Anastasia: Was die russische Öko-Sekte in Österreich treibt
Sankt Radegund liegt im äußersten Westen Oberösterreichs, zwei Autostunden von der Landeshauptstadt Linz entfernt. Die unscheinbare Gemeinde liegt am Ufer der Salzach, die hier Österreich von Bayern trennt. Am östlichen Ortsrand versteckt sich hinter hohen und dichten Bäumen ein Bauernhof. Der Bauer hat ihm den Namen „Anastasialand“ gegeben und ihn einer Bewegung gewidmet, die in ganz Europa operiert und vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Die „Anastasia-Bewegung“ geht auf eine elfteilige Buchreihe des russischen Autors Wladmir Megre zurück. Er skizziert darin, wie die Menschen sogenannte Familienlandsitze errichten sollten, um wieder zu sich und zur Natur zu finden. Der erste Teil erschien 1996, er verkaufte sich millionenfach. 2005 gründeten sich in Russland die ersten Siedlungen, die „Anastasia-Bewegung“ war geboren. Zwischen 10.000 und 50.000 Menschen leben dort heute. Die Schätzungen gehen auch deswegen weit auseinander, weil es keine zentrale Organisation gibt, die Projekte entstehen oft selbstorganisiert.
Schon früh griff der Gedanke auch in Österreich um sich. Um die Jahrtausendwende wurden die ersten Bücher ins Deutsche übersetzt – und damit auch ihre Schattenseiten. Denn die Utopie lädt nicht nur Fantasten und Aussteiger ein, sondern auch Staatsverweigerer und „Blut und Boden“-Ideologen. Im Buch lassen sich antisemitische Thesen nachlesen, in Deutschland gibt es Überschneidungen zwischen Neonazis und der Bewegung. In Österreich rechnet ihr der Verfassungsschutz rund 800 Leute zu, die Szene ist unübersichtlich. Zu ihr linke Träumer, Möchtegern-Pädagogen und Hardcore-Verschwörungstheoretiker. Momentan aber kämpft die Bewegung mit rechtsextremem Image und einem gescheiterten Projekt.
Dabei beginnen die Bücher harmlos. Die ersten Kapitel lesen sich wie der Erlebnisaufsatz eines Unterstufenschülers. Im ersten Band beschreibt Megre, wie er im sibirischen Nadelwald der Einsiedlerin Anastasia begegnet. Er ist schockverliebt: „Alles an dieser Taiga-Lady war attraktiv und bezaubernd.“ Wenige Seiten später stellt sich heraus, dass Anastasia auf einer Lichtung in einer Art modernen Paradies haust. Darauf aufbauend entwickelt Megre in den folgenden zehn Bänden einen Gegenentwurf zur modernen Welt und eine Analyse, was darin alles falsch läuft. Es geht um eine Priesterkaste, die im Verborgenen alles kontrolliert, und öffentliche Schulen, in denen Kindern das eigenständige Denken abtrainiert wird.
Der Bauer aus dem Lungau
In Österreich hatten in der Vergangenheit auch prominentere Leute Kontakt mit der Anastasia-Bewegung. Dazu zählt Josef "Sepp" Holzer, der auf seinem Hof im Salzburger Lungau schon in den 1970er Jahren eine Spielart der Permakultur entwickelt hat. Sie basiert darauf, weniger in natürliche Prozesse einzugreifen, und auf Kompost und Kreislaufwirtschaft zu setzen, statt auf chemische Dünger und Monokulturen. Permakultur und ihre starke Naturbezogenheit hat sich in den letzten Jahrzehnten von einer landwirtschaftlichen Gestaltungsmethode zum Lebensgefühl entwickelt. Holzer hat viele Bücher geschrieben, als „Permakultur-Papst“ firmiert er zum Beispiel in einer Doku, die „ServusTV“ über ihn gedreht hat. Als Gegner treten in den Erzählungen – die oft auf Holzers Hof im Salzburger Lungau beginnen – die EU, Großbauern und Banken auf, die ökologische Ansätze unterdrücken möchten.
Auch in Russland ist Holzer eine große Nummer. Fünf seiner Bücher sind im Moskauer „Naturbook“-Verlag übersetzt worden, er ist dort regelmäßig zu Gast. Bei einem seiner Besuche erzählte er in einem Interview im August 2010, dass er Megres Bücher auszugsweise gelesen hat. Der starke Fokus auf die Natur und ihre Macht habe ihn überzeugt: „Ich denke, wenn diese Bewegung wächst und stärker wird, ist das eine Chance für alle Länder, vor allem jene der ehemaligen Sowjetunion.“ 2014 half Holzer bei der Konzeption der landwirtschaftlichen Flächen des Siedlungsprojekts „As Grad“ in der Umgebung der sibirischen Großstadt Omsk selbst mit. Der Gründer des Projekts – der Unternehmer Andrej Nikitenko – ist ein Anastasia-Anhänger. „As Grad“ lädt regelmäßig zu Festivals, wer möchte, kann sich im Internet für einen Wohnsitz bewerben. Es ist mit 680 Hektar zweieinhalb Mal so groß wie der erste Bezirk in Wien. Anastasia-Sympathisant ist Holzer allerdings keiner, auch bei "As Grad" ging es nur um seine landwirtschaftliche Expertise. Das ist ihm wichtig klar zu stellen. Seine Zusammenarbeit passierte nur zeitlich und regional begrenzt, mit einer rechts-unterwanderten Öko-Sekte möchte er nichts zu tun haben.*
Auch Rupert Peterlechner ist so ein rebellischer Bauer. Ihm gehört das „Anastasialand“ in Sankt Radegund. Den Hof hat er 1983 von seinen Eltern übernommen, kurz darauf machte er ihn ökologisch und stellte 2003 auf Permakultur um. In einem Podcast erzählt von Konflikten mit der Landwirtschaftskammer und der lokalen Politik und einem Besuch auf Holzers Hof, um sich dort über Permakultur zu informieren. Auf zweieinhalb Hektar betreibt Peterlechner seit fast 20 Jahren das „Anastasialand“. Es ist dem Gedanken eines Familienlandsitzes nachempfunden, die Selbstversorgung steht im Mittelpunkt, gegen freiwillige Spende vermietet der Mitsechziger auch Ackerflächen.
2010 wollte Peterlechner mit seiner Frau dort sogar eine Privatschule errichten. Verwunderlich ist das nicht, im dritten Band stellt Megre weitreichende Überlegungen zu Bildung an, er lobt die Thesen des Philosophen Michail Schetinin in den höchsten Tönen. Dabei geht es darum, Kinder quer durch alle Altersgruppen gemeinsam zu unterrichten und ihnen so wenig Vorgaben wie möglich zu machen. Der geplanten Schule in St. Radegund wurde aber nie das notwendige Öffentlichkeitsrecht erteilt. Weil er kein Aufsehen erregen wolle, lehnte Peterlechner eine Interviewanfrage von profil ab.
Die Anwältin in der Hauptstadt
Anders als Holzer und Peterlechner hat Vera Weld keinen Bauernhof geerbt. Ihr haben es die spirituellen Facetten der Anastasia-Buchreihe angetan. „Ich glaube an Anastasia. Ich glaube, dass es sie wirklich gibt“, sagt die Anwältin beim Gespräch in ihrer verwinkelten Kanzlei in der Wiener Innenstadt. Weld hat ab 2001 einen Anastasia-Lesekreis in Wien organisiert, davor waren ihr die Bücher bei einem Edelsteinmarkt in Oberbayern in die Hände gefallen. Jahrelang versuchten sie und ihre Gruppe danach, an Grund zu kommen. Aus einem Kauf wurde nie etwas. Manchmal sei es an der Gruppendynamik, manchmal am Finanziellen gescheitert. „2018 habe ich es aufgegeben“, sagt Weld.
Weld erzählt viel und bildhaft, ihre Biografie ist bemerkenswert. Sie führt vom Kärntner Hermagor nach Innsbruck, wo sie ab den späten 1970er Jahren in der Autonomen Frauenbewegung und in der SPÖ-Studierendenorganisation VSStÖ aktiv wird. Danach zieht sie für eine unabhängige Liste in den Gemeinderat ein, später nach Wien. Irgendwann dazwischen beginnt sie Meditationskurse zu besuchen, immer wieder mischen sich in ihre Schilderungen mystische Anklänge, es geht dann um Sternzeichen, Erfahrungen aus einem früheren Leben und Prüfungen von Anastasia.
Vergleichbare Werdegänge gibt es in esoterischen Kreisen viele, der Sprung von grün-alternativen Positionen zum Glauben an die spirituellen Kräfte der Natur ist nicht immer weit. Es ist Weld wichtig, dass sie nicht ins rechte Eck gestellt wird. Entsprechende Tendenzen habe sie in ihrem Lesekreis nie toleriert. Auf eine antisemitische Passage im siebten Teil der Buchreihe angesprochen, in der es heißt, Jüdinnen und Juden würden seit Jahrtausenden verfolgt, weil sie „mit allen Mitteln versuchen, so viel Geld wie nur möglich in ihren Händen zu konzentrieren“, sagt sie: „Nein, das glaube ich nicht.“
Wofür werden die Juden denn bestraft? Dafür, dass sie mit allen Mitteln versuchen, so viel Geld wie nur möglich in ihren Händen zu konzentrieren. Und vielen von ihnen gelingt das auch ganz gut.
Die Deutschen in Poppendorf
Peterlechner und Weld gehörten zu den ersten Anastasia-Anhängern in Österreich, öffentliche Kritik gab es kaum, über Peterlechners Hof wurde in den „Oberösterreichischen Nachrichten“ sogar neugierig berichtet. Man kann das nachvollziehen. Beide machen einen harmlosen Anschein.
Doch seit 2017 hat sich das Image der Bewegung grundlegend verändert. Das liegt an den Recherchen deutscher Medien. Der „Bayerische Rundfunk“ berichtete damals von einem „Anastasia Festival“ mit 500 Teilnehmern, auf dem auch Frank Ludwig referierte, der im Internet unter „Urahnenerbe Germania“ auftritt und mit Rassentheorien und Nazi-Symbolik spielt. Ludwig hat ein Buch für jene geschrieben, die nach dem Vorbild Anastasias Landsitze errichten möchten. In der deutschen Szene, auch das zeigten die Recherchen, war er bestens vernetzt. Die Ideen aus Megres Büchern waren mit völkischem Gedankengut kompatibel.
Auch in Österreich machte ein Deutscher Anastasia-Fan Schlagzeilen. Ende 2019 zog Norman Kosin mit seiner Familie aus Schleswig-Holstein ins Südburgenland. Auf einem seiner Kanäle auf der Messenger-Plattform „Telegram“ teilte er Sätze wie: „Über 50 Prozent der Lebensarbeitsleistung eines jeden Deutschen wurden von den Zionisten gestohlen“, und: „In unserer heutigen Realität sind es dunkle Mächte, das Böse selbst, das uns in einer Bio-Matrix gefangen hält.“ Dazwischen Meditationsanleitungen, Bilder von Heilkräutern und Unterstützungserklärungen für Donald Trump. Zur Hochphase der Pandemie poppten bei „Telegram“ fast täglich neue Gruppen mit solchen Inhalten auf.
Kosin wollte eine Siedlung aufbauen. Ab Juni 2021 bezog er den Krumphof in Poppendorf im Bezirk Jennersdorf, 53 Hektar ist das Gelände groß. Es gab Pläne, auf denen Jurten für Gäste und Hütten für wohnhafte Familien eingezeichnet waren. Freunde und Verbündete kamen und verbrachten Zeit am Hof. In einem Interview sprach Kosin über die Möglichkeit, Kinder abseits der staatlichen Schulen dort in Gruppen zu unterrichten und Strategien, sich mit den Bauern der Region zu vernetzen.
Doch daraus wurde nichts. Der Deutsche konnte die Kaufsumme von 2,5 Millionen Euro nicht stemmen, auch Konflikte zwischen ihm und vermeintlichen Gleichgesinnten behinderten das Vorhaben. im Juli 2022 musste er das Gelände verlassen. Das bestätigte Eigentümer Josef Reinstorm auf Nachfrage von profil. Etwas unheimlich sei ihm die Gruppe schon gewesen, aber er habe nach willigen Käufern gesucht. Ob Kosin weiter in Österreich bleibt, ist unklar. Laut seinen Aussagen hat sein Vermieter im benachbarten Bezirk Güssing das Mietverhältnis für das Haus der Familie aufgekündigt.
Lerngruppe im Waldviertel
Der Vormarsch Anastasias und ihrer Bewegung in Österreich ist gebremst. Sie überdauert auf Peterlechners Hof und in einer Schulinitiative. In Allentsteig im Waldviertel bietet die private „Wings Academy“ Lerngruppen nach der Pädagogik des Philosophen Schetinin an. Aus der zuständigen Bildungsdirektion heißt es, dass sie die Aktivitäten der Academy beobachtet, sie habe während Corona eine Hochphase erlebt, mittlerweile seien sie abgeflaut.
Die Bewegung floriert anderswo. Seit Anfang Juni führt sie der deutsche Verfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall, alleine im ostdeutschen Brandenburg gibt es laut der Behörde fünf Familienlandsitze. Wer sich in den einschlägigen Foren umsieht, findet reihenweise Angebote, bei ost- oder südeuropäischen Siedlungen anzudocken oder dort selbst zu bauen. Anwältin Weld ist im westungarischen Lovászpatona fündig geworden. Sie hat dort ein Häuschen gekauft, wer auf der Suche sei, könne provisorisch bei ihr unterkommen. „Vielleicht ist Österreich noch nicht bereit“, sagt sie. „Aber die Sonne wandert ja auch von Osten nach Westen. Und mit ihr das Wissen.“
*Richtigstellung, 3. August 2023, 10:00: In der Erstfassung dieses Textes wurde Josef "Sepp" Holzer als Sympathisant der „Anastasia-Bewegung“ bezeichnet. Wir widerrufen diese Behauptung. Er steht ihr nicht nahe, wie er in einer Stellungnahme, die nach Redaktionsschluss einlangte, erklärt. Holzer hat in Russland und der Ukraine mit einzelnen Gruppen zusammengearbeitet, sein Engagement reichte darüber nicht hinaus. Es ist ihm zudem wichtig, festzuhalten, dass er nur den ersten Teil der Anastasia-Reihe auszugsweise gelesen hat und das Interview mit dem russischen Medium nicht autorisiert war. Bei "As Grad" war er lediglich an der Konzeption der landwirtschaftlichen Flächen, nicht aber an den Siedlungsambitionen beteiligt.