Jetzt kommen die syrischen Kinder nach: Schafft Wien das noch?
Von Clemens Neuhold und Clara Peterlik
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Eine 70-Quadratmeter-Wohnung in Wien-Favoriten. Der Estrich-Boden im Stiegenhaus ist feucht, die Glühbirnen sind nackt. Das desolate Gründerzeithaus ist fünf Minuten entfernt vom Viktor-Adler-Markt, auf dem syrische Händler und Imbissstände das Angebot dominieren. Im Wohnzimmer sitzt der 40-jährige Syrer Abu Idris, an die Wand gelehnt, auf dem blauen Teppichboden. Bis auf goldfarbene Polster, die als Armstützen dienen, ist das Zimmer unmöbliert. Vor wenigen Tagen saßen in den Sitzkojen noch sein Bruder und seine Cousins und tranken mit ihm Kaffee, gewürzt mit Kardamom. Nun ist er allein. Von den einstigen Mitbewohnern blieben nur die Koffer im Nebenzimmer. Sie mussten weichen, weil der Syrer neue Mitbewohner aus seiner Heimat erwartet: seine Frau, seinen dreijährigen Sohn und seine beiden Töchter im Alter von vier und sieben. Drei Jahre lang sah er seine Familie nur per Video-Call. In wenigen Tagen wird sie in ein Flugzeug steigen und zum Vater nach Wien fliegen. Und das lange Warten hat ein Ende.
Video-Chat mit der Familie in Syrien
Abu Idris sieht seine Familie seit drei Jahren nur über WhatsApp. In wenigen Tagen landet sie in Wien.
Ab 2015 prägten Bilder junger Männer die aufgeheizte Asyldebatte, die in Gruppen über Grenzen marschierten oder aus überfüllten Schlepper-Lkw stiegen. Nun ziehen auch Frauen und Kinder in größerer Zahl nach. Eigentlich ein Schritt in Richtung Normalisierung. Diese familiäre Fluchtbewegung ist leiser, geordneter, unaufgeregter. Wahrnehmen konnte man sie durch die strengere Verhüllung einiger syrischer Mädchen – mit Kopftüchern übers Kinn und wallenden Mänteln, genannt „Abayas“.
Doch es gibt Orte, an denen der verstärkte Familiennachzug Wellen schlägt: besonders an den Schulen. Sie wissen nicht mehr, wohin mit den Kindern, die großteils aus Syrien stammen, aber auch aus Afghanistan oder Somalia. Zwischen Jänner 2023 und Februar 2024 kamen mehr als 4000 Kinder und Jugendliche im Pflichtschulalter nach Wien. Monat für Monat kommen weitere 350 dazu – mit anhaltender Tendenz. In ganz Österreich sind es rund 500.
Zum Schulengpass kommt die Wohnungsnot. Für eine Gemeindewohnung müssen Anwärter fünf Jahre in Wien gemeldet sein. Das Angebot am privaten Wohnungsmarkt ist knapp für Familien, die in ihrer ersten Zeit in Österreich meist nur von der Mindestsicherung leben. Auch Kindergartenplätze scheinen in manchen Ecken der Stadt wieder rarer zu werden.
Ein Masterplan für die Integration der Familien, die hier bei null beginnen, scheint nicht zu existieren. Wie konnte es so weit kommen?
Beginnen wir am Ausgangspunkt: Syrien. 2020 und 2021 stieg die Zahl syrischer Flüchtlinge wieder deutlich an. Auch viele Väter waren darunter. Zwischen 70 und 90 Prozent der Asylberechtigten siedeln sich in Wien an. Und es gab auch „Subsidiär Schutzberechtigte“, die schon länger in Wien waren, ihre Familie aber erst nach einer dreijährigen Wartefrist nachholen durften. Diese Wartefrist endet nun.
Die Fluchtgeschichte von Idris ist exemplarisch für die Familienzusammenführungen, die Wien derzeit unter Wachstumsstress setzen. Er verließ Raqqa in Nordsyrien vor drei Jahren. Dort war er Chauffeur. Die ehemalige Hauptstadt des „Islamischen Staates“ hatten die Kurden zwar schon von der Terrororganisation befreit. Idris wollte die Familie trotzdem wegbringen aus der Tristesse. Vier Monate war er mit Schleppern über die Balkanroute unterwegs. Angekommen in Österreich, erhielt er Asyl.
Sofort stellte Idris einen Antrag auf Familienzusammenführung. Von heimischen Flüchtlingsberatern sowie aus der syrischen Community in Österreich wusste er, dass das innerhalb von drei Monaten geschehen muss. Wer die Frist übersieht, darf die Familie nur holen, wenn er sie selbst erhalten kann – ohne Mindestsicherung. Doch Idris muss in der neuen Sprache erst Lesen, Schreiben und Sprechen lernen. In seinem Erstjob als Essenslieferant schlug er sich mit dem Satz „Hallo, Foodora, ich bin draußen“ durch. Während der Familienzusammenführung bezieht er vorerst Mindestsicherung. Wenn alles erledigt ist, will er Taxifahrer werden.
Endlich wieder vereint
Die Familie von Abu Idris ist sicher angekommen. Im Bild seine älteste Tochter.
Drehscheibe für Familienzusammenführungen ist das Rote Kreuz. Die NGO nutzt ihr weltweites Netzwerk, um Familienmitglieder zu finden und zu beraten. 2023 haben sich von insgesamt 3000 Familien ganze 2500 aus Syrien mit insgesamt 8600 Familienmitgliedern an das österreichische Rote Kreuz gewandt, mit der Bitte um Unterstützung. Tendenz seither gleichbleibend.
Die NGO unterstützt die Familien bei den wichtigsten Schritten. Zentral ist das Interview bei einer österreichischen Botschaft. Dort müssen Mütter und Kinder vorstellig werden und ihre Geburtsurkunden, Heiratsurkunden und andere relevanten Dokumente vorlegen. In den meisten Fällen bedeutet das eine Busreise nach Beirut im Nachbarland Libanon, wo die Botschaft für Syrien seit Kriegsbeginn residiert. An der Grenze bekommen die Familien mit einer Terminbestätigung ein 48-Stunden-Visum. Vom Libanon aus fliegen die meisten Familien dann auch zu den Vätern in Österreich.
Bereits 2022 stellte die österreichische Botschaft für Syrien 2300 Visa für syrische Familienangehörige aus. 2023 stieg die Zahl der erteilten Visa auf 3800. Durch die Corona-Pandemie hatte sich ein Rückstau bei den Anträgen gebildet, den die Botschaft abarbeitete. Dazu kam die gewachsene Zahl an syrischen Vätern in Österreich, die eine Zusammenführung beantragten. Die Botschaft stockte ihr Personal um drei Personen auf.
Es gibt auch Frauen und Kinder, die in türkischen oder griechischen Flüchtlingslagern warten. Sie müssen dort zur Botschaft, die alle Dokumente ans Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen in Wien übermittelt. Dort werden die Angaben der Familien mit den Angaben des Vaters gegengecheckt. Bei Zweifeln an der Identität können DNA-Tests durchgeführt werden. Meldet das BFA eine positive Asylprognose an die Botschaft zurück, bekommen die Frauen und Kinder ihr Visum. Sobald sie das Geld für die Flugtickets über Verwandte und Bekannte in Österreich und Syrien zusammengekratzt haben, steigen sie ins Flugzeug – oftmals zum ersten Mal im Leben.
Syrien - Wien: Im Flugzeug statt im Schlepper-Lkw
Zwei Wochen nach dem ersten Treffen mit profil öffnet Idris wieder die Tür. „Salam.“ Er ist herausgeputzt in dunkelblauem, traditionellem Gewand. Hinter ihm steht seine Frau in einem eleganten, ockerfarbenen Kleid mit farblich abgestimmtem Kopftuch. Dazwischen tauchen drei Kinderköpfe auf. Vor vier Tagen ist die Familie wohlbehalten in Wien gelandet.
Der Ramadan hat begonnen. Mit Gästen wurde zu Abend gegessen und das Fasten gebrochen. Die Männer biegen ins Wohnzimmer ab, die Frauen halten sich mit den Kindern im Schlafzimmer auf und essen dort eine Nuss-Honig-Nachspeise. Der dreijährige Sohn erzählt immer wieder aufregt vom Flug. Die siebenjährige Tochter macht sich Gedanken über ihre künftige Schule und sagt auf Arabisch: „Ich werde nicht Deutsch lernen, sondern Österreichisch.“
Im Wohnzimmer besprechen die Männer die nächsten Schritte. Beim AMS um die Erhöhung der Mindestsicherung auf Familienniveau ansuchen, Schulplätze für die Kinder finden, den Arbeitsmarkt durchforsten. Die Männer im Raum haben bereits Erfahrung darin.
Auf Herbergssuche in der neuen Heimat
Die Familie von Idris ist vergleichsweise gut untergebracht. Der Teppich und die Vorhänge hat er seit dem ersten Besuch von profil erneuert. Ein Stockbett steht dort, wo zuvor die Koffer der Cousins lehnten. Nicht alle Familien können nach Ankunft sofort in den eigenen vier Wänden leben. Und manche Wohnungen sind für Familien unzumutbar. Von Schimmel befallen, bei Regen unter Wasser, schmutzige Matratzen am Boden – mit schockierenden Bildern berichtete der „ORF-Report“ über skrupellose Vermieter, die Flüchtlinge ausbeuten.
Am privaten Wohnungsmarkt ist es für Väter, die von Mindestsicherung oder einfachen Jobs leben, schwer, eine angemessene Wohnung zu finden. Sie wohnen oft noch in Wohngemeinschaften mit Verwandten und Bekannten, wenn die Familie bereits in Österreich ist. Günstige Gemeindewohnungen bleiben versperrt. Es gilt eine fünfjährige Wartefrist.
"Das Geschäft mit dem Leid"
Der ORF-Report deckt das Geschäft skrupelloser Vermieter mit Flüchtlingen auf
Der Vater der fünfköpfigen syrischen Familie Alkatib hatte beim Anmieten bereits die erhöhte Mindestsicherung für die Familie einberechnet – sie sollte von 1150 Euro für ihn allein auf 2750 Euro für die gesamte Familie steigen. Im Februar stellte er den Antrag beim AMS Wien und mietete eine Wohnung. Doch das AMS prüft seinen Antrag nach wie vor. Und die Familie kann sich die Wohnung nicht mehr leisten. Die Vermieterin hat rasch die Geduld verloren. Die Familie steht kurz vor der Delogierung.
In Österreich landet keine Familie auf der Straße. In Flüchtlingsquartieren der Caritas oder der Volkshilfe können Mütter und Kinder die ersten Monate verbringen. Sobald auch sie ihren Asylbescheid haben, dürfen sie noch vier Monate in den Quartieren bleiben. Dann müssen sie raus.
Haben ihre Männer auch dann noch keine eigene Wohnung für die Familie angemietet, kommen Frauen und Kinder in Übergangswohnungen unter. Caritas Wien und Volkshilfe verfügen über insgesamt 600 Mietwohnungen, die sie Menschen in Wohnungsnot zu einem günstigen „Sozialtarif“ untervermieten. In Wohnungen der Caritas sind aktuell 64 Flüchtlingsfamilien untergebracht. Dort können sie drei Jahre bleiben. Die Caritas-Wohnungen sind schon jetzt zu 95 Prozent belegt.
Väter auf Achse für die wiedervereinte Familie
Am Rande des 14. Wiener Bezirks Penzing hinter dem Shopping-Center Auhof liegt das Caritas-Flüchtlingsquartier „Emma“. Vor dem Eingang des schmucklosen Kastenbaus stehen Kinderwägen. Hier sind Ukrainerinnen mit Kindern und Großeltern untergebracht. Aber auch fünf syrische Familien, die gerade mit ihren Vätern zusammengeführt werden. Einer von ihnen ist der 43-Jährige Mahmoud. Seine Ehefrau Loryn (32), seine Söhne (8, 13) und seine Tochter (3) leben hier im Haus „Emma“. Die Tochter war erst sieben Monate alt, als der Kurde sein Dorf in Nordsyrien verließ. Wie viele Syrer dürfte er als Asylgrund angegeben haben, dass er nicht für die Armee des Diktators Baschar al-Assad kämpfen wolle. Östereich gewährte ihm Schutz. Drohen bei Wehrdienstverweigerung im Herkunftsland unmenschliche Strafen, ist das in Österreich ein gängiger Asylgrund.
Endlich Wien, noch ohne Wohnung
Der Syrer Mahmoud kam 2021 nach Wien und hat seine Familie nachgeholt. Sie wartet im Caritas-Haus, bis er eine Wohnung aufgestellt hat.
Nun warten Frau und Kinder darauf, dass Mahmoud eine passende Wohnung findet. Zwischen der Suche auf „Willhaben“ erledigt er Behördenwege für die Familie, kauft ein und bringt die Kinder in die Schule. Seine Arbeit als Maler und Anstreicher lässt er vorübergehend ruhen. Selbst wohnt er in einer WG mit mehreren Cousins. Auch seine zwei Brüder leben seit fast zehn Jahren in Österreich, hatten aber keinen Platz für ihn – wegen der eigenen Familien.
Am anderen Ende des weitläufigen Bezirks liegen sogenannte Orientierungsklassen. Der Vater bringt seine Söhne täglich hin und holt sie wieder ab. Dort lernen sie zwei Monate lang, wie Schule überhaupt funktioniert. Denn in der Heimat hielt die Mutter ihre Söhne vom Unterricht fern. Sie sagt, sie habe Angst gehabt, dass kurdische Milizen die Burschen frühzeitig rekrutieren. Nach den Orientierungsklassen werden sie an andere Schulen der Stadt wechseln. Gut möglich, dass sie in einer mobilen Container-Schule landen werden.
Schulcontainer als Sinnbild für Wiener Wachstumsschmerz
Wegen des Zuzugs steigt die Klassenhöchstzahl in Volksschulen derzeit deutlich an – im Bezirk Favoriten fallweise auf bis zu 29 Schülerinnen und Schüler. Damit übervolle Klassen nicht in der ganzen Stadt Schule machen, hat Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr von den NEOS mobile Container-Schulen angeordnet, mit je neun Klassen an fünf Standorten für insgesamt 1225 Kinder und Jugendliche. Die Wahl fiel auf Favoriten, Simmering, Floridsdorf, Donaustadt, Liesing, wo es Migranten verstärkt hinzieht. Kosten: 14 Millionen Euro.
Containerklassen im Randbezirk
Vier Volksschulen und eine Mittelschule werden um je neun Containerklassen erweitert.
Damit ist es aber noch nicht getan. Denn viele Kinder müssen erst lernen, was Schule überhaupt bedeutet. Die Orientierungsklassen sind mit zwei Monaten sehr knapp bemessen, um das aufzuholen. In ehemaligen Kriegsgebieten oder Flüchtlingslagern blieb ihnen das oft verwehrt. „Mein neuer syrischer Schüler konnte den Stift anfangs nicht richtig halten. Ein anderer schläft regelmäßig ein“, erzählt eine Wiener Volksschuldirektorin, „weil er im Flüchtlingslager keine Tagesstruktur hatte.“
Nach den Orientierungsklassen starten die Flüchtlingskinder als „außerordentliche Schüler“ und besuchen separate Deutschförderklassen. Zumindest ein Jahr oder länger werden sie nicht benotet und müssen meistens Klassen wiederholen. Dadurch steigt der Platzbedarf zusätzlich, weil ein Rückstau an den Schulen entsteht. Und es steigt die Zahl an Schülern, die deutlich älter sind als der Klassendurchschnitt. Das birgt Frustpotenzial für Jugendliche, Mitschüler und Lehrer. Deswegen kündigt Wiederkehr nun ein Pilotprojekt für eigene Klassen an, in denen Schüler gesammelt werden, die deutlich älter als ihre Schulstufe sind. Ein neuer Weg.
„Nein zum Container! Lassen uns Sportplatz nicht nehmen“
Diese Klassen kann der NEOS-Stadtrat mit weniger Gegenwind eröffnen als die neuen Schulcontainer. Denn dagegen hat sich Widerstand formiert. Vor allem in der Volksschule Rittingergasse in Wien-Floridsdorf und der Mittelschule Afritschgasse in Wien-Donaustadt. Die Mittelschule lag früher in einer fast dörflichen Gegend Wiens. Siedlungen mit Einfamilienhäusern, Blick auf Felder, hinter der Schule ein weitläufiger Sportplatz, der nach Schulschluss für alle offen stand. Doch die Donaustadt wuchs in den vergangenen zehn Jahren um 40.000 Bewohner auf weit über 200.000. Der größte Bezirk Favoriten ist in Reichweite.
2016 bekam auch die Mittelschule einen Zubau. 340 Jugendliche besuchen seither die Schule. Ab September steigt die Schülerzahl sprunghaft an: auf 565. Wegen neun Containerklassen. Wiederkehr hat gemeinsam mit der Bildungsdirektion beschlossen, dass sich der Sportplatz bei der Schule dafür eignet.
© Clemens Neuhold
Elternfront gegen Schulcontainer
In der Mittelschule Afritschgasse in der Donaustadt kämpft der Elternverein mit dem Direktor (Mitte) gegen Schulcontainer am Sportplatz
Elternfront gegen Container am Sportplatz
In der Mittelschule Afritschgasse machen die Elternvertreter gegen mobile Schulen am Sportplatz mobil - mit dem Direktor (Mitte)
Direktor Mario Matschl will davon erst am 7. März über die ORF-Sendung „Wien heute“ erfahren haben. Bereits am Tag nach der Sendung wurden Elternverein und Klassensprecher aktiv. Schüler begannen, Transparente zu basteln, die nun am Zaun rund um den Sportplatz hängen. „Sportplatz statt Container“, „Wir brauchen Luft und Bewegung!“, „Herr Wiederkehr, nehmen Sie uns nicht unseren einzigen Sportplatz weg!“, steht darauf geschrieben. Durch die Transparente und die Fernsehberichte wurden auch die Anrainer aufmerksam. Manche sollen in der Schule nachgefragt haben, ob Flüchtlinge nach Unterrichtsschluss in den Containern auch wohnen, so groß war die Verunsicherung.
Am 13. März organisierte der Elternverein eine erste Demonstration mit 150 Teilnehmern. Die nächste soll deutlich größer werden. „Wir werden das verhindern. Koste es, was es wolle“, gibt sich Obmann Manuel Kiessling kämpferisch. „Wir kämpfen nicht gegen Flüchtlinge, sondern für den Erhalt der letzten Freifläche weit und breit“, betont er. Eltern und Anrainer hätten aber sehr wohl auch Sicherheitsbedenken und Angst vor zu vielen Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen. Die zuletzt fast täglichen Berichte über Vergewaltigungen und Messerstechereien in Favoriten, begangen durch jugendliche Täter mit Migrationshintergrund, verstärken diese Ängste.
„Standorte sind fix und alternativlos“
Stadtrat Wiederkehr ist zu keinen Kompromissen bereit. „Die Standorte sind fix und alternativlos“, sagt er im profil-Interview. Sonst müsse die Schülerzahl pro Klasse an anderen Standorten auf 30 steigen. Der Afritschgasse richtete die Bildungsdirektion aus, dass der Sportplatz durch die mobilen Klassen nur minimal beeinträchtigt werde. Sie seien außerdem keinesfalls nur für Flüchtlinge konzipiert. Wie hoch deren Anteil pro Standort sein wird, lässt man aber offen.
War der Nachzug von Kindern aus Syrien, aber auch Afghanistan oder Somalia nicht absehbar? Ja, schon, sagt Wiederkehr. Doch zusätzlich 4000 Kinder aus der Ukraine ab 2022 hätten einen Strich durch die Berechnungen gemacht.
"Sonst bis zu 30 Kinder in Klassen"
Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr von den Neos rückt trotz Demos nicht von Container-Plänen ab
Schwenk in die Volksschule Rittingergasse in Wien-Floridsdorf. Hier ist noch mehr Vorstadtidylle erhalten geblieben. Dafür ist die grüne Freifläche der Schule deutlich kleiner, und die Container werden einen größeren Teil davon verschlingen. Die Schülerzahl an diesem Standort wird sich durch die mobilen Klassen fast verdoppeln. Auch hier hängen im Schulgebäude bereits von Kinderhand gemalte Plakate: „Wir WOLLEN das Unsere Schule Nicht So Ferendert Wirt!!!!“
Direktorin Barbara Zika plagt neben dem drohenden Platzverlust im Garten und im Speisesaal ab Herbst eine andere Sorge: „Welche Lehrer werden in den neuen Klassen unterrichten? Mir fehlen bereits drei Lehrer für Herbst – ohne Container.“ Sollten tatsächlich auch Flüchtlingskinder in größerer Zahl kommen, brauche es zusätzlich Übersetzer, Sozialarbeiter, Psychologen. „Den Umgang mit Kindern aus Kriegsgebieten ohne Lernerfahrung bringen neue Lehrer aus dem Studium nicht mit. Und Quereinsteiger schon gar nicht.“
Ohne Kindergartenplatz keine Mindestsicherung
Ein Teil ihrer Lehrer pendelt aus Niederösterreich in die Wiener Rittingergasse. Sie schließt nicht aus, dass einzelne an niederösterreichische Schulen zurückwechseln, schildert Zika. Denn auch dort ist der Lehrermangel groß. Ein Kind wurde wegen der Container abgemeldet und geht nun in eine private Schule. Eine andere Mutter habe sich wegen eines Schulplatzwechsels erkundigt. Am 19. März fand auch hier eine Anti-Container-Demo statt, mit Volksschulkindern und ihren Transparenten in der ersten Reihe. Zur Verstärkung war der Elternverein aus Donaustadt angereist.
In den Kindergärten der Stadt ist die Lage entspannter. Sie wurden in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut. Eine Arabisch-Dolmetscherin berichtet jedoch von syrischen Frauen, die in Favoriten keinen Platz mehr im Kindergarten fanden, weder öffentlich noch privat. Nun haben sie ein Problem mit der Mindestsicherung. Wer sie beantragt, muss sich beim AMS als arbeitssuchend melden und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen – was ohne Kinderbetreuungsplatz nicht geht. Kein Kindergartenplatz, keine Mindestsicherung für sie. Für eine fünfköpfige Familie macht der Unterschied 1800 statt 2700 Euro aus.
Viele syrische Eltern sind noch jung: „Wir lieben Kinder“
Idris kennt einige syrische Familien, die nun nachziehen. Mit sechs, acht oder sogar zehn Kindern. „Wir lieben Kinder.“ Ein seltener Spezialfall sind Männer mit zwei Frauen. Auch damit bekamen es die Asylbehörden bereits zu tun. Anerkannt wird nur die erste Ehe, nachziehen dürfen aber auch die Kinder der Zweitfrau. Sie selbst muss anders nachziehen.
Solche XL-Zusammenführungen sind die große Ausnahme. Laut Rotem Kreuz ist eine Frau mit zwei bis drei Kindern der gängige Fall. Die meisten Väter, die Familien nach Österreich nachholen, sind statistisch zwischen 20 und 30 Jahre alt. Gut möglich, dass die Familien in Österreich noch weiter wachsen.
Familien statt alleinstehender Männer. Das kann der Integration guttun. Andererseits verstärken sie den Druck auf bereits bekannte Problemstellen. Auf Schulen, die bereits an Personalnot leiden. Auf den Wohnungsmarkt, der immer teurer wird. Die Angst vor Jugendkriminalität. Ein fruchtbarer Boden für Konflikte und Polarisierung.
Auch innerhalb der Community führt der Familiennachzug zu einem Verdrängungseffekt. Der 27-jährige Firas mag sein WG-Zimmer im 20. Bezirk. Doch nun haben ihm seine syrischen Mitbewohner mitgeteilt, dass er das Feld räumen muss. Der Bruder eines Mitbewohners braucht dringend eine größere Wohnung für seine Familie, die bald vor der Tür steht.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.