Jedes Schriftl, a Giftl, jedes SMS, a Prozess?
Die Zweite Republik ist reich an gut dokumentierten Skandalen. Wie viele potenzielle Skandale im Verborgenen blieben, darüber kann nur spekuliert werden. Ebenso über die Frage, wie froh so manche Parteigranden a.D. sind, dass zu ihrer Zeit noch keine SMS zwischen Politikern und Wirtschaftsbossen hin- und herflogen. Der Grundsatz „jedes Schriftl, a Giftl“ war vor der Zeit automatischer Backups am Handy oder in Clouds definitiv einfacher zu befolgen. Worte bleiben nur im Kopf des Empfängers gespeichert, Papier kann man für alle Ewigkeit verbrennen oder schreddern.
Wohingegen eine einzige Textnachricht noch Jahre später eine Regierung in ihren Grundfesten erschüttern kann – wie jene des früheren Novomatic-Bosses Harald Neumann an den damaligen ÖVP-Wien-Chef Gernot Blümel aus dem Jahr 2017: „Guten Morgen, hätte eine Bitte: bräuchte einen kurzen Termin bei Kurz (erstens wegen Spende und zweitens bezüglich eines Problemes (sic!), das wir in Italien haben!“
profil berichtete bereits knapp nach der jüngsten Hausdurchsuchung bei Blümel über dieses – man darf es wohl so nennen - Zeitdokument. Die aktuelle Cover-Story widmet sich der Frage, was diese Zeilen für die Amtsfähigkeit des nunmehrigen Finanzministers bedeuten; wie Novomatic tickt; wie eng oder lose Blümels Kontakte zu Managern des Glückspielriesen waren; worauf sich der Vorwurf der Bestechlichkeit noch stützt; und mit welcher Genugtuung die Grünen ihren türkisen Regierungspartner nun unter Druck setzen - bisher lief es umgekehrt.
Für Blümel und Neumann gilt natürlich die Unschuldsvermutung. Beide bestreiten alle Vorwürfe vehement. Was hinter der SMS steckt – oder nicht – muss die Justiz klären. Sicher nicht strafbar war Neumanns Textnachricht an einen Novomatic-Kollegen mit der Frage: „Wer ist dieser Idiot??“ Gemeint war Ihr Morgenpostler, nach einem sehr kritischen Kommentar über neue Spielautomaten in Wien. So lange Neumann solche Unfreundlichkeiten nicht auf offener Bühne austauscht, soll er nur kräftig schimpfen. Ich fand‘s witzig. Das Beispiel soll nur illustrieren, wie locker die SMS-Finger führender Manager und Politiker heutzutage sitzen. Die Cover-Story liefert diesbezüglich weitere Gustostückerl.
Ein Zeitdokument anderer Art haben wir im März 2020 am Beginn der Pandemie erstellt. Zwölf Bürger von Wien bis Vorarlberg führten in der ersten Woche des Lockdowns für profil Tagebuch. Nach bald einem Jahr Ausnahmezustand wiederholen wir die Corona-Chroniken. Sie geben Einblick in das total veränderte Leben eines Arztes auf der Corona-Station, eines Bürgermeisters, Postboten, Opernsängers oder einer Obdachlosenbetreuerin, um nur ein paar zu nennen. Es sind Geschichten über Ansteckungen, Dauerstress, Verzweiflung an der Menschheit, fast surrealer Normalität und der Freude, sich neu zu erfinden.
„Schon wieder dieser Ungustl.“ Wer gemeint ist? Das werden Sie nie erfahren. Das hab‘ ich meinem Kollegen soeben nur mündlich zugerufen.
Drücken Sie sich aus, aber achten Sie auf Ihren digitalen Fingerabdruck.
Einen schönen Wochenstart!
Clemens Neuhold
PS: Gibt es etwas, das wir an der „Morgenpost“ verbessern können? Das Sie ärgert? Erfreut? Wenn ja, lassen Sie es uns unter der Adresse [email protected] wissen.