Intervall-Fasten: Sechs Gründe, warum die Wiener Linien aus der Spur gerieten
Von unserem Weihnachtsgeschenk haben Sie sicher schon gehört. Ein Glas Marmelade aus Fallobst, das für zwei, drei Brote reicht. "Es wirkt, als hätten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wiener Linien nur auf ein Ventil für ihren Frust gewartet. Bei Hintergrundgesprächen ist die Weihnachtsmarmelade in aller Munde. Namentlich zitieren lassen sich selbst langgediente Lenkerinnen und Lenker aus Angst vor Konsequenzen nicht.
Derzeit stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von allen Seiten unter Druck, Fahrgäste lassen ihren Frust über lange Wartezeiten zuweilen an den Lenkerinnen und Lenkern aus. Das Unternehmen drängt auf Sonderschichten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.
Besonders betroffen ist die Straßenbahnflotte. "Linie 2 am Abend: 30 bis 40 Minuten"-"40 Minuten auf den 60er warten, am Vormittag!"-"43er kommt eh schon in 23 Minuten." Frustrierte Postings in sozialen Medien mit Bildern von Anzeigetafeln gehören mittlerweile zum Zeitvertreib. Am Mittwoch wurden die Intervalle auf mehreren Linien erneut gestreckt. Für Straßenbahn und Bus fehlen bereits je 100 Lenkerinnen und Lenker. "Bei uns in der U-Bahn fängt es auch langsam an. Schichten können nicht besetzt werden, Züge fallen aus, immer weniger Urlaub wird genehmigt",sagt eine Mitarbeiterin, die seit über fünf Jahren im Untergrund arbeitet.
Mit ihrer Verlässlichkeit leisteten die Wiener Linien bisher einen Beitrag, dass Wien Jahr für Jahr zur "lebenswertesten Stadt der Welt" gewählt wurde. Umso schmerzvoller ist der Imageverlust. Wien ist nicht unbedingt anders. In ganz Österreich müssen Verkehrsbetriebe Intervalle verlängern, weil sie kein Personal finden. Doch bei einem Verkehrsriesen wie den Wiener Linien mit 8700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die jährlich fast eine Milliarde Passagiere befördern, stellt sich die Frage: Waren die Engpässe wirklich nicht vorhersehbar? Sechs Gründe für die langen Wartezeiten.
Der Pensionsschock
Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Pension, geburtenschwache Jahrgänge rücken nach. So lautet die Formel hinter dem grassierenden Arbeitskräftemangel quer durch Österreich.
Als Ausrede taugt die Pensionierungswelle allerdings nur bedingt, denn sie musste im Personalbüro der Wiener Linien vorhersehbar gewesen sein. Allein im vergangenen Jahr wurden 600 Mitarbeiter in den Ruhestand verabschiedet. Die Wiener Linien wollen gar nichts übersehen haben: "Wir bereiten uns seit langer Zeit auf die Pensionierungswelle vor und haben in den vergangenen Jahren die Anzahl unserer Ausbildungsplätze sukzessive nach oben geschraubt",teilt eine Sprecherin mit. 270 seien es aktuell nur im Straßenbahnbereich. Das Problem: Zu wenige Bewerber schließen die Ausbildung ab.
Die Aussteiger
Wie hoch die Drop-out-Quote ist, verrät das Unternehmen nicht. Nur so viel: "Im Vergleich zu vorangegangenen Jahren schließen weniger Bewerberinnen und Bewerber die Ausbildung erfolgreich ab. Einerseits wird der Schichtdienst unterschätzt, auch mangelnde Deutschkenntnisse erschweren die Absolvierung."Doch damit nicht genug: Von jenen, die es schaffen, "bleibt nur ein sehr geringer Teil länger als ein bis drei Jahre bei den Wiener Linien".So steht es zumindest in einem anonymen Protestschreiben einer "größeren Gruppe von Straßenbahn-,U-Bahn-und Autobusfahrer:innen",das an Medien versandt wurde. Gegenüber profil bestätigten mehrere Mitarbeiter eine extrem kurze Verweildauer neuer Kolleginnen und Kollegen.
Die Wiener Linien stecken demnach viel Zeit, Geld und Lehrpersonal in den Nachwuchs, der sich bald wieder verabschiedet. Warum?
Der Freizeitfrust
"Wir wollen ehrlich sein: Wir fordern viel", heißt es in den Jobannoncen der Wiener Linien. Bedeutet konkret: Frühschichten ab 4.30 Uhr; "Unterbrecher-Dienste" mit unbezahlten Pausen von bis zu vier Stunden; Samstags-und Sonntagsdienst "für längere Zeit" nach der Ausbildung. Ein Busfahrer, der bereits über 25 Jahre seine Runden durch Wien dreht, sagt: "Die Jungen legen heute mehr Wert auf Freizeit. Wenn Freunde nach und nach wegfallen, weil man sich kaum noch sieht, kann das schnell zermürben."Mit Familie verschärft sich das Problem.
Freie Wochenenden sind bei den Wiener Linien ein durch Dienstjahre erworbenes Privileg. Dass langgediente Fahrer es wieder hergeben und Wochenenddienste für den Nachwuchs schieben, scheint wenig realistisch. "Solidarität hat ihre Grenzen. Ich hatte 15 Jahre keine Wochenenden",sagt der Busfahrer.
"Der Schichtdienst wird unterschätzt", heißt es aus den Wiener Linien. "Wir sehen uns durchaus selbstkritisch an, wie wir bei der Arbeitszeit flexibler und attraktiver werden können."Neuerdings kann deswegen auch Teilzeit oder im Rahmen einer 4-Tage-Woche gefahren werden.
Corona an Bord
Das Coronavirus hat die Personaldecke der Wiener Linien auf mehrfache Weise ausgedünnt. Seit Winterbeginn sorgt es in Kombination mit Influenza oder RSV-Viren für einen Rekord an Krankenständen. Die Impfpflicht für Neueinsteiger, die bis November 2022 galt, dezimierte das Nachwuchspotenzial. Und während der Pandemie selbst verzerrte das Virus die wahre Situation am Arbeitsmarkt. Die Öffis fuhren auch im Lockdown. Deswegen diente Tram-,U-Bahn-oder Busfahren manchen als Überbrückung-aber nur so lange, bis sich wieder Arbeitsplätze mit angenehmeren Dienstzeiten auftaten. Und davon gibt es infolge des Arbeitskräftemangels immer mehr. Der Ausstieg aus der Fahrerkabine und Umstieg in die Privatwirtschaft fällt Mitarbeitern ohne höhere Ausbildung leichter als früher. Dieses Problem wird die Wiener Linien noch lange begleiten.
Deutsch als Flaschenhals
Für die kurze Lenkerausbildung sind weder Matura noch Führerschein (außer für den Bus) nötig. Danach winkt ein Einstiegsgehalt von 2300 Euro brutto. Gerade für Menschen ohne höhere Ausbildung, die neu im Land sind, könnte der Job so attraktiv wie integrativ sein. Immerhin arbeiten Lenkerinnen und Chauffeure vom ersten Tag an im Herzen der Gesellschaft. Doch der Flaschenhals ist Deutsch. Bei den Wiener Linien wird das Sprachniveau B2 vorausgesetzt. In Stresssituationen müssen Lenkerinnen und Lenker sofort "schalten", wenn sich die Zentrale meldet. Bezogen auf zwei große Flüchtlingsgruppen zeigt eine Auswertung des AMS: In Wien sind 24.000 Syrer und Afghanen über 20 Jahre-das Mindestalter bei den Wiener Linien-arbeitslos gemeldet, die Hälfte seit über einem Jahr. Der Großteil hat nur die Pflichtschule abgeschlossen. Auf dem Sprachlevel B2 sind zwölf Prozent der afghanischen und 4,2 Prozent der syrischen Arbeitssuchenden. Entsprechend gering sind sie bei den Wiener Linien noch vertreten.
Durch die aktuelle Aufnahmewelle soll sich das ändern. Lernunterlagen gibt es mittlerweile in zehn Sprachen (von Arabisch über Farsi bis Ukrainisch). Bewerberinnen und Bewerber, die aus sprachlichen Gründen nicht genommen werden, können beim AMS eine Extraschleife drehen. "Es mangelt nicht an Bewerbungen. Der Großteil scheitert jedoch an den hohen sprachlichen Anforderungen im Fahrbetrieb. Wir sind derzeit dabei, Deutschkurse mit Fokus auf das Fachvokabular der Wiener Linien auf die Beine zu stellen, nach denen diese Personen dann erneut antreten können", schildert AMS-Wien-Chefin, Petra Draxl.
Der Imagewandel
Als einer der wenigen syrischen Straßenbahnfahrer ist Bilal Al-Beirouti seit 2021 im Westen Wiens unterwegs. Er flüchtete 2016 nach Österreich. Auch für ihn war Deutsch die größte Hürde. Die Lernskripten ließ er sich von einem ägyptischen Bekannten übersetzen. Doch er bestand die Prüfung und trägt seine Dienstuniform seither mit gewissem Stolz. Ein Gefühl, das österreichische Mitarbeiter der alten Schule noch kennen. "Damals war man stolz auf die Uniform der Wiener Linien. Heute stehen die Chancen gut, dass du damit eher angepöbelt als respektierst wirst", sagt ein langgedienter Straßenbahnfahrer. Das Image hat sich gewandelt. Die Wiener Linien sind ein Arbeitgeber wie jeder andere geworden, der um neue Mitarbeiter rittern muss.
Die Negativschlagzeilen über lange Wartezeiten und steigenden Druck auf Beschäftigte sind dabei sicher nicht hilfreich. Das Unternehmen steuert gegen. Für den Weihnachts-und Silvesterdienst gab es einen Bonus von je 100 Euro. Und wie von den Unterzeichnern des Protestschreibens gefordert, steigen nun auch die Gehälter-um 210 Euro brutto pro Monat.
Man darf davon ausgehen, dass die Fallobst-Marmelade als potenzielles Weihnachtsgeschenk wieder ausrangiert wurde.