Jugendliche Asylwerber in Österreich: Teenager im Container
Von Moritz Ablinger und Clemens Neuhold
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Eine Flüchtlingsunterkunft mit 100 unbegleiteten Minderjährigen in Korneuburg bei Wien. Das Quartier befindet sich am Rand der 12.000-Einwohner-Stadt. Gegenüber liegt ein Discount-Supermarkt, daneben eine Selbstbedienungstankstelle. Junge Burschen aus Syrien, Somalia oder Afghanistan gehen außerhalb der Nachtruhe zwischen 6 und 22 Uhr frei ein und aus. Die Unterkunft, die von der Bundesbetreuungsagentur (BBU) im Auftrag des Innenministeriums verwaltet wird, ist immerhin kein Gefängnis. Dennoch heißt es: Betreten verboten. Vor allem für Journalisten. Nur eine schmale Tür gewährt Einblicke. Grünlackiertes Stiegengeländer, Rezeption, ein Getränkeautomat, um den sich junge Burschen versammeln. Andere unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (im Fachjargon „UMF“ genannt) gehen zum nahen Supermarkt oder schauen, was in der Stadt los ist. Die Stimmung ist gelöst. Ein Bursch winkt aus dem Fenster und zeigt den erhobenen Daumen.
„UMF“: Die Abkürzung wurde in den vergangenen Wochen wieder einmal Chiffre für alles, was schiefläuft im Asylland Österreich. Konkret sind Massenquartiere für junge Flüchtlinge seit Ende Dezember 2023 in aller Munde. Das liegt nicht an Korneuburg, sondern an Steyregg.
In der Gemeinde im Speckgürtel von Linz hatten in einem ehemaligen Hotel, das zu einem Flüchtlingsquartier des Bundes umgebaut wurde, männliche Bewohner über die Weihnachtsfeiertage Radau gemacht. Sie lösten wiederholt den Feueralarm aus, hielten die Freiwillige Feuerwehr zum Narren. Als am 27. Dezember tatsächlich ein Müllcontainer brannte, mutmaßlich entzündet von einem oder mehreren der 120 dort wohnhaften Jugendlichen, veranstalteten sie einen Feuertanz und behinderten die Löscharbeiten. Vor Feuerwehrfrauen sollen sie sich machohaft aufgebaut haben.
Was folgte, war die übliche Abschiebedebatte, die ins Leere lief. Denn nach Syrien, Afghanistan oder Somalia kann derzeit niemand deportiert werden, doch aus diesen Ländern stammen die jungen Flüchtlinge meist. Also wurden vermeintliche Rädelsführer innerhalb Österreichs weitergeschoben, in andere Massenquartiere des Bundes.
Massenquartiere, die es so nicht geben sollte
Im vergangenen Jahr gab es in den Flüchtlingsheimen für Jugendliche Anzeigen wegen Raufhandels, Sachbeschädigung, Fehlalarmen. In der Nacht auf Donnerstag soll die Polizei auch in Steyregg wieder wegen einer Rauferei ausgerückt sein.
„Mich wundert, dass nicht schon mehr passiert ist.“ Dieser Satz ist bei Recherchen öfter zu hören, von Beamten oder Flüchtlingshelfern, die seit Jahren Einblicke in Massenquartiere haben. Neben Korneuburg und Steyregg sind UMF in Reichenau oder im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen – beides in Niederösterreich – untergebracht. Drohen in den anderen drei Unterkünften ähnliche Eskalationen wie in Steyregg? Warum spitzt sich die Situation mit jungen Flüchtlingen zu, wenn doch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) seit Monaten von einer deutlichen Entspannung im Asylwesen spricht?
Weil UMF in den Bundesländern besonders ungewollt sind und monatelang in Massenquartieren des Bundes festhängen, die es laut den Buchstaben des Gesetzes so gar nicht geben sollte.
Wegen Steyregg tagte am Donnerstag ein Sicherheitsgipfel in Linz. Die Fronten waren vorab verhärtet. Während sich das Innenministerium um Verständigung bemühte und eine lückenlose Aufklärung ankündigte, forderte SPÖ-Bürgermeister Gerhard Hintringer die Schließung der Unterkunft. Als Kompromiss wird die Zahl der Securities auf fünf erhöht und die Belegung von 100 auf 60 Personen reduziert. Dabei war die UMF-Unterkunft erst im Sommer 2023 eröffnet worden, nachdem Proteste gegen eine andere Massenunterkunft in Wien zu groß geworden waren.
Quartier auf, Proteste, Unterkunft zu, nächster Standort. Diese Geschichte wiederholt sich seit Jahrzehnten. Die Gruppe der UMF wird wie eine heiße Kartoffel innerhalb Österreichs weitergeschoben.
„Wir behalten die unbegleiteten Minderjährigen dann natürlich weiter bei uns, die Alternative wäre Obdachlosigkeit“
Die meisten ziehen weiter
Dabei ist die Gruppe überschaubarer, als es die aufgeheizte Debatte vermuten ließe: 5000 unbegleitete Minderjährige stellten im Jahr 2023 einen Asylantrag in Österreich. 95 Prozent von ihnen waren männlich, der überwiegende Teil zwischen 14 und 18 Jahren. Mehr als die Hälfte stammte aus Afghanistan, ein weiteres Viertel aus Syrien, der Rest aus Ländern wie Marokko.
Doch: Im vergangenen Jahr wurden bei 5000 Asylanträgen rund 4000 wieder eingestellt. Die Jugendlichen waren abgetaucht und meist in andere Länder weitergezogen. Von 2000 jungen Asylwerbern, deren Verfahren gerade läuft, leben beinahe drei Viertel in Einrichtungen der Bundesländer. Bleiben 570 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, die in einem der vier Großquartiere des Bundes untergebracht sind. Warum werden sie nicht schneller aufgeteilt, bevor die Luft, wie in Steyregg, zu dick wird?
„14 Tage nach Zulassung zum Asylverfahren sollten die Bundesländer die Obsorge für UMF übernehmen und Einrichtungen für sie organisieren“, sagt der Sprecher der Bundesbetreuungs-Agentur, Thomas Fussenegger. Wöchentlich bietet die Agentur den Ländern konkrete Personen zur Übernahme an. Lehnen diese dankend ab, sind vom Gesetzgeber keine Sanktionen vorgesehen. „Wir behalten sie dann natürlich weiter bei uns, die Alternative wäre Obdachlosigkeit“, sagt der Sprecher.
© Clemens Neuhold
Zwei Wochen nach Zulassung zum Asylverfahren sollten die Bundesländer minderjährige Flüchtlinge in ihre Obhut übernehmen – wie hier in eine WG in Wien-Donaustadt.
Zwei Wochen nach Zulassung zum Asylverfahren sollten die Bundesländer minderjährige Flüchtlinge in ihre Obhut übernehmen – wie hier in eine WG in Wien-Donaustadt.
Die Ex-„Horror-WG“
Eigentlich sollte es überall so ausschauen wie in einer modernen Siedlung in Wien-Donaustadt. Hier betreibt die Caritas eine kleine Wohngemeinschaft für unbegleitete Flüchtlinge im Auftrag der Stadt Wien. Die Erdgeschosswohnung gewährt einen Blick auf die S-Bahn-Station Hirschstetten und die noch unverbauten Felder dahinter. Eine Stadtrandidylle, von der 2021 noch nichts zu spüren war. „Horror-WG“ überschrieb die „Kronen Zeitung“ ihre Berichte über Vandalismus, Drogendeals, Feuer-Fehlalarme, vermeintlich begangen von WG-Bewohnern in der Obhut der Kinder- und Jugendhilfe (keine Flüchtlinge).
Nun schaut es hier nach Muster-WG aus. Nachbarskinder kämen zum Spielen vorbei, sagt die Einrichtungsleiterin für UMF-Quartiere der Caritas Wien, Mirela Merić. Der 16-jährige Afghane Zabiullah gibt eine Zimmerführung. Er hat in der Obhut der Caritas die Pflichtschule abgeschlossen und macht eine Ausbildung an einer Fachschule für Sozialberufe. Sein Deutsch ist passabel. „Zabiullah kam bald nach seiner Ankunft in Wien zu uns. Ein anderer Bursch in unserer zweiten Caritas-WG harrte davor über ein Jahr in einem Bundesquartier aus. Er spricht noch immer nur rudimentär Deutsch und wirkt entwurzelt. Die ersten Monate sind schon sehr entscheidend“, sagt Merić.
Junge Flüchtlinge waren vor ihrer Ankunft in Österreichs teils Jahre unterwegs. Sie lebten in Verhältnissen, die zur Verrohung führen können. Das birgt Konfliktpotenzial. Doch kleine Unterkünfte, in denen das frühzeitig erkannt wird, sind Mangelware.
In aller Regel bringen Trägerorganisationen wie SOS Kinderdorf die Jugendlichen unter und versorgen sie. Dafür bekommen sie pro UMF seit 2016 unverändert 95 Euro am Tag. Das reicht nicht.
Ein kühles Njet ohne Konsequenzen
Wien ist das einzige Bundesland, das aktuell die vorgeschriebene Quote bei der Unterbringung von UMF erfüllt. In Oberösterreich gibt es beispielsweise neben dem Massenquartier in Steyregg nur vier kleinteilige Unterkünfte, heißt es aus dem Büro des zuständigen Landesrates Wolfgang Hattmannsdorfer (ÖVP). Inklusive Steyregg seien 233 UMF im Bundesland untergebracht. Ein Zahlentrick, denn Steyregg ist in der Sphäre des Bundes.
In Salzburg leben ganze 55 UMF, die sich auf 17 kleine Standorte verteilen. Ein Sprecher des zuständigen Soziallandesrates Christian Pewny (FPÖ) sagt auf profil-Anfrage: „Es ist eine Frage der sozialen Verträglichkeit.“ In seinem Bundesland gebe es „keinen weiteren Bedarf zur Aufnahme“.
Der Satz ist sinnbildlich. In den meisten Bundesländern hat sich die Praxis etabliert, die Übernahme von UMF aus der Bundesbetreuung auf die lange Bank zu schieben und möglichst auszusitzen. In der Hoffnung, dass die Jugendlichen weiterziehen oder noch im Bundesquartier volljährig werden. Dann nämlich erlöschen ihre zusätzlichen Rechte.
Im Unterschied zu Erwachsenen haben minderjährige Asylwerber einen Rechtsanspruch auf eine Unterbringung außerhalb von Massenquartieren, und sie dürfen, sobald sie einen Asylstatus haben, ihre teils sehr kinderreichen Familien theoretisch nachholen, bevor sie 18 werden.
Das Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen (BFA) kann Asylwerber von sich aus für volljährig erklären. Denn nicht wenige Flüchtlinge schummeln beim Alter, weil sie sich bessere Chancen auf Asyl ausrechnen. Schlepper raten offensiv dazu. Das Innenministerium führt bei Verdacht auf Volljährigkeit vor dem Asylverfahren eine Altersfeststellung durch, unter anderem mittels Handwurzelröntgen. 2023 geschah das in 900 Fällen. 58 Prozent der vermeintlich Minderjährigen erwiesen sich dabei als volljährig.
Es gibt keinen Bedarf für die Aufnahme von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen.
Eine Frage des Geldes
Abseits der generellen Ablehnung von jungen Asylwerbern in einzelnen Bundesländern, spielt Geld eine wichtige Rolle. „Die Übernahme in die Landesgrundversorgung wird von den Ländern oft auch deswegen verweigert, weil es nicht genug Plätze gibt“, sagt Lukas Gahleitner von der Asyl-Koordination. „In aller Regel bringen Trägerorganisationen wie SOS Kinderdorf die Jugendlichen unter und versorgen sie. Dafür bekommen sie pro UMF seit 2016 unverändert 95 Euro am Tag. Das reicht nicht. Und auf den verbliebenden Kosten wollen sie nicht sitzen bleiben.“
Finanzielle Engpässe waren beispielsweise der Grund, warum das „Clearing House“ von SOS Kinderdorf in der Stadt Salzburg im Sommer sein Angebot für UMF reduzierte. Statt 30 Jugendlichen werden dort seit Juli nur mehr 24 betreut. Auch die Caritas kennt solche Probleme. Die Vorbild-WG im 22. Bezirk profitiert davon, dass sie für Kinder mit und ohne Fluchthintergrund unter 14 Jahren ausgelegt ist. Deshalb steht ihr der doppelte Tagsatz pro Kind zu – auch nach dem 14. Geburtstag. Die Räumlichkeiten stellt die Stadt zur Verfügung. Dennoch bleibe nach Abzug der Kosten für zwei Sozialpädagogen, die sich täglich um acht Kinder und Jugendliche kümmern, sowie von Ausgaben für Essen, Kleidung oder Öffi-Tickets kaum etwas übrig. „In anderen Einrichtungen müssen wir wesentlich mehr Geld aus Spenden zuschießen. Das geht nicht auf Dauer“, sagt Einrichtungsleiterin Merić.
Blaue Härte
Immerhin zeichnet sich bei den Kosten eine Verbesserung ab. Laut einer politischen Grundsatzeinigung zwischen Bund und Ländern soll der Tagsatz auf 112 Euro steigen. Doch das kann Monate dauern, bis ein Beschluss durch alle Landtage geht. An der grundsätzlichen Ablehnung von jungen Flüchtlingen in Salzburg wird es nichts ändern: „Für uns ist es keine Frage des Geldes“, sagt der Sprecher des blauen Landesrates.
Das Phänomen der Massenquartiere dürfte also erhalten bleiben. In Korneuburg ist Ahmad gemeinsam mit anderen Jugendlichen vor die Tür gekommen. Beinahe seit neun Monaten ist der 17-jährige Syrer schon in Korneuburg untergebracht. Zwar ist die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von UMF in Bundesquartieren in den vergangenen Monaten deutlich gesunken. Die generelle Entspannung im Asylwesen schlägt sich nieder. Dennoch kommt es teilweise zu Aufenthalten von bis zu einem Jahr oder gar länger.
Ahmad ist nicht im Hauptgebäude, sondern in einem der Container untergebracht, die im Garten aufgestellt wurden. Mit sieben anderen Burschen teile er sich einen Raum. Er spricht arabisch, ein Mitarbeiter des Quartiers übersetzt. Es gehe ihm gut, viel besser als auf der Flucht.
Die Jugendlichen, mit denen profil vor dem Haupteingang spricht, haben von den Vorfällen in Steyregg meist nichts mitbekommen, ein paar haben Videos davon gesehen. Ahmad sagt, er hoffe, dass bald über seinen Asylantrag entschieden wird. „Ich will einen Beruf erlernen“, sagt er – an seinem Deutsch arbeite er auch. Die Angebote in der Unterkunft würden dafür nicht ausreichen, er hilft mit YouTube-Videos und der App „HelloTalk“ nach, die ihn mit deutschen Natives chatten lässt.
Ahmed (m.) wohnt seit fast einem Dreivierteljahr in einem Container in Korneuburg, Haider ist im Hauptgeäbude untergebracht.
Arbeit statt Krawall
Außerdem kann Ahmad in Korneuburg arbeiten. Das ist eine Besonderheit. Die Gemeinde erlaubt den jugendlichen Asylwerbern, im Stadtservice mitzuarbeiten. Am Friedhof kehren sie Laub, im Park sammeln sie Müll. Bis zu 110 Euro können sie sich zu ihrem Taschengeld von 40 Euro pro Monat dazu verdienen – für maximal 32 Stunden Arbeit. Das helfe, den Alltag zu ordnen, sagt Ahmed. BBU-Sprecher Fussennegger sagt: „Die Zusammenarbeit mit Korneuburg ist beispielhaft. Dass sie arbeiten können, gibt den Jugendlichen ein gutes Gefühl und sorgt für eine viel höhere Akzeptanz bei der Bevölkerung.“
Das sieht auch Bürgermeister Christian Gepp (ÖVP) so. „Es gibt sehr wenige negative Rückmeldungen aus der Bevölkerung wegen der Unterkunft.“ Natürlich gebe es auch in Korneuburg manchmal Probleme und Polizei im Flüchtlingsheim. „Es ist eine Herausforderung“, sagt Gepp. „Wenn viele Jugendliche zusammenkommen, ist das nun einmal so.“
Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.