Jugendliche und Corona: Gemma Stephans!
Für den 16-jährigen Lukas (Name von der Redaktion geändert) und seinen gleichaltrigen Klassenkameraden war es ein teurer Spaziergang. Die beiden HTL-Schüler schlenderten vergangenen Samstag spätnachmittags durch die Wiener Innenstadt, als sich auf der Kärntner Straße plötzlich vier Polizisten vor ihnen aufreihten. Warum sie „so aufeinander picken“, soll einer der Beamten die Jugendlichen gefragt haben. „Wir erklärten, wir würden in die gleiche Klasse gehen, beste Freunde sein“, erzählt Lukas – Bezugspersonen sozusagen. Doch die Polizisten blieben unbeeindruckt: Für die Burschen setzte es ein Strafmandat von jeweils 90 Euro; der Mindestabstand von zwei Metern sei missachtet worden. Im Netz sorgte der Vorfall für viel Unverständnis, Lukas’ früherer Lehrer – der Pädagoge Matthias Stiedl – hatte den Strafzettel des Schülers in den sozialen Medien verbreitet. Die Wiener Polizei entgegnete: Im Nachhinein sei die Situation schwer zu beurteilen, „bewusste Verwaltungsübertretungen“ würden jedenfalls geahndet werden. Lukas meint, eine Vorwarnung habe es in seinem Fall nicht gegeben. Mit dem bezahlten Corona-Bußgeld steht der Schüler jedenfalls nicht allein da.
Im öffentlichen Raum wird wieder vermehrt gestraft: 15.800 Anzeigen und Organmandate wegen Verstößen gegen die Corona-Bestimmungen hagelte es in den vergangenen drei Vorwochen seit den Lockerungen. Die steigenden Temperaturen stellen die Exekutive vor ein Dilemma: Menschen drängen nach draußen, bis zur offiziellen Öffnung werden öffentliche Plätze zu inoffiziellen Schanigärten umfunktioniert. Müsste man jeden nicht eingehaltenen Abstand ahnden, bräuchte es ein Vorgehen, das tatsächlich mehr dem eines Polizeistaates gleichen würde. In der Hauptstadt Wien begnügt man sich deshalb mit Schwerpunktkontrollen in der Innenstadt – und nimmt hier vor allem eine Gruppe ins Visier: Teenager und Jugendgruppen, die die Wiener City für sich neu entdeckt haben. „Es konnte festgestellt werden, dass es seit einigen Wochen vermehrt zu Erscheinungen größerer Jugendgruppen (Alter zwischen 13 bis 20 Jahren) im ersten Bezirk kommt“, teilt die Polizei mit.
Teenager würden sich via Social Media verabreden und es auf Videoaufnahmen von „körperlichen Auseinandersetzungen oder polizeiliche Amtshandlungen“ anlegen, meint die Exekutive. Doch reagiert man mit den Strafen wirklich nur auf einen provokanten Trend? Oder sind die Jugendkontrollen eher Symptombekämpfung des allgemeinen Lockdown-Verdrusses? Experten zeigen sich jedenfalls alarmiert: Österreichs Jugend benötige angesichts der fortdauernden Pandemie dringend mehr Aufmerksamkeit – und endlich ein echtes Angebot.
Unter den Dutzenden Jugendlichen, mit denen profil in den vergangenen Wochen rund um die Wiener Innenstadt sprach, herrscht im Grunde derselbe Tenor: Es herrscht Langeweile. Verdammt viel Langeweile. Nach der Schule, Lehre oder Arbeit gebe es in der Freizeit de facto kein Angebot. (Shisha-)Clubs sind schon lange zu, Fitnesscenter, Kinobesuche oder Kontaktsportarten weiterhin untersagt. Die meisten Teenager, die sich in der Innenstadt treffen, kommen aus Flächenbezirken wie Simmering, Favoriten oder der Donaustadt, zum Teil auch aus Niederösterreich. In der City, beim „Stephans“ (wie der Stephansplatz im Jugendsprech oft abgekürzt wird), sei es schlichtweg „schöner“ und zumindest „irgendwas“ los. Es gehe ums „Abhängen und Chillen“, am Wochenende fließe durchaus auch Alkohol. Von einer angeblichen „Fight Challenge“ – also koordiniert provozierten Prügelaktionen via Internet – wollen die Jugendlichen nichts mitbekommen haben. Natürlich wird mit dem Smartphone draufgehalten, wenn mal was passiert. „Viral“ ging etwa ein Video, bei dem eine Gruppe Teenager unbekümmert auf der Kärntner Straße kickte.
Ilkim Erdost plädiert grundsätzlich für mehr Verständnis. „Es mag irritieren, dass sich die jungen Leute plötzlich die Innenstadt aneignen“, sagt die Geschäftsführerin des Vereins der Wiener Jugendzentren. „Das kommt auch daher, dass das Räume sind, die in ,normalen‘ Zeiten bereits besetzt sind – etwa durch Touristen.“ In den Jugendeinrichtungen habe man sich lange damit auseinandergesetzt, dass Teenager, die in den äußeren Bezirken aufwachsen, die Innenstadt oft gar nicht kennen. Die Jugendarbeit organisierte deshalb sogar eigene Ausflüge in andere Teile der Stadt. „Jetzt tun sie das aus der Not heraus selber“, so Erdost.
Die Vorgangsweise der Exekutive sieht die Jugendarbeiterin differenziert: „Ich denke, es gibt bei der Polizei vielfach ehrliches Bemühen und auch Verständnis für die Jugendlichen.“ Die Exekutive sei mit den Vorgaben aber zunehmend überfordert, ist sich Erdost sicher. Bei den Jugendlichen entstehe gleichzeitig „Frustration, wenn sie zum dritten Mal kontrolliert werden“, während Erwachsene ihr Bier im Freien genießen können. Lange hätten vor allem Jugendliche die Corona-Regeln „vorbildlich“ mitgetragen, so Erdost. Die Angst, die eigene Familie anzustecken, sei ein starkes Handlungsmotiv gewesen. Nun aber knirsche es: „Die Jugend leidet extrem.“
Einen erschreckenden Beleg für diese Annahme liefert eine neue Studie der Donau-Universität Krems. Die Forscher befragten im Februar gut 3000 Schülerinnen und Schüler angesichts der Pandemie nach ihrem Befinden. „55 Prozent leiden unter einer depressiven Symptomatik, die Hälfte unter Ängsten, ein Viertel unter Schlafstörungen, und 16 Prozent haben suizidale Gedanken“, so die aufrüttelnden Ergebnisse, die vergangene Woche präsentiert wurden. Es bestehe „dringender Handlungsbedarf“, so Studienleiter Christoph Pieh. „Es ist ein dringender Appell, bei zukünftigen Entscheidungen die psychosozialen Folgen der Pandemie stärker zu berücksichtigen.“ Gravierend sei auch eine Verdopplung der Handynutzung seit Beginn der Pandemie. „Mit steigender täglicher Handynutzung nimmt die Häufigkeit psychischer Beschwerden deutlich zu“, erklärt Pieh.
Wenig überrascht zeigt sich angesichts der Forschungsergebnisse Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien. Für den Public-Health-Experten steht fest, dass die Politik im Hinblick auf Jugendliche zu lange gezögert hat. „Es kann doch nicht sein, dass man Kinder und junge Menschen so lange in der Bewegungslosigkeit verharren lässt“, so Hutter. Ärgerlich sei für den Experten, dass Konzepte – etwa für eine sichere Durchführung des Vereinssportes – schon lange vorliegen, aber gar nicht oder nur zögerlich zum Einsatz kommen können . Hutter plädiert überdies für einen Paradigmenwechsel, was die Begleitmaßnahmen in der Pandemie angeht. „Ich bin der Letzte, der sagt, dass es keine Maßnahmen mehr braucht. Ganz im Gegenteil! Es müssen allerdings differenziertere Maßnahmen sein. Aber es ist augenscheinlich, dass der starre Blick nur auf die Infektionszahlen die Leute nicht mehr mitnimmt. Es braucht Räume für soziale Kontakte, kontrollierte Angebote für die Menschen, vor allem auch für die Jungen. Sonst wird bald niemand mehr selbst die wichtigen Kernmaßnahmen mittragen.“ Kein einfaches Unterfangen: Bei den Neuansteckungen sticht eine Gruppe derzeit besonders hervor: Es waren die 15- bis 24-Jährigen, die zuletzt die höchste Sieben-Tage-Inzidenz aufwiesen.