Jugendliche mit Suizidgedanken: Kein Platz in der Psychiatrie
Sie haben kein gebrochenes Bein, aber psychische Krankheiten. Im österreichischen Gesundheitssystem ist das ein entscheidender Unterschied. profil spach mit Jugendlichen, die von psychischen Krankheiten betroffen sind und nur nach mühsamer Suche einen Behandlungsplatz bekommen haben, wenn überhaupt. Die Wartezeiten auf einen kassenfinanzierten Therapieplatz betragen mehrere Monate - außer ihre teilweise alleinerziehenden Eltern investieren (je nach Bedarf) Tausende Euro in die die psychische Gesundheit ihrer Kinder. Doch nicht alle haben dieses Glück. Je länger das Warten, desto höher die Verzweiflung. Einige erzählten profil, wie sie erst in akuten Notfällen eine Diagnose erhalten haben - nur um dann wieder in der Warteschlange des Gesundheitssystems zu landen. Hier lesen Sie drei jener Geschichten, jede für sich ein Armutszeugnis des österreichischen Gesundheitssystems.
Triggerwarnung
Dieser Artikel beschreibt Themen wie psychische Krankheiten und Suizid. Bitte lesen Sie nur weiter, wenn Sie sich damit wohl fühlen. Wichtige Telefonnummern in Krisensituationen haben wir unten verlinkt.
„Dann wärst du nicht so dick“
Im November 2021 kam es zum „Vorfall“. Damals versuchte Ally, 20, sich das Leben zu nehmen. Es war das erste Mal, dass sie eine Diagnose bekam: Alkoholismus, Magersucht, Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), depressive Episoden. Lange hatte sie gedacht, dass ihre Probleme „normal“ seien.
Sie ließ sich 14 Piercings in einem Jahr stechen, diese Impulsivität ist typisch für eine BPS. Zwei Wochen verbrachte sie nach ihrem Suizidversuch in einer Wiener Klinik. Sie erfuhr, dass ihr Essverhalten Anorexie heißt und ihre „Schüchternheit“ auf eine soziale Angststörung zurückzuführen ist. Die Weihnachtszeit stand bevor, eine Zeit, in der Suizidversuche steigen, dazu herrschte die Corona-Pandemie. Ally wurde entlassen, ihr Bett wurde dringend gebraucht. Stabil fühlte sie sich nicht, einige Tage später betrank sie sich zu Hause in ihrem Zimmer. Die Rettung lieferte sie wieder ins Spital ein. Ally kann sich nicht einmal erinnern, sie selbst gerufen zu haben.
„Es geht um Menschenleben.“
Als @allyslostlife macht die 20-Jährige Videos über mentale Gesundheit auf TikTok. Sie wünscht sich, dass psychische Beschwerden wie körperliche in der Gesellschaft behandelt werden.
Vor einem halben Jahr wusste sie wieder nicht weiter. Drei Tage hintereinander suchte sie Hilfe in einer Akutpsychiatrie; erst am dritten wurde sie aufgenommen. Ally sagt, sie habe sehr viel Unterstützung erfahren, es seien aber auch verletzende Bemerkungen gefallen, die sie schwer vergessen kann: „Für manche bist du eine Nummer.“ In der Zwischenzeit geht sie in Psychotherapie, bis vor Kurzem finanzierte sie sich diese mit der Studierendenbeihilfe. Nun beantragte ihre Psychotherapeutin einen Kassenplatz für sie.
„Du bist allein“
Am 1. März war Kiana L., 18, entschlossen, nicht mehr leben zu wollen. Als sie nur wenige Tage, nachdem sie zwei Mal von einer Wiener Klinikpsychiatrie abgewiesen wurde, mit ihren Freunden zusammensaß, fühlte es sich wie eine Verabschiedung an. Sie weiß nicht, wie sie noch am selben Abend ins Krankenhaus kam. Sie überlebte nur „mit viel Glück“. Der zweite Lendenwirbel, der dritte und vierte Mittelfußknochen im rechten Fuß waren gebrochen und das linke Handgelenk verstaucht. „Ich habe immer noch Schmerzen von Kopf bis Fuß.“ Bis vor einigen Wochen saß sie im Rollstuhl und konnte sich nicht schmerzfrei im Bett von der einauf die andere Seite drehen.
„Ich habe bis heute nicht die richtige Therapie bekommen“, sagt Kiana L., die an einer Hand nicht abzählen kann, wie oft sie schon in Psychiatrien war. Dort hat die 18-Jährige viel mitbekommen: Zwangsmaßnahmen, Aggressionen vonseiten der Patient:innen, Demütigung vonseiten der Ärzt:innen. Es seien „Zustände, die ich jedem gern vorenthalten möchte. Du bist allein in deinen Gedanken und fängst mit Medikamenten an, die du nicht kennst.“ Sie hat eine komplexe post-traumatische Belastungsstörung und braucht eine Langzeittherapie.
Ein wenig wie Therapie ist für sie die Initiative „Change for the Youth“, die sie mitbegründet hat. Sie möchte offen über ihre mentale Gesund-heit sprechen, auch wenn es ihr schwerfällt. Es soll kein Stigma mehr sein. Und: „Es macht uns wütend, dass wir in Notsituationen nach Hause geschickt werden, weil es keinen Platz gibt.“
Jetzt will die Mental-Health-Aktivistin anderen, die sich vom Gesundheitssystem fallengelassen fühlen, helfen. „Wir brauchen eine Veränderung – ASAP.“
„Selbst bestimmen, wer deine Familie ist“
Kacy ringt mit psychischen Problemen, seit er denken kann. „Mein jüngeres Ich hat nur nicht verstanden, was ich empfinde.“ Der 21-Jährige muss sich überwinden, um über seine „mentale Gesundheit“ zu reden. Früher dachte er, als Mann dürfe er keine Schwäche zeigen. Sie zeigte sich trotzdem – in Form von Gewalt. Kacy fing an, andere zu mobben. „Ich hätte dringend Hilfe gebraucht, aber keiner hat nachgefragt, wie es mir eigentlich geht.“ Er wurde selbst oft genug verletzt; sein Vater war gewalttätig. Es gehe ihm noch immer „nicht prickelnd“, sagt er. Bei Change for the Youth (CFY), einer Mental-Health-Initiative, setzt er sich ein, gemeinsam mit seiner Freundin Kiana, weil es einem Kraft gibt, „zu wissen, dass wir Leuten helfen und in der Zukunft etwas ändern könnten“. Kürzlich stand erstmals ein Therapieplatz auf Krankenkasse für ihn in Aussicht, doch letztlich wurde nichts daraus.
Kacy hofft weiter. Schon mehrmals musste er für seine Freundin Kiana die Rettung rufen. Mitfahren durfte er nie, denn er ist kein Angehöriger. „Dabei hätte ich an ihrer Seite sein können, sie hat sonst niemanden.“ Ihre Familie wollte sie im Krankenhaus nicht besuchen. Es tat ihm weh, Kiana in einem „dunklen Loch“ zu sehen. Die Regeln, wer Patient:innen begleiten und besuchen darf, müssten sich ändern, fordert Kacy: „Es ist dein Recht, zu bestimmen, wer deine Familie ist.“