Migration

Jetzt kommen die syrischen Kinder nach: Schafft Wien das noch?

Tausende Syrer holen jetzt ihre Familien. Monatlich kommen Kinder und Jugendliche in der Größenordnung von 14 Schulklassen nach Wien. Gegen neue Schulcontainer wird protestiert. Auch Wohnraum fehlt.

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Eine 70-Quadratmeter-Wohnung in Wien-Favoriten. Der Estrich-Boden im Stiegenhaus ist feucht, die Glühbirnen sind nackt. Das desolate Gründerzeithaus ist fünf Minuten entfernt vom Viktor-Adler-Markt, auf dem syrische Händler und Imbissstände das Angebot dominieren. Im Wohnzimmer sitzt der 40-jährige Syrer Abu Idris, an die Wand gelehnt, auf dem blauen Teppichboden. Bis auf goldfarbene Polster, die als Armstützen dienen, ist das Zimmer unmöbliert. Vor wenigen Tagen saßen in den Sitzkojen noch sein Bruder und seine Cousins und tranken mit ihm Kaffee, gewürzt mit Kardamom. Nun ist er allein. Von den einstigen Mitbewohnern blieben nur die Koffer im Nebenzimmer. Sie mussten weichen, weil der Syrer neue Mitbewohner aus seiner Heimat erwartet: seine Frau, seinen dreijährigen Sohn und seine beiden Töchter im Alter von vier und sieben. Drei Jahre lang sah er seine Familie nur per Video-Call. In wenigen Tagen wird sie in ein Flugzeug steigen und zum Vater nach Wien fliegen. Und das lange Warten hat ein Ende.

Video-Chat mit der Familie in Syrien

Abu Idris sieht seine Familie seit drei Jahren nur über WhatsApp. In wenigen Tagen landet sie in Wien.

Ab 2015 prägten Bilder junger Männer die aufgeheizte Asyldebatte, die in Gruppen über Grenzen marschierten oder aus überfüllten Schlepper-Lkw stiegen. Nun ziehen auch Frauen und Kinder in größerer Zahl nach. Eigentlich ein Schritt in Richtung Normalisierung. Diese familiäre Fluchtbewegung ist leiser, geordneter, unaufgeregter. Wahrnehmen konnte man sie durch die strengere Verhüllung einiger syrischer Mädchen – mit Kopftüchern übers Kinn und wallenden Mänteln, genannt „Abayas“.

Doch es gibt Orte, an denen der verstärkte Familiennachzug Wellen schlägt: besonders an den Schulen. Sie wissen nicht mehr, wohin mit den Kindern, die großteils aus Syrien stammen, aber auch aus Afghanistan oder Somalia. Zwischen Jänner 2023 und Februar 2024 kamen mehr als 4000 Kinder und Jugendliche im Pflichtschulalter nach Wien. Monat für Monat kommen weitere 350 dazu – mit anhaltender Tendenz. In ganz Österreich sind es rund 500.

Zum Schulengpass kommt die Wohnungsnot. Für eine Gemeindewohnung müssen Anwärter fünf Jahre in Wien gemeldet sein. Das Angebot am privaten Wohnungsmarkt ist knapp für Familien, die in ihrer ersten Zeit in Österreich meist nur von der Mindestsicherung leben. Auch Kindergartenplätze scheinen in manchen Ecken der Stadt wieder rarer zu werden.

Ein Masterplan für die Integration der Familien, die hier bei null beginnen, scheint nicht zu existieren. Wie konnte es so weit kommen?

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.

Clara Peterlik

Clara Peterlik

ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.