Johanna Mikl-Leitner im Wahlkampf: "Rennen Rennen Rennen"
"Ich bin die Modeberaterin", steuert Johanna Mikl-Leitner quietschvergnügt auf ein junges Paar im Mode-Diskonter zu, hakt sich bei beiden unter. "Ihr Hund merkt, dass ich auch einen habe", plaudert sie mit der Hundebesitzerin. "Ich wollte nur Hallo sagen! Seid ihr Zwillinge? Ich habe auch eine Zwillingsschwester", erzählt sie Mutter und Töchtern bei der Drogeriemarkt-Kasse. Mikl-Leitner im Nah-Wahlkampf. Im Eilzugstempo pflügt sie durch ein Einkaufszentrum in Wiener Neustadt, der zweitgrößten Stadt Niederösterreichs. Schüttelt Hände, verteilt Sackerl, bittet, zur Wahl zu gehen. Bei Fernsehinterviews kann Mikl-Leitner steif und gestelzt wirken, der Nahkampf ist ihr Terrain. Sie beherrscht die Politkunst, binnen Sekunden eine Gesprächsebene zu Fremden herzustellen. Sie herzt, sie charmiert, sie kumpelt, sie kann ansatzlos in schallendes Gelächter ausbrechen. Im Wirtshaus "Brauhaus" plaudert sie sich von Tisch zu Tisch, beim Besuch im Sägewerk hat sie alles im Griff, inklusive den Unterarm des Geschäftsführers. Berührungsängste sind Mikl-Leitner fremd, Abgehobenheit auch. Ihr Ton ist stets jovial, gelegentlich mit einem Schuss ins Herbe: "Schöne Männer merke ich mir", flachst sie einen Herrn an. Und nimmt ihn um die Schulter für ein Selfie.
"Warum ist es Ihnen wichtig, alle Bezirke Niederösterreichs zu besuchen?", will die Reporterin des TV-Senders wntv von Mikl-Leitner wissen. Derart hammerharte Fragen sind Routine, kritische Medien die Ausnahme, davon zeugt die Affäre um den ORF Niederösterreich. Zum Strudel der Korruptionsvorwürfe gegen die ÖVP muss Mikl-Leitner kaum Antwort stehen, sie überzieht das Land mit Wohlfühlterminen. Etwa zum "Radland",bei dem der deutsche Ex-Skirennfahrer Felix Neureuther neben ihr im obersten Stock des Landhauses im leicht überdimensionierten Regierungsviertel steht und Mikl-Leitner mit ausladenden Handbewegungen den Wert des Radfahrens preist. Neureuther ist jetzt "Radbotschafter" Niederösterreichs. Der ORF Niederösterreich berichtet.
Die Kleinstadt Ybbs im Mostviertel, ein unwirtlicher Parkplatz zwischen Monteurgeschäft, "Futterhaus" und Einkaufszentrum. Es wird dunkel, ein eisiger Wind pfeift. Doch Mikl-Leitner versprüht blendende Laune: "Ich freue mich riesig, dass ich in Ybbs sein kann",ruft sie aufgekratzt dem Häufchen ÖVP-Funktionären zu, das sich vor der mobilen Holzbühne am Parkplatz versammelt hat. Passanten sind hier nicht anzutreffen, Mikl-Leitner munitioniert die Funktionäre auf. "Das Match ist angepfiffen, mit ungewissem Ausgang. Es wird eine Schicksalswahl, in Umfragen kommen FPÖ und SPÖ gemeinsam auf 47 Prozent. Es steht alles auf dem Spiel", warnt sie eindringlich. Die ÖVP wird wohl die absolute Mehrheit verlieren, hat dennoch bei der Wahl kaum nennenswerte Gegner, auch deswegen müssen ÖVP-Kandidaten gegeneinander rittern, wer mehr Vorzugsstimmen und damit ein Mandat bekommt. Mikl-Leitner zeichnet ein Gruselszenario: "Wer Blau und Rot kennt, weiß, dass sie alles tun, um unseren Weg des Miteinander zu beenden. Es geht darum, ob Blau-Rot regiert." Für den "Weg des Miteinander", der bei jedem Auftritt beschworen wird, steht in der ÖVP-Diktion die ÖVP, wer sonst. Klingt wohliger als absolute Mehrheit, passt auch besser zu Mikl-Leitner: Vorgänger Erwin Pröll nutzte seine Machtfülle für Brutalität, Mikl-Leitner kuschelt die politische Konkurrenz handzahm.
Die 5618-Einwohner-Stadtgemeinde Ybbs ist für niederösterreichische Verhältnisse nervenzerfetzend umkämpfter Battleground, bei der Landtagswahl 2018 kam die ÖVP mit 40 Prozent fünf Prozentpunkte vor der SPÖ zu liegen, in der Gemeinde regiert eine SPÖ-Bürgermeisterin. Im Bäckerei-Café "Haubi" erstummen dennoch alle Gespräche ehrfürchtig, als Mikl-Leitner von Tisch zu Tisch stapft, Hände schüttelt, sich Kinderfotos zeigen lässt. An einem Tisch sitzt Gertrude Gusenbauer, die betagte Mutter von Ex-SPÖ-Kanzler Alfred Gusenbauer. Auch sie entkommt Mikl-Leitner nicht, bekommt die Hand auf den Arm gelegt, Blick zu den Fotografen. "Ich wahlkämpfe", sagt Mikl-Leitner. Gusenbauer antwortet trocken: "Das habe ich mir gedacht."
Die Inszenierung ist bombastisch: 3200 Gäste sitzen dicht gedrängt im riesigen Veranstaltungszentrum am Rande der Hauptstadt St. Pölten, Schock-Videos zeigen Krieg und den Rest der unruhigen Welt, dann strahlt sanftes Licht-und Mikl-Leitner wandert mit Du-Freundin Vera Russwurm über alle drei Bühnen. Der Wahlkampfauftakt ist ganz auf die Landeshauptfrau zugeschnitten. Doch sie ackert sich trocken durch Teuerung, Klimakleber und Energiesicherheit, donnert hölzern und überzogen pathetisch "Es geht um alles" in die Menge. Die große Rede ist nicht ihr Metier, einen Saal voller Mikl-Leitner-Gegner würde sie wohl nicht überzeugen. Aber ein Saal voller Mikl-Leitner-Gegner ist in Niederösterreich ohnehin kaum zu finden.
Ein Büro wie ein Fan-Shop. Zwei "I love Niederösterreich"-Becher. Drei Mikl-Leitner-Plakate. Zwei Kinder-Österreich-Plakate. Ein Mikl-Leitner-Foto. Zwei My-Partei-Wimpel. Ein Familien-Österreich-Plakat. Alles in Blau-Gelb, versteht sich. Mittendrin in seinem Büro im ÖVP-Parteihaus "Haus 2.1" am Rande des Regierungsviertels in St. Pölten sitzt Bernhard Ebner, der so hemdsärmelige wie machtbewusste ÖVP-Landesgeschäftsführer. Er ist dafür verantwortlich, dass das mit 19.000 Quadratkilometern größte Bundesland fast so wirkt wie sein Büro-möglichst flächendeckend mit ÖVP-Niederösterreich-Fanartikeln überzogen. Die Video-Anleitung, wie man ein "I Love NÖ"-Holzgestell (vulgo "Landschaftselement") zusammenbaut und in die Wiese stellt, hat Ebner im Stil der Heimwerker-Comedy "Hör mal, wer da hämmert" gepostet.
Die Grenzen zwischen Land und Partei verschwimmen bewusst, Blau-Gelb ist Landesfarbe und Parteifarbe der ewig regierenden ÖVP Niederösterreich, egal ob die Bundes-ÖVP gerade türkis oder schwarz ist. Und die blau-gelbe Welle rollt, getragen von der Masse an 220.000 Parteimitgliedern, 20.000 Funktionären, 452 Bürgermeistern, 7000 Gemeinderäten, 335 Kandidaten. Derart wuchtige Parteiorganisationen existieren nirgendwo sonst, nicht in Österreich, nicht in westlichen Demokratien. "Wir haben in jeder Gemeinde eine Struktur", erzählt Ebner stolz. Wer die Maschinerie der ÖVP Niederösterreich zu organisieren hat, lernt das Spiel von Politik und Macht von der Pike auf. Niemand weiß das besser als Johanna Mikl-Leitner: Landesgeschäftsführerin der ÖVP Niederösterreich war ihr erster Spitzen-Polit-Job. Die Härte von damals hat sie nicht mehr notwendig, das erledigen andere für sie. In dem Wissen kann Mikl-Leitner getrost die herzliche Landesmutter geben.
Wiener Neustadt, traditionsreiche 40.000-Einwohner-Industriestadt, einst SPÖ-Bastion, seit 2015 dominiert hier die ÖVP. Am Stadtrand nahe dem Flugfeld residiert der Flugzeugbauer "Diamond Aircraft".
In der großen Werkshalle stehen Kleinflugzeuge, ein paar Dutzend Mitarbeiter in Arbeitshosen und vorn am Rednerpult Geschäftsführer Johannes Frauenberger. Er trägt wie selbstverständlich einen Mikl-Leitner-Schal um den Hals. Derartig demonstrative Nähe zwischen Politik und Wirtschaft gehört in Niederösterreich zum Alltag. Mikl-Leitner hält es nicht lange am Rednerpult, sie preist kurz die blau-gelben Anti-Teuerungs-Zahlungen, von der Schulstarthilfe bis zum Pendlergeld, stiefelt dann energisch durch die Halle. Schüttelt Hände, plaudert: "Wo kommen Sie her? Ah, aus Bad Fischau-Brunn, ihr habt so ein schönes Jugendstilbad! Mir ist's zu kalt, ich steck dort nur die Zehen hinein." Besonders zielstrebig steuert sie auf die wenigen Frauen zu. "Wie geht's euch in der Männerwelt da?",fragt Mikl-Leitner. "Ich bin es als Tischlerin nicht anders gewohnt", erzählt eine Frau. "Zusammenhalten!", drückt Mikl-Leitner beide an den Schultern. Sie wolle "Frauen Mut machen",sagte sie einmal. Politisch wurde sie unter lauten, polternden Männern sozialisiert-und hat sich einen gewissen Feminismus ertrotzt. Im Jahr 2000 schrieb sie in der Festschrift im 55-Jahr-Jubiläum der ÖVP Niederösterreich keck über "private und berufliche Diskriminierung" von Frauen, besteht darauf, "Landeshauptfrau" genannt zu werden, und will "Vorbild für Frauen sein".Im Wahlkampf trommelt sie den Ausbau von Kindergärten, traditionell eigentlich ein SPÖ-Thema. Das ist Pragmatikerin Mikl-Leitner herzlich egal. Einen Slogan dazu hat die blau-gelbe PR-Maschine selbstredend gefunden: Niederösterreich soll "Kinderösterreich" werden.
Ein glitzernd-modernistischer Showroom mit 360-Grad-LED-Band dominiert das "Haus der Digitalisierung" in Tulln, einer 16.500-Einwohner-Stadt im Wiener Speckgürtel. Mikl-Leitner eröffnet die Ausstellung "Mensch und Maschine". Und beginnt ihre Rede mit den Standardsätzen: "Die Welt ist im Umbruch. Wir in Niederösterreich können keinen Beitrag leisten, wie es in der Welt weitergeht." Nach Schritt 1 (Welt der Krisen weit weg weisen) Schritt 2: Distanz zur Bundespolitik: "Wir heben uns wohltuend ab, wir pflegen das Miteinander. "Dann gibt Mikl-Leitner hier, wie überall, die unprätentiöse Landeshauptfrau zum Angreifen, plauscht sich durch die Eröffnungsfeier. Und verabschiedet sich von ÖVP-Funktionären mit ihrem Standardappell: "Jetzt heißt es rennen, rennen, rennen!"
Fotos von Michael Rausch-Schott