklebt – teils mehrfach. Das geht aus einer profil-Auswertung aller Aussendungen hervor, die von der Letzten Generation nach jeder Blockade verschickt werden. Überraschend ist das mit 38 Jahren hohe Durchschnittsalter der Aktivisten. Es sind längst nicht mehr nur Studenten, die sich ankleben (siehe Grafik). Deutlich größer ist die Gruppe der Angestellten und Selbstständigen im mittleren Alter. Auch ein gutes Dutzend Senioren klebt sich mittlerweile regelmäßig an. Heinz Frühwirth (65), ein ehemaliger Verkehrstechniker aus Wien, hat sich schon mehrfach angeklebt. Er unterstützte die jüngeren Klimaaktivisten außerdem, als diese in der Wiener Innenstadt eine Luxusboutique mit oranger Farbe besprühten. Am Rande der Aktion am Währinger Gürtel gibt Frühwirth TV-Interviews, als wäre er schon ewig dabei. „Ich tue das auch für meine drei Enkelkinder.“ Ein weiterer, weißhaariger Kleber im Seniorenalter sitzt, umringt von Polizisten, noch seelenruhig am Boden. In Tirol war die knapp 60-jährige Alexandra schon bei zwei Blockaden der Brenner-Autobahn mit von der Partie.
Das Wachstum der Letzten Generation lässt sich nicht nur an der größeren Zahl an aktiven Klebern messen. In den vergangenen Monaten haben sich auch Künstler, Wissenschafter, Ärzte und Kirchenvertreter demonstrativ hinter die Letzte Generation gestellt, darunter Robert Palfrader („Wir sind Kaiser“), (Martin Puntigam „Science Buster“) oder Professoren wie Reinhard Steurer von der Universität für Bodenkultur. Der 52-jährige Experte für Klimapolitik ist zu einem zentralen Fürsprecher für neuen Klimaaktivismus avanciert. Am Rande der Gürtelblockade erzählt eine junge Frau, Steurers Vorlesung habe für sie persönlich den Ausschlag gegeben, bei den Klimaklebern aktiv zu werden.
Lorenz, 25, Boku-Student
Die Klebekarriere von Boku-Student Lorenz Trattner startet vor einem Jahr unter einer Brücke am Wiener Donaukanal. Die Leitfigur der Letzten Generation in Österreich, Martha Krumpeck, hat zu einem Einsatztraining geladen. Als Krumpeck fragt, wer sich bei der nächsten Aktion am Boden fixieren wolle, zeigt Trattner sofort auf. Seither hat er sich 20 Mal auf die Straße und einmal an ein Klimt-Gemälde im Wiener Leopold Museum geklebt. Seine Unerschrockenheit hat er sich beibehalten. Sie brachte ihm schon mehrere Termine am Verwaltungsgericht ein. Vergangene Woche war es wieder so weit, wegen einer Klebeaktion in Graz im Frühjahr 2023. „Ich habe dem Richter erklärt, warum es sich bei unseren Aktionen um eine Notwehr gegen die Klimakatastrophe handelt.“ Jetzt hofft er auf Strafmilderung. Sonst sind 850 Euro fällig. Viele weitere Verwaltungsstrafen sind noch offen. Der nächste Gerichtstermin bereits fixiert. Und wenn er die Strafen am Ende nicht alle zahlen kann? „Dann kann ich mir vorstellen, die Strafe abzusitzen.“
Kohle fürs Kleben
Seit Jahresbeginn fassten Klimakleber rund 2550 Verwaltungsanzeigen aus – wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder Verstößen gegen das Versammlungsgesetz. Die Strafbescheide werden automatisch von der Letzten Generation beeinsprucht. So landet die Causa früher oder später vor dem Verwaltungsgericht. Die Aktivisten können von Anfang an auf juristischen Beistand ihrer „Legal-AG“ zählen, einer Arbeitsgemeinschaft aus gleichgesinnten Juristen. Für Aktivisten, die Strafen nicht zahlen können, wurde ein eigener „Repressionsfonds“ eingerichtet.
Wie gut organisiert die Klimakleber mittlerweile sind, zeigt auch ihr Beschäftigungsmodell. Über einen Spenden-Verein können Aktivisten ein monatliches Einkommen erhalten. Trattner ist neben seinem Studium geringfügig bei der Letzten Generation beschäftigt und bezieht 500 Euro. Pressesprecherin Marina Canaval-Hagen verrechnet dem Verein pro Monat ein Honorar von 1000 Euro, das sie versteuert. „Das ist eine Kompensation für meine Tätigkeit, damit ich nicht am Hungertuch nage“, sagt sie. Ihren Job als IT-Projektmanagerin hat die 27-Jährige im Jänner gekündigt. Rund acht Personen würden derzeit eine monatliche „Entschädigung“ von 500 bis 1000 Euro erhalten, sagt sie. Der Spendentopf ist aktuell mit 18.000 Euro gefüllt.
Für Aufsehen sorgte die Existenz eines globalen „Climate Emergency Fund“ (CEF) für „zivile Widerstandsprojekte“, der gespeist wird von Superreichen wie Hollywood-Filmregisseuren oder einer Erbin des Disney-Vermögens. In Deutschland beziehen Aktivisten laut deutschen Medienberichten daraus bis zu 1300 Euro pro Monat. Nach Österreich sei noch kein Geld aus dem „Emergency“-Fonds geflossen, versichert Canaval-Hagen.
Martha Krumpeck, 32, Mitgründerin
„Ich habe sicher über 50 Mal geklebt“, sagt Martha Krumpeck. Sie hat die Letzte Generation in Österreich aufgebaut. Als profil vor einem Jahr recherchierte, leitete sie die meisten Straßenblockaden als „Bienen-Königin“ an, so nennt sich das im internen Jargon. Durch die Ausdehnung der Blockaden auf ganz Österreich schwärmen die „Klebe-Bienen“ nun meist ohne sie aus. Zudem muss die 32-jährige in Österreich immer wieder ins Gefängnis, weil sie ihre Verwaltungsstrafen aus Prinzip nicht zahlt. „Jetzt kommen schon einige Monate an Ersatzfreiheitsstrafe zusammen, aber ich brauch eh Urlaub von dem ganzen Stress mit der Klimakatastrophe“, sagt Krumpeck mit einer gewissen Märtyrer-Attitüde. Im Gefängnis lernt die studierte Mikrobiologin zum Zeitvertreib Sprachen wie Mandarin. Dass sie ihr Leben dem radikalen Kampf gegen die Klimakrise verschrieben hat, stellte sie bereits im Frühjahr 2022 mit einem 44-tägigen Hungerstreik vor der Wiener SPÖ-Zentrale unter Beweis. Dann kollabierte sie und brach das Hungern ab.
Ihre Tätigkeit in einem niederösterreichischen Labor hat Ende letzten Jahres geendet. Sie beziehe seither kein Arbeitslosengeld, sondern Mittel aus dem Spendenkonto, um „meine sparsamen Lebenskosten zu decken und mich voll aufs Organisieren unseres friedlichen Widerstands konzentrieren zu können“.
Die Grenzverschiebung
Die Klimakleber glauben fest daran, dass nur noch zwei Jahre Zeit bleiben, um die Klimakatastrophe zu stoppen. Sie berufen sich unter anderen auf den Weltklima-Rat. Je näher diese Deadline rückt und die heimische Politik keine Schritte wie Tempo 100 km/h auf den Autobahnen setzt, desto massiver werden die Manöver der Klimaaktivisten.
Die Autobahn zu blockieren, war den Klimaaktivisten vor einem Jahr noch viel zu riskant, schilderten sie profil damals. Seither blockierten sie mehrmals die West-, Ost- und Brennerautobahn sowie die Wiener Südosttangente. „Im Protest nutzen wir manchmal auch Autos – weil es sicherer ist. In so einem Fall fahren die Lenker:innen zuerst im Konvoi auf die Autobahn auf, später nebeneinander, und dann bremsen sie sehr langsam und kontrolliert runter. Ab 50 km/h schalten sie die Warnblinkanlage ein und rollen langsam aus“, schildert Canaval-Hagen die Taktik. „Wenn alles steht, kleben sich Personen aus einer zweiten Gruppe ein paar Autoreihen weiter hinten an.“ Woher nehmen die Autogegner Autos? Es gebe Mitstreiter aus entlegenen Gegenden, die auf Pkw angewiesen seien, sagt Canaval-Hagen. "Oder wir mieten Fahrzeuge."
Bei aller Vorsicht – ein Risiko für Auffahrunfälle bleibt. Auch persönlich haben manche ihre Grenzen verschoben. Mehrere Aktivisten, die vor einem Jahr noch zu großen Respekt vorm Ankleben hatten, griffen nach ein paar Wochen im Kollektiv ganz selbstverständlich zur Superkleber-Tube.
F. Wagner, 31, Ökonom
Als profil Florian Wagner vor einem Jahr traf, hatte er noch zu großen Respekt vorm Kleben. „Ich dachte mir, am Wiener Gürtel oder Verteilerkreis, wo die Hackler unterwegs sind, setzt es garantiert Watschn. Die Übergriffe hielten sich aber in Grenzen. Und so traute ich mich dann auch“, schildert er. Seither hat er zehn Mal geklebt. Österreichweit bekannt wurde er durch die Klimt-Anschüttaktion. Wagners Konterfei landete auf der Titelseite der „Kronen-Zeitung“. Das Leopold Museum verrechnete 2000 Euro an Reinigungskosten. Durch einen Social-Media-Spendenaufruf sei die doppelte Summe reingekommen, erinnert er sich.
Wie weit sind die Klimakleber bereit zu gehen, sollten ihre Forderungen weiter
ignoriert werden? Canaval-Hagen schildert mögliche weitere Eskalationsstufen. „Wenn wir die Autobahn blockieren, und zehn Minuten nach Auflösung der Kundgebung wiederholen wir die Blockade, bricht der Verkehr zusammen.“ Für Krumpeck bleibt Gewalt die rote Linie. „Wir behindern auch die Polizei nicht, wenn sie uns von den Straßen wegträgt.“ Dauerhafte Schäden an Gebäuden oder Kunstwerken wolle man auch weiterhin vermeiden.
David Sonnenbaum, 35, Mitgründer
David Sonnenbaum zählt von Beginn an zum harten Kern. Im vergangenen Jahr hat der frühere Freizeitpädagoge nicht nur mehrere Geldstrafen, sondern auch eine Vorstrafe wegen Sachbeschädigung ausgefasst. Sonnenbaum hatte den Niederösterreichischen Landtag mit schwarzer – aus seiner Sicht „unbedenklicher“ – Farbe besprüht. Die Richterin sah das anders. „Wenigstens kann ich einmal behaupten, etwas getan zu haben“, gibt er sich gelassen. Er ist nicht nur Klimaaktivist, sondern auch „Lebensmittelretter“. Dabei holt er abgelaufenes, noch brauchbares Essen aus den Mistkübeln der Supermärkte. Er selbst ernähre sich fast ausschließlich davon, sagt er. Deswegen brauche er nicht viel zum Leben. Sonnenbaum bezieht Notstandshilfe und ist daneben geringfügig bei der Letzten Generation beschäftigt.
Showdown mit der Politik
Trattner, Krumpeck, Sonnenbaum, Canaval-Hagen – sie alle machen keinerlei Anstalten, bald mit dem Kleben aufzuhören. Und auch von härteren Strafen wollen sie sich nicht abhalten lassen. Damit drohen ÖVP und FPÖ immer lauter. Die ÖVP fordert einen neuen Straftatbestand im Strafgesetzbuch gegen „diese Sabotage der Gesellschaft“ und nimmt das harte Urteil von acht Monaten in Deutschland zum Vorbild. Die FPÖ definiert Klimakleben als „Terrorismus“ und fordert sechs Monate bis zu einem Jahr Haft, sollten Menschen durch blockierte Einsatzwagen zu Schaden kommen oder gar sterben.
„Solange nicht die Todesstrafe eingeführt wird, klebe ich weiter“, sagt Sonnenbaum. Doch nicht alle Klimakleber können es sich leisten, so kompromisslos zu sein. Sie haben Familien, ein Studium zu beenden, einen Arbeitsplatz, den sie nicht gefährden können. Härtere Strafen könnten die gewachsene Gruppe rasch dezimieren. Dann sollen spektakuläre „Event-Crashes“ deutlich ausgeweitet werden. „Mit wenig personellem Einsatz und großer Wirkung“, sagt Krumpeck.
Eine Hoffnung der Letzten Generation ist, dass die öffentliche Meinung in ihre Richtung kippt. Das könnte aber noch sehr lange dauern. Im November 2022 sagten in einer profil-Umfrage von Unique Research neun Prozent der Befragten, „die Klimakleber haben recht“, 27 Prozent unterstützten die Ziele, nicht jedoch die Methoden, 55 Prozent forderten härtere Strafen. In der aktuellen Umfrage unterstützen zwölf Prozent die Letzte Generation, 32 Prozent sind moralisch auf ihrer Seite, aber gegen die Blockaden, und 51 Prozent fordern höhere Strafen.
Härtere Strafen würden die Senioren unter den Klimaklebern wohl am gelassensten hinnehmen.