Jugendliche werden in Österreich gut versorgt - außer sie sind Flüchtlinge
Männer, Frauen und Kinder rannten, keuchten und stolperten in der Dunkelheit, angetrieben von den heiseren, hastigen Kommandos der Schlepper. Ein Bub drehte sich nach dem Vater um, konnte sein Gesicht nirgends finden und wurde ins Boot gedrängt. Arme hielten ihn fest, als er wieder an Land springen wollte. „Dein Vater kommt mit dem nächsten Boot“, hörte er jemanden sagen.
Jetzt sitzt der Bub in einem Kapuzensweater auf der vorderen Kante einer zerschlissenen Polsterbank eines Flüchtlingsheims, die Hände, zart wie die eines Kindes, auf den Knien. „Das nächste Boot hat es nicht gegeben“, sagt er auf Englisch. Arif, der Gebildete, heißt in Wirklichkeit anders, doch für die Öffentlichkeit soll er so heißen, weil sein Vater ihm früh die Tür zur Welt des Wissens aufgestoßen hat. Seine Mutter führte in Aleppo einen Kindergarten. Seine Schwester, die bald 18 wird, wollte studieren. Er hat noch zwei jüngere Brüder. Sie alle waren weit weg, als er kürzlich 16 wurde, einer von 1900 UMF, die in Österreich auf Asyl warten. Das Kürzel steht für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge.
In Traiskirchen kann man nur schlafen und sitzen
Es werden immer mehr. 2014 hatten 2260 und damit fast doppelt so viele in Österreich um Asyl gesucht wie im Jahr zuvor. 700 UMF, die allermeisten von ihnen Burschen, sitzen in Traiskirchen fest, weil es in den Ländern zu wenig Quartiere für sie gibt. Kinder unter 14 leben im sogenannten Frauenhaus, wo sich Asylwerberinnen als ihre Ersatzmütter ein paar Euro dazuverdienen. „Sie dürfen das Lager allein nicht verlassen und leben hier manchmal monatelang fast wie in einem Gefängnis“, sagt Katharina Glawischnig vom Verein Asylkoordination. Die Volksanwaltschaft hat inzwischen ein Prüfverfahren eingeleitet.
Für den Syrer Arif steht Traiskirchen für fünf Mal drei Meter, die er sich im Haus 5, dem UMF-Quartier im Flüchtlingslager, mit sieben anderen Buben teilte. Es waren junge Afghanen, die vor den Taliban davonliefen, Somalier, Iraker, Algerier oder Kosovaren, vertrieben durch Gewalt und Hoffnungslosigkeit, und manchmal Syrer wie er. Wurde einer abgeschoben oder übersiedelte in eine Einrichtung für junge Flüchtlinge, war kurz darauf ein neuer Bub da, der auch nicht mehr zu tun hatte, als den ganzen Tag mit seiner schweren Geschichte zu leben.
„In Traiskirchen kann man nur schlafen und sitzen.“ Noch so ein schlichter englischer Satz, der Platz für alles lässt, was Arif schwer ausdrücken kann: dass er oft nicht weiß, wohin mit seiner Sehnsucht, seinem Wissensdurst, dem Bewegungsdrang, wohin mit der Panik, das Leben zu verpassen, und das, was er gewusst hat, zu vergessen. Die Sätze, die er auf Deutsch kann, hat er sich mit einer App auf seinem Mobiltelefon beigebracht. Auf einen Sprachkurs musste er in Traiskirchen lange warten. Die Erwachsenen im Haus 5 täten ihr Bestes. Doch was heißt das?
Schüße und Bomben
Aleppo, das waren für Arif die „amerikanischen Schulbücher“, aus denen er lernte. Seine Eltern zahlten für ihn und seine Geschwister eine private Schule, in der sie auf Arabisch und Englisch unterrichtet wurden. Er war in allen Fächern unter den Top drei. Am Nachmittag gab es Sporttraining, Karate, Basketball und Schwimmen. Später wollte er forschen wie sein Vater, unbekannte Wege in der Zahnmedizin beschreiten, vielleicht als plastischer Chirurg neue Operationstechniken erfinden. 2011 war der Bezirk, in dem die Ordination des Vaters lag, zur Todeszone geworden. Die Familie überlebte die nächsten Jahre in ihrem Haus am anderen Ende von Aleppo. Ständig fielen Schüsse und detonierten Bomben. Als die Armee begann, die jungen Männer aus der Nachbarschaft einzuziehen und sogar 17-Jährige in Uniformen steckte, verbot der Vater seinem ältesten Sohn, auf die Straße zu gehen.
Arif drehte mit Freunden ein Video und verbreitete es über Social Media, „um der Welt zu zeigen, was bei uns passiert“. In der Schlussszene nehmen sich drei Burschen, zwei von ihnen muslimisch, einer christlich, an den Händen. Wir lassen uns nicht verfeinden, lautet ihre Botschaft. Tausende klickten den Film auf Facebook an, von IS-Kämpfern jedoch kamen Todesdrohungen. Eines Tages standen Soldaten vor der Tür, um Arif zu holen. Einer schlug ihm mit der Waffe auf den Kopf. In manchen Momenten hatte Arif die Hoffnung verloren, Europa jemals zu erreichen. Die Familie floh über den Libanon in die Türkei, wo die Flüchtlingslager längst überfüllt waren und sie sich auf eigene Faust durchschlagen mussten. Arifs Wunde heilte langsam, und es dauerte Monate, bis das Geld für die Überfahrt beisammen war, die Arif dann allein machte, in einem Boot, in das von allen Seiten das Wasser strömte. Immer wieder fiel der Motor aus.
Man behandelt uns wie Erwachsene
Manche marschierten Hunderte Kilometer zu Fuß, um über die Grenze zu kommen, andere sahen ihre Angehörigen ins Meer fallen und ertrinken. Vier Tage lang versteckte sich Arif in einem Lastwagen; nicht einmal zum Essen durfte er ins Freie. In Traiskirchen musste jeder mit seinen Erlebnissen allein fertigwerden: „Man behandelt uns wie Erwachsene.“
Der junge Syrer legt, ohne es zu wissen, den Finger auf eine Wunde. In den vergangenen Monaten hatten Bundesländer im Quotenstress minderjährige Flüchtlinge selbst dann übernommen, wenn es für sie keine Plätze gab. UMF müssen in eigenen Einrichtungen untergebracht und rund um die Uhr von Sozialpädagogen betreut werden. In Vorarlberg leben derzeit fast 60 von ihnen in einem ehemaligen Spital und einem aufgelassenen Schulinternat unter Erwachsenen. Der Vorarlberger Kinder- und Jugendanwalt Michael Rauch will diesen Zustand beenden und pocht darauf, dass die Kinder- und Jugendhilfe „die Obsorge für alle Minderjährigen übernimmt und das Kindeswohl ins Zentrum stellt“.
Für Anfang März hat er einen Runden Tisch zusammengetrommelt, bei dem es einiges zu besprechen gibt. Etwa die Tagsätze: Für minderjährige Flüchtlinge betragen sie höchstens 77 Euro, während sie in der Kinder- und Jugendhilfe bei 120 Euro beginnen und – je nach Betreuungsaufwand – auf über 400 Euro steigen. Experten fordern seit Langem eine Gleichstellung und Integration vom ersten Tag an. „Auch ein UMF-Quartier muss dem Standard der Jugendwohlfahrt entsprechen“, sagt Christoph Riedl, Diakonie Flüchtlingsdienst. „Ein Kind ist ein Kind, unabhängig davon, wo seine Wiege gestanden ist“, so Caritas-Präsident Michael Landau. Außerdem sollen die Übergänge zur Volljährigkeit fließender werden. „Flüchtlinge werden mit dem 18. Geburtstag aus ihrer Umgebung gerissen und verlieren jede Unterstützung; das wirft viele aus der Bahn“, sagt Christian Schörkhuber von der Flüchtlingshilfe der Volkshilfe.
Arif, der junge Syrer, zeigt zum Abschluss sein Video aus Aleppo. Schade, dass er in Traiskirchen keine Kamera hatte, er hätte vielleicht einen guten Film darüber gemacht, wie lähmend die Zeit im Lager für junge Menschen ist. Nun wartet er auf seine Einvernahme für das Asylverfahren und dass es irgendwann eine Überfahrt für seine Familie gibt. Arif blühte ein wenig auf, als er in ein UMF-Wohnheim übersiedelte und einen Bekannten wieder traf. Jetzt ist er nicht mehr ganz so allein und kann „an seiner Zukunft bauen“. Man muss ihn und die 1900 anderen nur lassen.