Intensivärztin über Corona: „Nach dem 500. Patienten aufgehört zu zählen“
Stephanie Neuhold, 49, leitet die wichtigste Covid 19-Intensivstation des Landes. Was hat sie aus der Pandemie gelernt?
Von Edith Meinhart
Die Politik erklärt die Pandemie für beendet. Herrscht an Ihrer Station wieder Normalbetrieb?
Neuhold
Ja, einigermaßen. Zwei Jahre lang behandelten wir ausschließlich Corona-Patienten. Mittlerweile haben wir auch wieder andere, allerdings landen sie nach wie vor bevorzugt bei uns, weil wir eine infektiologische Intensivstation sind und sie in Einzelzimmern isolieren können.
Wieviel Corona-Patienten waren bisher auf Ihrer Intensivstation? Und wie viele überlebten?
Neuhold
Nach dem 500. Patienten haben wir aufgehört zu zählen. Das war im vergangenen Sommer. Jetzt werden es geschätzt 700 sein. Die Mortalität liegt bei uns um die 25 Prozent. Die Sterblichkeit bei schweren Lungenversagen im Rahmen von Covid ist damit nicht höher als bei anderen schweren Lungenversagen. Darauf sind wir ein bisschen stolz. Wie es danach weiter geht, ist eine andere Frage.
Am 27. Februar 2020 landete der erste Covid 19-Patient auf der Intensivstation des Wiener Klinikums Favoriten, vormals Kaiser Franz Josef Spital. Für Stephanie Neuhold, die hier die 4. Medizinische Abteilung mit Infektions- und Tropenmedizin leitet, begann damals eine neue Zeitrechnung. Die Ärztin gab profil in den vergangenen drei Jahren immer wieder Einblick in ihre Welt.
Was wissen Sie darüber?
Neuhold
Alle Patienten sind vom Aufenthalt auf der Intensivstation gezeichnet, ein erheblicher Teil ist danach nicht mehr arbeitsfähig. Covid hat das noch verschärft, auch weil die Patienten über Tage und Wochen sehr stark sediert wurden, was für das Gehirn sehr schlecht ist.
Wann werden Sie den letzten Patienten sehen?
Neuhold
Corona ist gekommen, um zu bleiben. Auf unserer Station sind zwei, drei Betten immer mit Covid 19-Patienten belegt. Mittlerweile hatten die meisten irgendwann schon einmal eine Auseinandersetzung mit dem Virus, sei es durch eine Infektion oder eine Impfung, trotzdem kann die Erkrankung immer noch ziemlich schwer verlaufen.
Sind die extremen Schutzmaßnahmen für das medizinische Personal - Ganzkörperanzüge aus Plastik, Visiere, Schutzbrillen, mehrere Handschuhe übereinander – noch aufrecht?
Neuhold
Nein, wir haben diese nach und nach zurückgefahren. Wir tragen weiter den ganzen Tag eine dicht sitzende Maske, ansonsten gilt unsere normale Hygienerichtlinie.
Sie hätten sich viel erspart, wäre früher klar gewesen, dass es vor allem auf die Maske ankommt.
Neuhold
Natürlich war das im Nachhinein betrachtet zu viel. Aber wir waren nicht geimpft und total schutzlos. Es ist anderswo durchaus viel medizinisches Personal gestorben. Und es hängt auch sehr viel davon ab, wie viele Menschen gleichzeitig krank und wie viele Viren in der Luft sind.
Wie groß war die Gefahr für Spitalsmitarbeiter?
Neuhold
Aus Amerika weiß man, dass es bei Ärzten in der Phase vor der Impfung eine Übersterblichkeit gab. Was dabei vergessen wird ist, dass Krankenschieber oft viel schlechter geschützt waren, oder auch Reinigungskräfte, die geputzt haben, nachdem jemand verstorben ist, aber das Zimmer noch verseucht war. Das weiß man ebenfalls aus Untersuchungen aus dem Ausland. Bei uns im Haus war das nicht der Fall, weil alle sofort Schutzkleidung bekommen habe. Ich fürchte allerdings, dass das nicht überall so war.
Haben Sie sich jemals angesteckt?
Neuhold
Ich bin fünf Mal geimpft, war extrem vorsichtig, habe mich ständig getestet. Aber vor Kurzem habe ich mich so verhalten wie die meisten anderen Menschen auch, weil ich mit den Kindern Schifahren war, im Zug, in der Gondel und auf der Schihütte ohne Maske gesessen bin. Und prompt habe ich mich angsteckt.
Wie war das bei Ihren Kolleginnen und Kollegen?
Neuhold
Eine Stationsschwester war ein Jahr lang wegen Long Covid weg, ein anderer hat gekündigt.
Gab es unter ihnen auch Impfskeptiker?
Neuhold
Nein, der Wert der Impfung stand bei uns nie zur Debatte. Wir haben uns alle darüber gefreut.
Zu Beginn der Pandemie herrschte viel Unsicherheit, es gab Irrtümer und ständig neue Erkenntnisse. Wie ging das weiter?
Neuhold
Für Intensivpatienten gab es nach einer anfangs steilen Lernkurve keine großen Durchbrüche mehr. Danach wurde eher an Details gefeilt. Etwa, ist es vernünftig, immunmodulierende Substanzen zum Kortison dazuzugeben? Anders sieht es bei den weniger schwer Erkrankten aus, für die antiretroviral wirkende Medikamente wie Paxlovid auf den Markt kamen, die man auch als Tabletten einnehmen kann.
Je länger die Pandemie dauerte, desto unversöhnlicher wurden die Debatten. Spitalsmitarbeiter waren mit offener Aggression konfrontiert. Was ließe sich daraus lernen?
Neuhold
Natürlich gibt es schwierige Patienten und Angehörige. Aber wir sind nie soweit gesunken, dass wir zwischen geimpften und ungeimpften Patienten einen Unterschied gemacht hätten. Vielleicht müssen wir eher wieder etwas lernen, das wir in der Pandemie verlernt haben. Es ist eine junge Pflege- und Ärztegeneration herangewachsen, die sich daran gewöhnt hat, dass die Türen für Besucher geschlossen sind. Für das Team sind sie eine Belastung, für die Patienten aber sind sie lebensrettend.
Lange Zeit empfanden Sie eine Ruhe vor dem Sturm, von dem niemand weiß, wie heftig er wird. Was war die schlimmste Phase für Sie?
Neuhold
Delta war das Schlimmste, unser kollektiver Irrsinn. Da waren die meisten Patienten, die jüngsten. Wir werden wahrscheinlich nie wieder so einen Ansturm auf die Intensivstationen und diesen niedrigen Altersdurchschnitt haben wie in dieser Phase.
Ist nun wirklich restlos erforscht, was die Krankheit im Körper macht?
Neuhold
Vieles weiß man jetzt, einiges immer noch nicht, vor allem, was Long C betrifft. Ich bin dafür keine Spezialistin, denke aber, da wird noch viel Wissen generiert, das auch in Therapien mündet. Das Beste ist natürlich, Corona gar nicht zu bekommen.
Es gibt neuerdings Berichte, das Virus könnte doch aus einem Labor entwichen sein. Ist das für Sie von Belang?
Neuhold
Ich lese das natürlich, kann mir dazu aber keine Meinung bilden. Das übersteigt meine Kompetenz und ist für meine Arbeit auch nicht relevant.
Was sind für Sie die wichtigsten Lektionen aus der Corona-Krise?
Neuhold
Es gibt in der Wissenschaft eine Explosion an Erkenntnissen. messenger-RNA wurde lange als Irrweg belächelt, nun gilt sie als Durchbruch, etwa auch für die Krebstherapie. Aber die Anti-Wissenschaft hat mindestens so viel dazugelernt. Die Öffentlichkeit erlebte in der Pandemie live mit, wie Wissen generiert wird. Da gibt es ein ständiges Hin und Her, viel Grauzone und Unsicherheit, bis sich die richtige Strategie herauskristallisiert. Das muss man erst einmal aushalten und fördert nicht gerade das Vertrauen. Die Gegenseite, die Anti-Wissenschaft, spricht nur die Gefühle an und muss nicht mit Fakten arbeiten. Insofern ist das ein unfairer Kampf. Das bleibt für mich aus der Pandemie und macht mir Sorgen, wenn es um die Bewältigung künftiger Krisen geht. Wie soll das gehen?